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Interview des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, mit den amerikanischen Bloggern Mario Naufal, Larri Johnson und Andrew Napolitano, Moskau, 12. März 2025

391-12-03-2025

Frage: Herr Minister, es ist mir eine Ehre, mit Ihnen zu sprechen. Meine erste Frage ist im Kontext, nachdem ich mit den Einwohnern Moskaus gesprochen hatte. Die Wahrnehmung der USA hat sich radikal geändert. Die Menschen beschreiben die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump völlig anders. Glauben Sie, dass sich die USA in kultureller Hinsicht fundamental verändert haben? Und nicht nur die Wahrnehmung? Wie sehen Sie auch die Wahrnehmung Russlands und des Präsidenten Wladimir Putin durch die Amerikaner?

Sergej Lawrow: Ich denke, dass das, was derzeit in den USA passiert, als eine Rückkehr zur Normalität beschrieben werden kann. Die Vereinigten Staaten waren immer ein Land mit zwei großen Parteien, die miteinander konkurrieren und sich im Weißen Haus abwechseln. Aber die Spaltung, die über die Jahre, in denen ich in den USA tätig war (seit 1981 habe ich mehrmals längere Dienstreisen dorthin unternommen), stattgefunden hat, ist im Vergleich zur heutigen Zeit absolut auffällig. Der Hauptunterschied zwischen den Demokraten und Republikanern war in der Vergangenheit eher die Frage von mehr oder weniger Steuern, Abtreibungen und anderen Themen, die Teil des gewöhnlichen christlichen Lebens im Rahmen traditioneller Werte waren. Die gesamte Politik beruhte auf dem Streit miteinander, aber immer im Rahmen von Werten, die von allen akzeptiert wurden.

Als neokonservative (hauptsächlich neoliberale) Ideen auftauchten, wurde diese Kluft tiefer und breiter. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die erste Wahl von Donald Trump zum Präsidenten. Für ihn war das damals eine Überraschung. Er gab zu, dass er sich nicht besonders darauf vorbereitet hatte. Heute ist er vorbereitet, das ist offensichtlich. Es sind nur 49 Tage seit seinem Amtseintritt vergangen, und wir sehen bereits eine intensive Agenda, die er der Öffentlichkeit präsentiert hat.

Ich denke, dass dieser Unterschied in erster Linie durch den Abgang von christlichen Werten aus der damals regierenden Demokratischen Partei entstanden ist. Durch das unaufhörliche Vorantreiben der LGBT+-Agenda (die Organisation wurde in Russland als extremistisch anerkannt, ihre Aktivitäten wurden durch einen Beschluss des Obersten Gerichtshofs am 30.11.2023 verboten). Eine gemeinsame Toilette für alle Geschlechter.

Einmal war ich in Schweden, wo ein OSZE-Treffen stattfand. Es fand in einem Stadion statt, das für das Ministertreffen umgebaut wurde. Ich wollte mich frisch machen, ich sah das Schild für die öffentliche Toilette. Ich fragte den Begleiter: „Ist das die Männer- oder die Frauentoilette?“ Er antwortete: „Gemeinsam.“ Ich möchte nicht, dass einer meiner Freunde so etwas erlebt. Dies ist ein kleines Beispiel dafür, wie sich dieser Unterschied zeigt.

Aber der sogenannte „Rust Belt“ im Mittleren Westen der USA war nicht bereit, diese „Werte“ zu akzeptieren. Die fanatische Hartnäckigkeit, mit der diese Werte den Bürgern aufgezwungen wurden, hat viele dazu gebracht, die Unzulässigkeit dieser Werte zu erkennen. Genau deshalb haben sie Donald Trump unterstützt.

Es geht also um die Rückkehr zur „Normalität“, wie wir sie verstehen. Wir sind orthodoxe Christen. Unsere Werte sind generell ähnlich. Obwohl der Katholizismus heutzutage immer mehr in neue Richtungen abweicht. Diese sind für uns unverständlich und inakzeptabel.

Es ist ein Fakt, dass eine normale Administration an die Macht gekommen ist, die keine antichristlichen Ideen vertritt. Doch dies hat eine wahre Explosion in den Medien und auf der politischen Bühne weltweit ausgelöst. Und das sagt viel aus.

Als wir uns in Riad mit dem US-Außenminister Marco Rubio, dem US-Präsidenten für nationale Sicherheit Mike Waltz und dem Sondergesandten des US-Präsidenten für den Nahen Osten Steve Witkoff trafen, sagten sie, dass sie normale Beziehungen im Sinne von Donald Trumps Außenpolitik wollen – das heißt, der Schutz der nationalen Interessen der USA. Das ist ein Absolutum, das nicht zur Diskussion steht.

