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Rede des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, auf der Abrüstungskonferenz im hochrangigen Segment am 25. Februar 2020 in Genf

354-25-02-2020

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,

Sehr geehrte Kollegen,

vielen Dank für die Möglichkeit, vor den Teilnehmern bzw. Mitgliedern der Abrüstungskonferenz sich beteiligen zu können.

In diesem Jahr feiern wir den 75. Jahrestag der Vereinten Nationen, deren Schaffung, wie Sie wissen, dem Sieg im Zweiten Weltkrieg zu verdanken war. Gerade dieser große Sieg legte die Grundlagen der modernen Weltordnung, die auf der Hoheit des Völkerrechts basiert. Auf diesem soliden Fundament wurde das System der multilateralen Vereinbarungen im Bereich Rüstungs-, Abrüstungskontrolle und Nichtverbreitung, welche die Bewahrung des Friedens und internationalen Sicherheit im Laufe von vielen Jahrzehnten gewährleistete, aufgebaut. Es wurde ein einmaliger Abrüstungsmechanismus der Vereinten Nationen gebildet, dessen Hauptelement die Abrüstungskonferenz ist. Hier, auf der Genfer Plattform, wurden die weiteren internationalen Dokumente ausgearbeitet, darunter der grundlegende Atomwaffensperrvertrag, dessen 50. Jahrestag seit Inkrafttreten wir am 5. März begehen werden.

Wir erinnern uns leider auch daran, wie vor 75 Jahren als Ergebnis der Atombombenangriffe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki die USA, indem sie der einzige Staat wurden, die diese schrecklichste Waffe einsetzten, das atomare Wettrüsten aufnahmen, dessen Folgen bis heute zu spüren sind. Zugleich soll hervorgehoben werden, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jh. mit gemeinsamen Anstrengungen Vieles getan wurde, um die strategische Stabilität zu garantieren und die Wiederholung solcher Tragödien nicht zuzulassen.

Leider häufen sich in diesem Jahrhundert gefährliche destruktive Tendenzen, die durch den auferstehenden aggressiven außenpolitischen Egozentrismus eines Staates ausgelöst wurden. Der Austritt Washingtons 2002 aus dem wichtigsten für die strategische Stabilität ABM-Vertrags war ein schwerer Schlag für das ganze System im Bereich  Rüstungs-, Abrüstungskontrolle und Nichtverbreitung. In der letzten Zeit dominiert in der US-Politik überhaupt das Streben nach Dominanz überall, sowie danach, der Weltgemeinschaft eigene Regeln zum Nachteil der Interessen anderer Staaten und dem Völkerrecht aufzudrängen. Alle multilateralen Vereinbarungen und Mechanismen, die diese Dominanz stören, werden als „veraltet und unwirksam“ erklärt.

Im vergangenen Jahr kündigten die USA den INF-Vertrag. Fast gleich danach begannen die Flugtests der zuvor verbotenen US-Systeme. Es werden Absichten zu ihrer Stationierung in verschiedenen Regionen der Welt erklärt. Russland erklärte, dass es spiegelartig vorgehen muss, zeigte ein maximal verantwortungsvolles Herangehen und übernahm eine einseitige Verpflichtung, keine russischen bodengestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen in den Regionen der Welt zu stationieren, bis dort entsprechende Waffen aus US-Produktion auftauchen.  Wir schlagen den USA und ihren Verbündeten vor, ein ähnliches Moratorium zu erklären. Wir wissen über die Versuche, Misstrauen zu dieser Initiative zu verbreiten. Ich würde aber daran erinnern, dass wir vorschlugen, die Verdächtigungen via eine gemeinsame Ausarbeitung eines möglichen Regimes der Verifikation via solches gegenseitige Moratorium zu beseitigen. Das Ignorieren dieses fairen Vorschlags bestätigt nur, dass die wahren Gründe der Zerstörung des INF-Vertrags gar nicht mit der Position und den Handlungen Russlands verbunden sind.

