Rede des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, in einer Sitzung des wissenschaftlichen Rats des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften zum 90. Geburtstag Jewgeni Primakows, Moskau, 28. Oktober 2019
Sehr geehrter Herr Dynkin,
Frau Primakowa,
Kollegen,
ich freue mich über die Möglichkeit, in der Sitzung des wissenschaftlichen Rats des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen aufzutreten, die dem 90. Geburtstag des herausragenden Politikers, Diplomaten, Wissenschaftlers, Akademiemitglieds Jewgeni Primakow gewidmet ist. Im Moment wird ein ganzer Komplex von Veranstaltungen abgeschlossen, die dem Jubiläum Jewgeni Maximowitschs gewidmet sind. Zum Höhepunkt wird die für morgen geplante Einweihung des Denkmals im Park vor dem Außenministerium Russlands.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen und mich beim Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, bei seiner Führung für den sehr behutsamen und respektvollen Umgang mit dem Gedenken an Jewgeni Primakow bedanken, für die Popularisierung seines Erbes. Unser heutiges Treffen ist ein deutlicher Beweis dafür. Ich möchte auch die vom Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen organisierten jährlichen „Primakow-Lesungen“ hervorheben, von denen bereits der Präsident des Instituts, Alexander Dynkin, gesprochen hat. Bei diesen Lesungen, zu denen sich tatsächlich die besten Vertreter der politischen Expertengemeinschaft aus Russland und anderen Ländern versammeln, werden immer sehr interessante Diskussionen über die wichtigsten Probleme der Gegenwart geführt.
Viele von hier Anwesenden hatten das Glück, nicht nur mit Herrn Primakow persönlich bekannt zu sein, sondern auch unter seiner Leitung zu arbeiten. Ich bin auch einer von ihnen. Ich werde wohl keine Unwahrheit sagen, wenn ich vermute, dass die meisten Menschen, mit denen Herr Primakow irgendwann zusammenarbeitete, ihn für ihren richtigen Lehrer halten. Und es ist auch kein Wunder, denn Jewgeni Maximowitsch war eine Person von wirklich globaler Bedeutung, und seine Arbeit war vielseitig und wirklich allumfassend. Er richtete sich nur an den Interessen unserer Heimat, und auf allen Gebieten, die ihm anvertraut wurden, löste er alle Aufgaben hervorragend, egal wie schwierig sie waren. Einige solche Beispiele führte heute schon Herr Dynkin an. Er hatte die absolute Autorität unter unseren Mitbürgern, die seine professionellen und menschlichen Eigenschaften sehr hoch zu schätzen wussten. Herr Primakows Beitrag zur Festigung der russischen Staatlichkeit, zur Förderung der Positionen unseres Landes in der Welt lässt sich kaum überschätzen. Es war ja kein Zufall, dass der Präsident Russlands, Wladimir Putin, Jewgeni Primakow „einen großen Bürger Russlands“ genannt hat.
Soweit ich verstehe, werden wir heute auch über die Arbeit Herrn Primakows auf den Gebieten Nachrichtenwesen und Wissenschaft reden. Ich sehe hier Vertreter unserer Geheimdienste und Wissenschaftskreise, die mit Herrn Primakow arbeiteten. Ich möchte heute sein „diplomatisches Erbe“ hervorheben. Er erschien auf dem Smolenskaja-Platz im Januar 1996, in einer sehr schweren Zeit, als Russland etliche innen- und außenpolitische Probleme hatte. Und viele in der Welt dachten damals, dass das bipolare System der internationalen Beziehungen nach dem Zerfall der Sowjetunion für immer und ewig verschwunden war und Platz für das unipolare System geräumt hat, in dessen Mittelpunkt Entscheidungen standen, die in Washington getroffen wurden. Das war für sie ja das so genannte „Ende der Geschichte“, wenn wir einmal den Begriff von Francis Fukuyama verwenden.