Gleichzeitig verstehen die Amerikaner, dass auch andere Länder ihre eigenen nationalen Interessen haben. Und mit diesen Staaten, die eigene nationale Interessen haben und sich nicht von anderen beeinflussen lassen wollen, sind sie zu ernsthaften Verhandlungen bereit.

Es ist offensichtlich, dass die USA und Russland Staaten sind, deren nationale Interessen niemals identisch sein werden. Sie können nicht vollständig übereinstimmen, nicht einmal zu 50 Prozent. Aber wenn sie doch übereinstimmen, in solchen Situationen sollten wir als verantwortungsbewusste Politiker alles tun, um diese Ähnlichkeiten zu entwickeln und sie in der Praxis umzusetzen, damit sie zum Wohle beider Seiten fortschreiten, sei es bei wirtschaftlichen oder infrastrukturellen Projekten oder bei anderen Angelegenheiten.

Es gab auch eine „Botschaft“. Wenn die Interessen nicht übereinstimmen oder sich widersprechen, sollten verantwortungsbewusste Länder alles tun, um zu verhindern, dass diese Widersprüche in eine Konfrontation übergehen. Ganz zu schweigen von militärischen Auseinandersetzungen, die katastrophale Folgen für andere Länder hätten.

Wir haben ihnen gesagt, dass wir diese Logik vollständig teilen. Der Präsident Russlands Wladimir Putin verfolgt genau diesen Ansatz in seiner Außenpolitik. Seit er Präsident wurde, betont er in seinen Kontakten stets, dass wir niemandem etwas aufzwingen und nach einem ausgewogenen Interessengleichgewicht streben. Mit anderen Worten, die Logik ist absolut gleich.

Wissen sie, einige würden sagen, dass sich Russland jetzt verändert und sich vom Osten, China, Indien und Afrika abwendet. Das ist eine Illusion. Ehrlich gesagt, hat in der Außenpolitik Euphorie keinen Platz.

Ich werde ein Beispiel anführen. Seit vielen Jahrzehnten entwickelt China Beziehungen zu den USA auf der Grundlage der Formel, die ich gerade genannt habe. Sie kritisieren sich manchmal gegenseitig, da erheben wir auch keine Einwände. In der modernen Diplomatie wird jetzt überhaupt eine neue Sprache erlernt. Doch der Dialog zwischen diesen Ländern hat nie aufgehört. Sie sagen: „Hände weg von Taiwan“, „Hände weg vom Südchinesischen Meer“. Aber trotzdem treffen sie sich weiterhin und führen Gespräche. Das ist derselbe Ansatz, dieselbe Logik, die jetzt von der Administration Donald Trumps in den Beziehungen zur Russischen Föderation angewendet wird. Und das ist der einzig richtige Ansatz.

Ich kenne niemanden, dessen Ansichten zu 100 Prozent übereinstimmen. Dasselbe gilt für die Beziehungen zwischen Staaten. Es gibt Länder, die einen erheblichen Einfluss auf das Schicksal der ganzen Welt ausüben können, weil sie nukleare Militärmächte sind und eine besondere Verantwortung tragen. Sie sollten nicht „schreien“, sondern sich stattdessen an den Verhandlungstisch setzen und kommunizieren. Etwa wie die Cowboys in den Hollywood-Filmen: „Sie wissen, dass ich weiß, dass Sie wissen, dass ich weiß, was Sie mir sagen wollen.“

Frage: Herr Minister, es ist mir eine große Ehre, hier zu sein. Ich gratuliere Ihnen im Voraus zum Geburtstag. Vor Ihnen steht ein besonderes Datum. Kurz später werde ich auch meinen Geburtstag feiern. Nein, nicht am selben Tag, ein wenig später. Wir sind im selben Alter. Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben.

Ich möchte mit Ihnen über die NATO sprechen und insbesondere über die Reaktion des russischen Außenministeriums auf den Verrat seitens der Allianz. Wie wird das Außenministerium reagieren, falls – und wenn – die USA die NATO verlassen?

Sergej Lawrow: Das ist eine lange Geschichte von Illusionen, Hoffnungen und Enttäuschungen in einer Partnerschaft, die zu Konkurrenz, zu Konfrontation und dann zur Feindseligkeit wurde.