Immer realere Konturen erhalten die Pläne der USA sowie Frankreichs und der Nato im Ganzen für die Stationierung von Waffen im All. Wir sind davon überzeugt, dass es noch nicht spät ist, allgemein annehmbare Maßnahmen auszuarbeiten, die die gewaltsame Konfrontation im Weltraum verhindern würden. Der einzige konstruktive Vorschlag in diesem Sinne bleibt der auf dem Tisch der Abrüstungskonferenz liegende russisch-chinesische Entwurf des Vertrags über die Verhinderung der Stationierung von Waffen im Weltraum, der Anwendung von Gewalt bzw. Drohung mit Gewalt gegenüber Weltraumobjekten. Das Dokument hat einen umfassenden Charakter und ist für vollformatige Gespräche offen. Für die Zeit, in der solcher Vertrag ausgearbeitet wird, sollen stabilisierende Rolle die politischen Verpflichtungen über die Nichtstationierung als Erste von Waffen im Weltall spielen.

Besorgnisse löst die fehlende Eindeutigkeit über das Schicksal des START-Vertrags aus. Im vergangenen Jahr sprach ich von dieser Tribüne, warum wir es für wichtig halten, ihn aufrechtzuerhalten. Die Verlängerung des Vertrags wäre ein vernünftiger Schritt, der es ermöglichen würde, den weiteren Verfall der Situation im Bereich strategische Stabilität nicht zuzulassen, einen völligen Sturz der Kontroll- und Beschränkungsmechanismen im Raketen- und Atombereich zu verhindern, Zeit zur Besprechung der Herangehensweisen zu den Methoden zur Kontrolle über neue Waffen und Militärtechnologien zu gewinnen. Angesichts dieser Umstände schlug Russlands Präsident Wladimir Putin den USA vor, den START-Vertrag ohne jegliche Vorbedingungen zu verlängern. Wir warten auf eine Antwort.

Wir verzeichnen mit Besorgnis, dass in den neuen Doktrinen Washingtons die Grenze der Anwendung von Atomwaffen deutlich sinkt. Bemerkenswert ist, dass dies vor dem Hintergrund eines offiziellen, ich möchte das betonen, Verzichts der USA auf die Ratifizierung des Kernwaffenteststopp-Vertrags sowie unter Bedingungen der fortlaufenden Stationierung von US-Atomwaffen auf dem Territorium einiger Nato-Verbündeten der USA und des Fortsetzens der Praxis der so genannten „gemeinsamen Atommissionen“ erfolgt. Es kam zu Manövern durch die Amerikaner, bei denen die Anwendung von Atomwaffen gegen Ziele auf dem russischen Territorium geübt wird. Zu solchen Übungen werden auch Europäer herangezogen.

Im Interesse der Senkung der künstlich geschaffenen Spannungen und Aufrechterhaltung der Möglichkeiten für den weiteren strategischen Dialog schlugen wir vor, die Gorbatschow-Reagan-Formel darüber, dass es im Atomkrieg keinen Sieger geben kann und er nie entfacht werden darf - zumindest zu bestätigen und besser noch zu stärken. Wir denken, dass eine solche Erklärung in der jetzigen Situation ein positives Signal für die ganze internationale Gemeinschaft sein würde. Doch auch auf diesen Vorschlag antwortet Washington seit mehr als anderthalb Jahren nicht.

Wir rechnen mit einer konstruktiven Arbeit aller interessierten Staaten auf der Ende April beginnenden Übersichtskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York. Ich würde nicht den Ereignissen vorausgehen. Ich möchte nur das Wichtigste hervorheben. Unter den jetzigen nicht einfachen Bedingungen ist es wichtig, dass das Ergebnis dieses Forums eine bedingungslose Festigung des Regimes der Nichtverbreitung wird – unabhängig davon, ob das Schlussdokument abgestimmt wird oder nicht. Der Vertrag ist eigenständig, seine Punkte haben bei einigen Prüfungen der Zeit bewährt, ihre Revision bzw. freie Deutung könnten unter jetzigen nicht einfachen Bedingungen einfach schaden.