Damals war Herr Primakow einer der wenigen, denen es gelang, „über das Horizont zu blicken“, die Evolution der Weltordnung in Richtung Multipolarität zu prognostizieren, die das Vorhandensein von vielen Kraftzentren und Entwicklungsmodellen vorsieht. Ich muss hier wohl nicht ausführlich darüber erzählen, dass das Leben die Richtigkeit seiner Schätzungen bestätigt hat. Die Welt verändert sich praktisch vor unseren Augen – sie wird immer vielfältiger und demokratischer. Die neuen Wachstumszentren festigen ihre Positionen immer weiter und machen sehr beeindruckende Fortschritte, wobei sie sich auf die Prinzipien der Unabhängigkeit, der staatlichen Souveränität und der kulturellen und zivilisatorischen Eigenständigkeit stützen. Immer angesehener und einflussreicher werden Bündnisse, die sich nicht auf Manneszucht, sondern auf Kollegialität, auf gegenseitigen Respekt und Interessenberücksichtigung stützen. In dieser Reihe erwähne ich einmal die G20, obwohl ihre Bildung für den Westen eine Art Zwangsmaßnahme war, denn er hatte damals begriffen, dass weder die G7 noch die G8 alle Probleme in den Griff bekommen könnten, weil dort die wichtigsten Staaten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas nicht vertreten waren. Ebenfalls erwähnenswert sind die BRICS und die SOZ – also die Strukturen, an denen sich unser Land aktiv beteiligt.
Herr Primakow lehnte die Politik vehement ab, der das Gehorchen dem „historischen Westen“ mit Washington an der Spitze zugrunde lag, die in den frühen 1990er-Jahren oft ausgeübt worden war. Als Herr Primakow an die Spitze des Außenministeriums gestellt wurde, hat er schnell und deutlich die konzeptuellen außenpolitischen Prinzipien formuliert und auch umgesetzt, auf die sich die russische Diplomatie auch heute stützt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er uns die Aufgabe stellte, auf einem Papierblatt links absolut nötige Dinge und recht solche Dinge zu schreiben, die das Außenministerium für nichts in der Welt tun würde. Ich denke, dass auch er auch in seinen Zeiten an der Spitze der Geheimdienste die rechte Seite nie ausfüllte. Jedenfalls hat er die Prinzipien formuliert, bei denen es um Vielseitigkeit, Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Pragmatismus geht. Diese Bestimmungen, die in alle Fassungen der außenpolitischen Konzeption Russlands aufgenommen wurden, sind und bleiben das strategische Orientier für unsere alltägliche Arbeit.
Sehr viel Aufmerksamkeit schenkte Herr Primakow der Richtung, die mit der GUS verbunden war, zumal er viele Politiker in den neuen unabhängigen Ländern persönlich kannte. Er sah alle negativen Folgen des Zerfalls der Sowjetunion ein, in der er geboren wurde, aufgewachsen war und sich als Politiker etabliert hatte. Deshalb trat er entschlossen für die Aufrechterhaltung der jahrhundertelangen und allumfassenden Verbindungen zwischen unseren Völkern ein.
Allgemein anerkannt wurden seine Bemühungen um die Entwicklung und Vertiefung des Zusammenwirkens im Interesse der Integration des GUS-Raums in ganz verschiedenen Formaten und bei „verschiedenen Geschwindigkeiten“ – aber immer auf Basis der Gleichberechtigung, des gegenseitigen Respekts und der Rücksichtnahme auf gegenseitige Interessen. Zum ersten Schritt auf dem Weg zur Förderung solcher Integration wurde der Vertrag zur Bildung der Gemeinschaft Russlands und Weißrusslands, die 1999 im Sinne eines anderen Vertrags in den Unionsstaat transformiert wurde.
Die Zeit hat die Richtigkeit der Politik bewiesen, die auf Integration im postsowjetischen Raum bei „verschiedenen Geschwindigkeiten“ und in „verschiedenen Formaten“ ausgerichtet war. Heutzutage haben sich solche Bündnisse wie der bereits erwähnte Unionsstaat, die EAWU, die OVKS, die GUS als äußerst wichtige Elemente der Stabilität und Sicherheit im riesigen eurasischen Raum etabliert. Ich kann unter anderem den Kooperationsausbau in der EAWU hervorheben, wo binnen einer ziemlich kurzen Zeit ein großer Weg zurückgelegt wurde, auch wenn nicht ganz ohne Schwierigkeiten, die jedoch das Interesse jedes Mitgliedslandes an maximalen wirtschaftlichen Profiten widerspiegeln. Ich meine unter anderem die Beseitigung der Zollhürden und die Einrichtung eines gemeinsamen Marktes von Waren, Dienstleistungen, Kapitalen und Arbeitskräften. Und die Tagesordnung der EAWU wurde für viele Jahre bestimmt und beinhaltet auch die Bildung eines gemeinsamen Rohstoffmarktes.