Ich werde hier nicht die Geschichte wiederholen, wie der US-Außenminister James Baker und andere Michail Gorbatschow versprachen, dass sich die NATO keinen Zoll nach Osten bewegen werde. Dann änderten sie ihr Versprechen angeblich, weil die DDR und die BRD sich wiedervereinigten. Das war rechtlich auf Papier festgelegt. Heute behaupten sie, dass es keine rechtliche Verpflichtung zur Nicht-Erweiterung der NATO gab. Natürlich, wenn man denkt, dass rechtliche Verpflichtungen nur vor Gericht festgelegt werden können, dann braucht man sicherlich klare rechtliche Rahmenbedingungen. Aber wenn man ein Mensch von Würde und Ehre ist, dann muss man die politischen Zusicherungen einhalten, die man gemacht hat. Als Deutschland sich wiedervereinigte, war dies ein rechtliches Dokument, das im „2+4“- Format festgelegt wurde. Dort wurde gesagt, dass die DDR Teil der Bundesrepublik Deutschland wird und damit Teil der NATO. Aber es wurde auch festgehalten, dass auf dem ehemaligen Territorium der DDR keine Infrastruktur des Nordatlantikbündnisses stationiert werden würde. Und das wird immer noch verletzt. Derzeit stationieren sie NATO-Kommandostrukturen auf dem Territorium der ehemaligen DDR (Ostdeutschland). Der Anführer der UdSSR, Michail Gorbatschow, glaubte, dass ihm sein Ehrenwort gegeben wurde. Mit großer Enttäuschung nahmen wir zur Kenntnis, wie die NATO zunächst die DDR aufnahm und dann sich bis 2004 weiter erweiterte, indem sie auch drei baltischen Republiken, die einst Teil der Sowjetunion waren, aufnahm. Danach setzte sich die Expansion fort und nahm immer mehr Länder auf, die Mitglied des Bündnisses werden wollten.

1997 schlug der russische Außenminister Jewgeni Primakow vor, Kontakte zwischen der NATO und der Russischen Föderation aufzunehmen. Es wurde die Russland-NATO-Grundakte angenommen, die auf Gleichheit, gegenseitigem Respekt und Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen, einschließlich der Bekämpfung des Terrorismus und illegaler Migration, basierte.

Auf dieser Grundlage wurde der Russland-NATO-Rat gegründet, über den jährlich 80-90 Projekte umgesetzt wurden. So gab es ein Kooperationsprogramm für Afghanistan. Die Amerikaner setzten russische Hubschrauber ein und bezahlten sie, während wir für deren Wartung sorgten. Die noch aus der Sowjetzeit stammenden Hubschrauber waren am besten für die afghanischen Bedingungen geeignet, um gegen Terrorismus zu kämpfen und gegen den illegalen Drogenhandel vorzugehen.

Aber die NATO-Erweiterung setzte sich fort. Das war noch unter Präsident Boris Jelzin. Primakow war bereits Premierminister Russlands. 1999 fand der OSZE-Gipfel in Istanbul statt. Jelzin nahm daran teil. Es gab Treffen mit seinen Kollegen aus den USA und europäischen Ländern. Sie beschlossen, alle Bedenken bezüglich der NATO und ihrer zukünftigen Pläne auszuräumen. Es war notwendig, eine starke politische Erklärung zur Unteilbarkeit der Sicherheit zu verabschieden. So wurde die Erklärung von Istanbul angenommen, in der es hieß, dass jedes Land sich seine Verbündeten selbst wählen kann, aber kein Land das Recht hat, seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken. Und das Wichtigste: Kein Land, keine Gruppe von Ländern oder Organisationen in der OSZE kann eine dominierende Rolle beanspruchen. Die NATO tat genau das Gegenteil.

Der Beginn der militärischen Spezialoperation, die, wie Präsident Wladimir Putin mehrmals erklärte, war ein notwendiger Schritt, weil alle anderen Versuche und Alternativen, die Situation in eine positive Richtung zu lenken, gescheitert waren. Mehr als zehn Jahre nach dem Staatsstreich in Kiew, der am nächsten Tag nach der Unterzeichnung eines von Deutschen, Franzosen und Polen garantierten Abkommens stattfand. In diesem Abkommen ging es um die Notwendigkeit, in fünf Monaten allgemeine Wahlen abzuhalten, und es sollte eine Übergangsregierung der nationalen Einheit gebildet werden. Aber am nächsten Tag nach der Unterzeichnung dieses Abkommens wurden die Regierungsgebäude besetzt, sie gingen auf den Maidan und erklärten, sie hätten eine neue „Regierung der Sieger“ gebildet. Sieger und nationale Einheit sind zwei verschiedene Dinge. Ich hoffe, dass in Syrien eine nationale Einheitsregierung gebildet wird, obwohl es dort noch gefährlich ist.

