Ukraine
Rede des Ständigen Vertreters Russlands bei der OSZE, Alexander Lukaschewitsch, auf der Sitzung des Ständigen OSZE-Rats zur Situation in der Ukraine und Notwendigkeit der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen am 19. Dezember 2019 in Wien
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
Nach dem Gipfel im Normandie-Format wurden eindeutige Signale über die Notwendigkeit der weiteren Deeskalation, politischer Regelung und Abstimmung der humanitären Maßnahmen durch die Seiten der innerukrainischen Krise gesendet. Zu diesen Zwecken riefen die Anführer des Normandie-Formats zur Intensivierung der Arbeit der Kontaktgruppe, in deren Rahmen die Vertreter von Kiew, Donezk und Lugansk alle Möglichkeiten für einen direkten Dialog zu den wichtigsten Aspekten der Umsetzung der Minsker Abkommen haben, auf. Leider wurden nicht alle diesen Signale wahrgenommen.
Die ganze vergangene Woche wurde im Donezbecken weiterhin geschossen. Die Zahl der Verletzungen des Waffenstillstandes machte fast 5000 aus. Auch die Lieferung der Waffen der ukrainischen Streitkräfte auf der Eisenbahn stoppte nicht – die Sonderbeobachtermission der OSZE in der Ukraine beobachtete Dutzende Einheiten der Artillerie und Panzertechnik auf der Station Rubeschnoje im Gebiet Lugansk (an verschiedenen Tagen wurden dort 18 Haubitzen 2S1 Gwosdika, 5 Kanonen MT-12 Rapira, 15 Panzer und 30 Schützenpanzerwagen beobachtet). In diesem Zusammenhang gewinnt die Umsetzung der in der Minsker Kontaktgruppe bereits im Juli dieses Jahres erreichten Vereinbarung über den Waffenstillstand besonders an Bedeutung. Auf der Sitzung der Kontaktgruppe am 18. Dezember bestätigten die Seiten die Anhänglichkeit an den Waffenstillstand und Umsetzung der Maßnahmen zu seiner Unterstützung. Es handelt sich um die Erfüllung der vorhandenen Verpflichtungen. Wichtig ist, einen vollständigen und umfassenden Waffenstillstand und nicht eine neue „Versöhnung“ zu erreichen, wie darüber viele ukrainische Politiker sprechen.
Leider haben bei dem in diesem Jahr letzten Treffen im Rahmen der Minsker Kontaktgruppe die Vertreter Kiews und Donezbeckens es nicht geschafft, neue Abschnitte des Rückzugs an der Kontaktlinie abzustimmen. Die ukrainischen Verhandlungspartner wichen nicht nur der konstruktiven Diskussion mit den Einwohnern von Donezbecken aus, sondern auch legten keine eigenen Vorschläge vor. Es ist keine Bereitschaft Kiews zum Rückzug entlang der ganzen Kontaktlinie zu erkennen. Zugleich sollen die Abschnitte und Maßnahmen zur Trennung bis Ende März 2020 umgesetzt werden. Eine ergebnisreiche Erfüllung des Rückzugs der Kräfte und Mitteln sowie Entminen würde die Möglichkeit bieten, auch an der Erhöhung der Zahl des Übergangspostens für die Zivilbevölkerung zu überlegen.
Die Seiten haben bislang es nicht geschafft, einen anderen Auftrag des Normandie-Formats zu erfüllen und das Datum des Austausches der festgehaltenen Personen bis zum Ende dieses Jahres zu bestimmen – nach dem „Alle festgestellte gegen alle festgestellte Personen“-Prinzip. Während der Verhandlungen mit Vertretern von Donezbecken in der humanitären Untergruppe der Kontaktgruppe hat Kiew es nicht geschafft, die Vorschläge zur so genannten prozessual-juridischen Säuberung der Personen, die umgetauscht werden sollen, vorzulegen. Donezk und Lugansk legten hingegen diesen Mechanismus vor. Ich würde daran erinnern, dass die Amnestie und Nichtzulassung der Verfolgung der Teilnehmer der Ereignisse im Donezbecken durch Punkt 6 des Minsker Maßnahmenkomplexes direkt vorgesehen sind.
Wir beobachten mir Besorgnis, wie vor diesem Hintergrund in Kiew die Erfüllung der politischen Verpflichtungen gemäß Minsker Abkommen nachgeahmt wird bzw. darauf überhaupt verzichtet wird. Wir sehen, wie versucht wird, sie durch halbe Maßnahmen bzw. Akten zu ersetzen, die kaum mit den Maßnahmen Abkommen verbunden sind. Zum Beispiel die Verlängerung für ein Jahr des ohnehin in Kraft nicht eingetretenen Gesetzes über den Sonderstatus von Donezbecken, das einen ständigen Charakter haben soll. Übrigens in seiner jetzigen Form enthält das Gesetz Hinweise auf ungültige normativ-rechtliche Akte. Zu solchen Imitationen gehören auch Verfassungsänderungen bezüglich der Dezentralisierung. Sie enthalten nicht die Erwähnung des Sonderstatus des Donezbeckens, mit seinen Vertretern wurden sie nicht besprochen und sind de facto nur Maßnahmen zur Reform der administrativ-territorialen Ordnung, die als „Dezentralisierung“ bezeichnet wurde.
Zugleich, wie aus den Minsker Abkommen folgt, ist gerade eine wahre umfassende politische Regelung die notwendige Grundlage für die Aufstellung des Friedens im Osten der Ukraine. Die Bewegung in der politischen Richtung soll synchron mit der Umsetzung der Maßnahmen im Sicherheitsbereich erfolgen, wie das durch das Normandie-Format gebilligt und durch Kiew abgestimmt wurde. Solche Vorwärtsbewegung ist natürlich ohne Intensivierung der Verhandlungen zwischen Kiew, Donezk und Lugansk in der Kontaktgruppe unmöglich.