Von den Erfolgen dieses Integrationsprojekts zeugt auch die Erweiterung seiner äußeren Kontakte. Mehrere Dutzende Länder und subregionale Vereinigungen – von Asien bis Lateinamerika und Afrika – sind an Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit der EAWU interessiert. Mehrere solche Dokumente wurden bereits unterzeichnet und treten allmählich in Kraft.
Es geht auch die Arbeit an der Verbindung der EAWU mit dem chinesischen Projekt „Ein Gürtel - eine Straße“ weiter. Dadurch entstehen Voraussetzungen für die Erfüllung der Initiative Präsident Putins zur Bildung einer Großen Eurasischen Partnerschaft unter Beteiligung der Mitgliedsländer der EAWU, der SOZ, des ASEAN und aller anderen Länder auf unserem riesigen gemeinsamen eurasischen Kontinent.
Indem sich Herr Primakow an der Logik der Multipolarität richtete, trug er zum Ausbau des Zusammenwirkens mit Ländern des Asien-Pazifik-Raums, des Nahen Ostens, Afrikas und Lateinamerikas wesentlich bei. Er war derjenige, der die Idee vom Zusammenwirken im „Dreieck“ Russland-Indien-China (RIC) äußerte, was Herr Dynkin ebenfalls bereits erwähnte. Dieses Format hat im Laufe der Jahre nicht nur seine Lebensfähigkeit bewiesen, sondern entwickelt sich noch weiter. Im Februar fand in China schon das 16. Treffen der RIC-Außenminister statt. Neben den Leitern der außenpolitischen Ämter treffen sich im RIC-Format auch für Wirtschaft, für soziale und humanitäre Bereiche zuständige Minister; es gibt auch Projekte von humanitären Festspielen, darunter das TV-Zusammenwirken. Russland, Indien, China – dieses Dreieck hat sich nicht nur einfach bewehrt, sondern trug auch zur Bildung der BRICS bei. Aus meiner Sicht ist BRICS heutzutage eine der wichtigsten Stützen des sich etablierenden polyzentrischen Systems, das Vorbild der multipolaren Diplomatie. Alle fünf wichtigsten Kontinente sind daran beteiligt – es bleibt nur noch, Australien aufzunehmen, doch das ist eine Aufgabe für die nächste Phase.
Indem sich Jewgeni Primakow vor allem auf die Verteidigung der Staatsinteressen unseres Landes konzentrierte, war er nie Anhänger einer Konfrontation. Er erläuterte ständig, dass ein starkes Russland (und das war eben das Ziel seiner Politik) nicht als Gefahr wahrgenommen werden sollte. Ihm gelang der Übergang zur vielseitigen Außenpolitik, ohne dass dabei der westlichen Richtung unserer diplomatischen Aktivitäten geschadet wurde. Er hat die „Schiefstellung“ beseitigt, die es bis dahin in die westliche Richtung bei gleichzeitiger Ignoranz der zahlreichen Möglichkeiten südlich und östlich von unserem Land gegeben hatte.
Wie ich schon sagte, war er sehr hart bei der Verteidigung der nationalen Interessen (wie bei seiner berühmten „Wende über dem Atlantik“), kombinierte das aber mit der Verteidigung der unerschütterlichen Prinzipien der allgemein akzeptablen Ergebnisse; er war verhandlungsfähig und realistisch bei der Einschätzung der internationalen Situation – und kombinierte das alles mit der gesunden Vernunft. Er verstand sehr gut, dass Probleme nicht gelöst werden können, wenn man „die Tür zuknallt“, dass man selbst die schwierigsten Fragen besprechen könnte und sollte. Die „Visitenkarte“ seines diplomatischen Stils war die Fähigkeit, seine Gesprächspartner zu faszinieren und am Ende Vereinbarungen zu treffen, Kompromisse zu finden, und zwar nicht nur mit seinen Gleichgesinnten, sondern auch mit seinen Opponenten. Wegen all dieser Eigenschaften wurde er von ausländischen Spitzenpolitikern und Kollegen verehrt.