Zurück zur Ukraine. Diese Menschen kamen durch einen Staatsstreich an die Macht. Das Erste, was sie erklärten, war die Aufhebung des Status der russischen Sprache. Dann schickten sie Extremisten, um das Gebäude des Obersten Rates der Krim zu stürmen. Danach erklärten sie die Bürger der Süd- und Ostukraine, die es wagten zu sagen, dass sie, da diese Menschen durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen waren, sich weigerten, ihren Befehlen zu folgen und sie baten, in Ruhe gelassen zu werden, zu „Terroristen“ und begannen eine „Antiterroroperation“ gegen sie. Gegen die eigenen Bürger. Das führte zum Krieg, der im Februar 2015 mit den Unterzeichnungen der Minsker Vereinbarungen endete. Jetzt versucht der Präsident Frankreichs, dies so zu deuten, als ob Wladimir Putin sie nicht ausführen wollte. Diese Rede von Emmanuel Macron war ziemlich amüsant (sie bezog sich übrigens auch auf die NATO), da er erklärte, dass Frankreich in der Lage sei, alle mit seinen drei oder vier nuklearen Sprengköpfen zu „verteidigen“.

Aber damals haben wir in Minsk 17 Stunden ununterbrochene Verhandlungen geführt. Die Minsker Vereinbarungen wurden unterzeichnet. Nachdem sie unterzeichnet worden waren, wurden sie vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützt. Ein interessanter Punkt: Nachdem wir die Verhandlungen abgeschlossen hatten, erklärte der Präsident der Ukraine, Pjotr Poroschenko, mit Unterstützung des französischen Präsidenten Francoise Hollande und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, dass er dieses Dokument nicht unterzeichnen werde, bis es nicht von den „Separatisten“ unterzeichnet sei, wie er sie nannte. Die Anführer der beiden selbstausgerufenen Republiken (Donezk und Lugansk) waren ebenfalls in Minsk, aber in einem anderen Hotel. Sie erklärten, dass sie das Dokument nicht unterzeichnen würden, weil es ohne sie vereinbart worden sei. Das Dokument sah die territoriale Integrität der Ukraine vor, mit der Gewährung eines Sonderstatus für diese beiden kleinen Gebiete. Diese hatten bereits ihre Unabhängigkeit erklärt und konnten die Menschen, die an sie glaubten, nicht verraten. Wir mussten sie überreden, das Dokument zu unterzeichnen, in dem tatsächlich über den Sonderstatus innerhalb der Ukraine, die russische Sprache und das Recht zur Abstimmung über die Kandidaturen der Staatsanwälte und Richter, die in diese Regionen ernannt werden sollten, gesprochen wurde. All dies sollte in der Verfassung verankert werden, und die genauen Formulierungen sollten direkt zwischen Kiew und den beiden Republiken abgestimmt werden. Dies wurde Teil der Minsker Vereinbarungen, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen genehmigt wurden. Kurz nachdem diese in Kraft traten, begannen die Deutschen, Franzosen und Ukrainer zu sagen, dass sie niemals mit den „Separatisten“ gesprochen hätten.

Der Präsident Frankreichs, Emmanuel Macron, war nur ein paar Wochen vor Beginn der militärischen Spezialoperation in Moskau. Und auf einer Pressekonferenz und später in einem berüchtigten Telefonat mit dem Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, das er selbst veröffentlicht hat, erklärte Emmanuel Macron gegenüber Wladimir Putin, dass er nicht darauf bestehen könne, dass die „legitime Regierung der Ukraine“ mit den „Separatisten“ verhandle. Darauf entgegnete der Präsident Russlands, dass diese an die Macht gekommen seien durch einen Staatsstreich und uns allen dankbar sein sollten, dass wir versuchten, diese Situation und dieses Land irgendwie zu legitimieren. Man darf nicht vergessen, dass in den Minsker Vereinbarungen ausdrücklich die Notwendigkeit eines direkten Dialogs mit denjenigen Anführern genannt wird, die sie „Separatisten“ nennen.