Im Kontext der Übersicht des Atomwaffensperrvertrags war ein wichtiges positives Ereignis die im November 2019 stattgefundene erste Konferenz zur Schaffung einer Zone, die frei von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen und ihrer Liefermittel im Nahen Osten ist. Russland förderte aktiv ihre Einberufung. Das Hauptergebnis – es wurde ein offener, inklusiver Dialog über die Suche nach den Wegen der Regelung dieses alten Problems aufgenommen.

Einst war ein bedeutender Erfolg im Bereich Nichtverbreitung ein Atomdeal mit dem Iran. Vor fünf Jahren atmete die Welt erleichtert auf – es wurde der gemeinsame umfassende Aktionsplan zur Regelung des iranischen Atomprogramms abgeschlossen, der in der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrats einstimmig gebilligt wurde. Das war ein Beispiel einer effektiven Überwindung der Krise, die beinahe sich in einen heißen Konflikt verwandelte. Der Durchbruch wurde erreicht, als die einbezogenen Seiten die wahre Bereitschaft zeigten, einander zuzuhören und die gegenseitigen Interessen zu berücksichtigen. Doch heute sehen wir, wie diese einmalige Errungenschaft der multilateralen Diplomatie zerstört wird – wegen des völligen Verzichts der USA auf ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen gemäß Artikel VII der UN-Charta sowie der Unfähigkeit der europäischen Kollegen, ihren Teil des Atomdeals zu erfüllen. Der Iran war einfach gezwungen zu reagieren, doch er nutzte die legitimen Mittel, die durch den Aktionsplan vorgesehen waren, indem die Erfüllung der rein freiwilligen Einschränkungen eingestellt wurde, doch dabei weiterhin alle juridischen Verpflichtungen sowohl gemäß Atomwaffensperrvertrag als auch dem Abkommen über Garantien mit IAEO eingehalten werden. Morgen soll in Wien eine Sitzung der Gemeinsamen Kommission der Teilnehmer des Gemeinsamen umfassenden Aktionsplans stattfinden. Das ist natürlich eine Chance, obwohl auch nicht hundertprozentige, den Prozess der Eskalation zu stoppen, solange es nicht zu spät ist.

Die tiefe Krise dehnt sich weiter auf alle Bestandteile des Abrüstungsmechanismus der Vereinten Nationen aus. Überall – Abweichen vom gegenständlichen Dialog, Politisierung der Diskussionen. Die Handlungen des Westens zur Verwandlung der einst ziemlich erfolgreichen professionellen multilateralen Abrüstungsstrukturen in ein Druckinstrument gegen unerwünschte Staaten sind deprimierend. So war es in der OPCW, wo unsere westlichen Kollegen einen absolut illegitimen Beschluss über die Verleihung von attributiven Funktionen für das Technische Sekretariat durchsetzten, was eine direkte Verletzung des Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen und Eingreifen in Prärogativen des UN-Sicherheitsrats ist. Ähnliche Schritte werden auch im Kontext der Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen unternommen – die Arbeit an einem rechtlich verbindlichen allgemein annehmbaren Regime der Überprüfung wird blockiert. Stattdessen beobachten wir Versuche der Nutzung des Sekretariats der Vereinten Nationen zur Verdeckung von nicht transparenten Handlungen der USA im Rahmen der bilateralen Beziehungen für biologische Sicherheit mit den Partnern, die sie interessieren.

2019 kam zum ersten Mal eine Session der Abrüstungskommission der Vereinten Nationen wegen der Nichtausstellung von Visa für den Leiter und die Mitglieder der russischen Delegation nicht zustande. Wegen des destruktiven Verhaltens der Delegation der USA wurde nicht geschafft, einen inhaltsreichen Bericht nach der jährlichen Arbeit der Abrüstungskonferenz abzustimmen. Wir beobachten auch Versuche der US-Kollegen, die Tätigkeit des Ersten Ausschusses der UN-Generalversammlung zu ideologisieren.