Als prinzipieller Gegner von archaischen „Spielen mit der Nullsumme“ ging Jewgeni Primakow immer davon aus, dass sich zahlreiche Probleme der Gegenwart ohne umfassende zwischenstaatliche Kooperation kaum effizient lösen lassen. Dass Kontroversen zwischen verschiedenen Seiten kein Hindernis für gemeinsame Bemühungen um Krisen- und Konfliktregelung, für gemeinsamen Kampf gegen die für alle gemeinsamen Gefahren des Terrorismus, Drogenhandels, der organisierten Kriminalität und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sind. Heutzutage, wenn die Weltgemeinschaft jede Menge von großen Aufgaben lösen muss – von der nachhaltigen Aussöhnung im Nahen Osten und in Nordafrika bis zur Förderung der internationalen Informationssicherheit – ist und bleibt diese Philosophie Jewgeni Primakows absolut akut.
Eine besondere Rolle hat Jewgeni Primakow in den Nahost-Angelegenheiten gespielt, in denen er sich hervorragend auskannte. Er verstand besser als viele andere, wie gefährlich das „geopolitische Ingenieurswesen“ zwecks „Demokratisierung“ dieser Region ohne Rücksichtnahme auf ihre Spezifik ist. Leider hat man im Westen seiner Meinung nicht zugehört. Im Irak, in Libyen und Syrien handelte man wie ein Elefant im Porzellanladen. Die Ergebnisse sehen wir heute an der zerstörten Staatlichkeit dieser Länder, am Aufschwung des Terrorismus, an der Zerstörung der dortigen einmaligen ethnischen und konfessionellen „Mosaik“, an der großen Migrationskrise. Die Folgen dieses verantwortungslosen Verhaltens der USA und ihrer Verbündeten müssen noch überwunden werden, und wie Sie wissen, beschäftigen wir uns damit, indem wir uns vor allem um die Ausrottung des Terrorismus in Syrien bemühen und die Lösung der humanitären Probleme dieses Landes samt dem politischen Prozess fördern, der nach unserer Auffassung mit dem Beginn der Arbeit des Verfassungskomitees in Genf in dieser Woche starten wird.
Für den Arbeitsstil Herrn Primakows war immer sein vorsichtiger Umgang mit Menschen typisch, deren Probleme er immer begreifen wollte. Unter den Bedingungen der schwierigen sozialwirtschaftlichen Situation im Land in seinen Jahren an der Spitze des Außenministeriums gab er sich unglaublich viel Mühe um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter des Ministeriums. Dadurch gelang es ihm, das Kaderpotenzial des russischen diplomatischen Dienstes aufrechtzuerhalten. Er trug dazu bei, dass manche Diplomaten, die sich in den „hungrigen“ Jahren als Unternehmer versucht oder in anderen Strukturen gearbeitet hatten, die bessere finanzielle Aussichten hatten, in die Außenpolitik zurückkehrten.
Als er später wichtige Posten in der Regierung, in der Staatsduma, in der Industrie- und Handelskammer bekleidete, interessierte sich Jewgeni Primakow nicht nur weiterhin für Außenpolitik, sondern beteiligte sich intensiv an der Suche nach der praktischen Regelung von einzelnen internationalen Krisen. Seine Ratschläge und Hinweise waren immer sehr hilfreich für uns, und die große Bedeutung seiner Situationsanalysen schon als Fachkraft des Internationalen Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen wurde heute bereits hervorgehoben. Da kann ich nur zustimmen.
Ich bin überzeugt, dass noch viele Generationen russischer Diplomaten sich am professionellen und intellektuellen Erbe Jewgeni Primakows orientieren werden. Und wir auf dem Smolenskaja-Platz werden ihn immer als unseren Lehrer und Freund betrachten.