Vorerst lassen sich in der ukrainischen Hauptstadt nur merkwürdige Erklärungen von der Bereitschaft zum Dialog mit gewissen Menschen in der Donbass-Region hören, allerdings mit denjenigen, die dort einst lebten und vor einigen Jahren weggezogen sind. Dabei war der damalige ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko derjenige, der bei der Arbeit am Wortlaut des Minsker „Maßnahmenkomplexes“ darauf bestand, dass reale Vertreter von Donezk und Lugansk – Leiter einzelner Teile des Donezbeckens – ihre Unterschriften unter das Dokument setzen sollten. Das haben sie auch getan. Aber dann verweigerte man in Kiew systematisch den direkten Dialog und tarnte seine Taktik mit pseudopatriotischen Parolen. All diese Versuche, den direkten Dialog mit dem Donezbecken zu behindern, sind nichts als Äußerung der Absicht zur Fortsetzung der bewaffneten Konfrontation im Donezbecken, ohne dass die Situation dort geregelt wird.
Der Preis für die andauernde Gewaltaktion Kiews im Osten des Landes wird immer höher. Nach Angaben der OSZE-Beobachtungsmission wurden 2019 insgesamt 145 friedliche Einwohner ihre Opfer, von denen 18 getötet wurden. Auch die Zahl von beschädigten zivilen Objekten wurde höher: Im diesem Jahr beläuft sie sich auf mindestens 550, darunter 14 Kindergärten und Schulen. Die meisten Opfer und Zerstörungen wegen der Artillerieangriffe gibt es in einzelnen Teilen der Gebiete Donezk und Lugansk: in der Umgebung von Donezk, Gorlowka, Perwomaisk, Kominternowo, Sachanka, Solotoje-5/Michailowka. Die Angaben der OSZE-Beobachter zeugen deutlich davon, gegen wen die ukrainischen bewaffneten Strukturen ihre Waffen richten.
Übrigens zeigten die Teilnehmer der so genannten „Operation der vereinigten Kräfte“ ihre Grausamkeit gegenüber der Donbass-Bevölkerung nicht nur durch nichtselektive Angriffe, sondern auch durch ihr Vorgehen auf dem Territorium, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wird. Diese Informationen sind im Bericht der UN-Menschenrechtsverwaltung zur Situation in der Ukraine enthalten, der der Zeitspanne vom 16. August bis 15. November gewidmet ist. Dort wird nämlich über andauernde grobe, systematische und oft unbestrafte Verletzungen der Menschenrechte berichtet, unter anderem des Rechtes auf das Leben. Im Bericht sind Fälle erwähnt, wenn Zivilisten ohne Gerichtsurteile hingerichtet, willkürlich festgenommen, gefoltert und schikaniert wurden, wenn Soldaten der ukrainischen Streitkräfte plünderten, Menschen ausraubten und Gewalt gegen sie anwandten. Das alles wurde zum Anlass für die UN-Beobachtungsmission für Menschenrechte in der Ukraine, die Rechtsschutzorgane dieses Landes zur Ermittlung von Verbrechen aufzufordern, die von Teilnehmern der Gewaltaktion Kiews im Donezbecken begangen wurden. Auch die betrübliche Situation um den Schutz der Journalistenrechte wurde in dem Bericht hervorgehoben.
Apropos Journalisten: Zum Abschluss des Gipfels im „Normandie-Format“ hat der ukrainische Präsident Wladimir Selenski russische Journalisten öffentlich in die Ukraine eingeladen. Aber in den letzten zehn Tagen kam es zu mehreren Zwischenfällen, wobei die ukrainischen Behörden russische Journalisten bei der Arbeit behinderten. Drei Mal wurde Journalisten des Senders NTV die Einreise verweigert. Und am 13. Dezember wurde eine Crew des TV-Senders „Swesda“ beim Abflug aus Kiew festgenommen.
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
im scheidenden Jahr gab es bei der Regelung der innenpolitischen Krise in der Ukraine einige Hoffnung erweckende Momente. Es gab Fortschritte bei der Arbeit der Minsker Kontaktgruppe; es wurden auf drei Abschnitten der Trennungslinie die Kräfte und Mittel auseinandergeführt; es fand ein Gipfeltreffen des „Normandie-Quartetts“ statt. Dennoch lassen die kontroversen Signale, die von der ukrainischen Führung ausgehen und ihre weitere Strategie betreffen, vorerst nicht behaupten, der Prozess würde „auf Hochtouren“ laufen. In Kiew redet man (unter anderem sprach sich der Außenminister Wadim Pristajko dafür aus) immer wieder davon, dass die Bestimmungen des Minsker „Maßnahmenkomplexes“ irgendwie „korrigiert“ werden sollten, die angeblich „teilweise an Aktualität verloren“ hätten. Wir warnen vor Versuchen, dieses Dokument, das durch die Resolution 2202 des UN-Sicherheitsrats befürwortet wurde und als alternativlose völkerrechtliche Basis für die Krisenregelung in der Ukraine gilt, umzuschreiben.
Allein die Erklärungen der ukrainischen Führung, sie würde den Frieden anstreben, genügen nicht. Es ist eine Art Stunde der Wahrheit gekommen, wenn Kiew den politischen Willen zeigen und aufhören sollte, die Erfüllung seiner Verpflichtungen zu imitieren. Es sollte den Minsker „Maßnahmenkomplex“ praktisch umsetzen und den Dialog mit Donezk und Lugansk vollwertig aufnehmen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.