Wie sich die Franzosen und Deutschen verhalten haben, ist beschämend. Letztendlich erklärten diejenigen, die im Namen der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs unterzeichnet hatten – Pjotr Poroschenko, Angela Merkel und Francoise Hollande – in Interviews (bereits im Ruhestand), dass sie nie vorhatten, diese Vereinbarungen umzusetzen. Sie brauchten einfach Zeit, um die Ukraine mit Waffen zu versorgen. Die NATO spielte dabei eine Schlüsselrolle in diesem „Ramstein“-Prozess, der unter der Führung der USA während der Amtszeit von Joe Biden stattfand. Jetzt, wie ich verstehe, wollen die Amerikaner ihn an die Briten „übergeben“. Die Europäer hören nicht auf, ihre Bemühungen fortzusetzen. Im Gegenteil, sie verstärken sie und fordern immer mehr Unterstützung, werden drängender und, wie ich sagen würde, nervöser.

Die Frage, ob die NATO ohne die USA überleben kann, entstand aus diesen Überlegungen. Ich denke nicht, dass die Amerikaner die NATO verlassen werden. Zumindest hat der Präsident der USA, Donald Trump, niemals angedeutet, dass dies passieren könnte. Aber er hat ganz offen gesagt, dass, wenn die NATO-Mitgliedsstaaten wollen, dass die USA sie verteidigen und Sicherheitsgarantien geben, sie so viel zahlen müssen, wie nötig ist. Es muss noch diskutiert werden, wie viel das sein soll – 2,5 oder 5 Prozent. Er erklärte auch, dass diejenigen, die den Kriterien des Anteils am BIP entsprechen, der in das NATO-Budget eingezahlt werden soll, Sicherheitsgarantien von den USA erhalten werden.

Aber Donald Trump will diese Garantien der Ukraine unter der Führung von Wladimir Selenski nicht gewähren. Er hat eine eigene Sichtweise auf die Situation, die er regelmäßig und direkt darlegt. Dieser Krieg hätte nie beginnen sollen. Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist ein Verstoß gegen ihre Verfassung, ein Verstoß gegen die Erklärung über die staatliche Souveränität der Ukraine 1991, auf deren Grundlage die Ukraine von uns als souveräner Staat anerkannt wurde. Das geschah aus mehreren Gründen, unter anderem auch, weil darin der Status eines blockfreien und neutralen Staates festgelegt war. Außerdem wurde dort bestätigt und verankert, dass alle Rechte der Russen und aller anderen nationalen Minderheiten gewahrt werden müssen. All dies ist immer noch in der Verfassung der Ukraine zu finden, obwohl eine Reihe von Gesetzen, die seit 2019 in Kiew angenommen wurden, zu einem vollständigen rechtlichen Verbot der russischen Sprache führten: in den Medien, in der Bildung, in der Kultur und im täglichen Leben. Wenn Sie in ein Geschäft gehen und den Verkäufer auf Russisch um Hilfe bitten, kann er von Ihnen verlangen, in der „richtigen“ Sprache zu sprechen. So läuft es.

Die Situation änderte sich, als das ukrainische Regime „die Mitgliedschaft in der NATO“ in die Verfassung aufnahm und dabei gleichzeitig die Garantien für nationale Minderheiten beibehielt. Sie erklärten, dass die NATO und die EU die Zukunft der Ukraine seien. Als sie damit anfingen, sprach die Europäische Union noch von einer Art wirtschaftlicher Vereinigung, aber jetzt hat sie diese Eigenschaft vollständig verloren. „Führerin Ursula“ mobilisiert alle für die Remilitarisierung Europas. Es wird von unglaublichen Geldbeträgen gesprochen. Viele denken, dass dies ein Trick ist, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den Dutzenden und Hunderten von Milliarden Euro abzulenken, die ohne ordnungsgemäße Prüfung während des Kampfes gegen die COVID-19-Pandemie und bei der Hilfe für die Ukraine ausgegeben wurden. All das wird derzeit diskutiert.

Die EU hat ihre Unabhängigkeit und ihre wirtschaftliche Bedeutung verloren. Ein Vertreter der deutschen Regierung erklärte, dass sie die Gaslieferungen durch die „Nord Stream 2“-Pipeline niemals wieder aufnehmen werden, weil sie sich angeblich von der Abhängigkeit vom russischen Gas befreien müssten. Aber das war doch die Grundlage des Wohlstands der deutschen Wirtschaft. Jetzt zahlen die Deutschen vier- bis fünfmal mehr für Gas als vergleichbare Industriebranchen in den USA. Die deutsche Wirtschaft zieht dorthin um.