Das alles führt zur Zersetzung der Weltgemeinschaft, Ablenkung von realen Problemen der internationalen Sicherheit. Wir rufen die US-Kollegen dazu auf, in eine normale Richtung des respektvollen zwischenstaatlichen Dialogs und Zusammenwirkens gemäß der UN-Charta und Vereinbarung bezüglich des Hauptquartiers der Vereinten Nationen in den USA zurückzukehren.

Auf der aktuellen Abrüstungskonferenz sehen wir vereinzelt hoffnungsweckende Momente: Unter dem Vorsitz Algeriens wurden die Kontakte im Sechserformat wiederaufgenommen. Wir begrüßen das. Es wurde die Absprache des Programms dieser Arbeit neu gestartet. Es wird die Möglichkeit besprochen, Hilfsgremien zu bilden, die zu entsprechenden Forschungen bevollmächtigt werden könnten. Dieser Schritt wäre natürlich nützlich, wenn man allerdings einsieht, dass er nicht den Weg zum wichtigsten Ziel auswechseln darf: den schnellstmöglichen Start der Verhandlungen.

Es ist für uns alle wichtig, unseren politischen Willen zur Suche nach allgemein akzeptablen Lösungen zu zeigen. Zwecks Konsenses in Bezug auf den Start der Verhandlungen auf Basis eines allumfassenden und ausbalancierten Arbeitsprogramms rufen wir abermals auf, verantwortungsvoll vorzugehen und Russlands Initiative zur Entwicklung auf der Abrüstungskonferenz einer internationalen Konvention über Bekämpfung des Chemie- und Bioterrorismus zu besprechen. Die Festigung der Völkerrechtsbasis zwecks Vorbeugung dem Terrorismus mit Anwendung von Massenvernichtungswaffen, dessen Gefahr durchaus realistisch ist, würde den Interessen absolut aller Staaten entsprechen. Auf dieser vereinigenden Basis ließe sich auf der Konferenz der Verhandlungsprozess wiederaufnehmen.

Wir rufen auch auf, daran zu denken, wie der Verfall der internationalen Architektur der Rüstungskontrolle zu stoppen wäre. Die Notwendigkeit, die Bemühungen in dieser Richtung anzuspornen, ist in der Resolution „Festigung und Entwicklung des Systems von Verträgen und Abkommen zur Rüstungskontrolle, zur Abrüstung und Nichtweiterverbreitung“ der UN-Vollversammlung verankert. Die Resolution wurde mit 174 Stimmen dafür verabschiedet, wobei nur fünf Länder sich der Stimme enthielten. Dagegen hat niemand gestimmt. Jetzt sollte der in diesem Dokument verankerte kollektive politische Wille in die praktische Sprache „übersetzt“ werden. Russland ist zu dieser Arbeit bereit. Wir sind auch für das Zusammenwirken mit allen Mitgliedern der Weltgemeinschaft auf Basis der Prinzipien der Gleichberechtigung und der Bildung des Konsenses durch die Interessenbalance offen.

Gerade mit solchem multilateralen Zusammenwirken bei der Lösung von globalen Problemen hatten die Gründungsväter der Vereinten Nationen gerechnet. Eine besondere Vereinigungsrolle bei der Arbeit an erneuerten Initiativen zur Förderung der Stabilisierung in der Welt auf Basis der UN-Charta, die den Anforderungen der Zeit entsprechen würden, sollten die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats spielen, die in dieser schicksalhaften Phase eine besondere Verantwortung für den Frieden und die Sicherheit in der Welt übernehmen sollten.

Wie Sie wissen, hat Präsident Putin seine Kollegen zu einem Gipfeltreffen des „Quintetts“ eingeladen. Ein solches Treffen wäre sicherlich der Ausgangspunkt für die Arbeit an schicksalhaften Entscheidungen im Interesse der ganzen Weltgemeinschaft. Die Reaktionen auf diesen Vorschlag sind hoffnungsweckend. Wir werden an seiner Erfüllung arbeiten.

 

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Allgemeine Informationen

  • Adresse: 760 United Nations Plaza, New York, NY 10017, USA
  • Web: http://www.un.org/ru/
  • Chef der Organisation:
    António Guterres Generalsekretär

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