Es findet eine Deindustrialisierung Europas statt. Sie sind bereit, all das zu opfern, nur um ein ideologisches Ziel zu erreichen – den „Sieg“ über Russland auf dem „Schlachtfeld“. Sie sprachen von der Notwendigkeit, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen. Jetzt sagen sie, dass sie die Kapitulation der Ukraine nicht akzeptieren werden. So eine Wendung. So eine Veränderung. Das ist, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte, eine „360-Grad-Wendung“.

Die Europäische Union ist nicht länger ein friedliches Wirtschaftsprojekt. Sie wollen eine eigene Armee haben. Was die Zukunft der NATO betrifft, so gibt es Stimmen, die für die Schaffung einer eigenen Militärallianz, „einer eigenen NATO“, plädieren, da die USA sich nicht aktiv in europäische Angelegenheiten einmischen wollen. Das ist ein sich entwickelndes Spiel. Einige Aussagen zielen darauf ab, die Reaktion auf der anderen Seite des Ozeans zu sehen.

Am 10. Januar 2023 unterzeichneten die EU und die NATO eine Gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit, die die EU der NATO unterordnete und ihr eine sogenannte Mobilität gewährte: NATO-Truppen können das Territorium von Ländern nutzen, die keine NATO-Mitglieder sind, aber der EU angehören. Wenn es solche Länder noch gibt. Österreich, Irland... Eigentlich ist das nicht so wichtig, weil sie immer „nach Osten denken“.

Was die „friedliebenden“ Menschen betrifft, so erklärte die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, dass die Ukraine jetzt schwach sei und nicht gerecht behandelt werde, weshalb der Frieden heute für sie schlechter sei als der Krieg. Sie sagte es so. Sie rief dazu auf, die Ukraine wieder mit Waffen zu versorgen – und dann werde es Russland schwächen und man werde sehen, worüber man sprechen könne. Der Leiter des deutschen Bundesnachrichtendienstes Bruno Kahl erklärte kürzlich, dass es schlecht für die Ukraine und Europa wäre, wenn der Krieg vor 2029 zu Ende ginge, am besten wäre es, wenn er 2030 enden würde. Ja, solche Dinge werden ausgesprochen.

Der Präsident der USA Donald Trump forderte Wladimir Selenski in seinem Oval Office nachdrücklich auf, auf die Frage zu antworten, warum er nicht verhandeln wolle. Selenski versuchte, der Antwort auszuweichen. Natürlich ist die neue amerikanische Administration besorgt (um es milde auszudrücken) über die Verstöße, die unter Joe Biden begangen wurden: Waffenlieferungen des Pentagons an die Ukraine ohne Kontrolle darüber, wohin das Geld ging. Elon Musk versucht, dies zu tun. Wir haben keinen Spaß daran. Denn es ist die Administration von Joe Biden, Ursula von der Leyen und ihre Kommission, die Briten, die Russland regelmäßig der Korruption, der Menschenrechtsverletzungen beschuldigen und beginnen, jede internationale Problematik mit den Menschenrechten zu diskutieren. Iran, Venezuela, Kuba, Nicaragua. Südafrika, das angeblich die Menschenrechte verletzt hat, indem es ein Landgesetz verabschiedete. Es gibt mehrere Formate der Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Zentralasien, und die Menschenrechte haben immer Vorrang.

In der Ukraine, wo die russische Sprache rechtlich und physisch ausgerottet wurde (eine spezielle Agentur überwacht, dass diese Gesetzgebung vollständig umgesetzt wird), hat niemand außer uns jemals von den Menschenrechten gesprochen. Jetzt haben Ungarn und Bulgaren begonnen, dieses Thema anzusprechen, weil auch sie Minderheiten in der Ukraine haben. Dieses Land wurde hauptsächlich von Joseph Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Die Grenzen wurden faktisch ähnlich wie von den Kolonialmächten in Afrika gezogen. Schauen Sie sich die Karte von Afrika an. Die Grenzen sind einfach mit dem Lineal gezogen. Im Fall der Ukraine und ihrer Nachbarn ist die Situation anders. Es gab einen individuellen Ansatz, aber auch eine Aufteilung nach Nationen.

Nach dem Staatsstreich, als wir mit dem damaligen Präsidenten der Ukraine, Pjotr Poroschenko, sprachen, versprach er, dass er niemals einen Krieg zwischen der ukrainischen Armee und den Bürgern der Ostukraine zulassen würde. Damals versprach er, dass sie ihren Verpflichtungen gegenüber den nationalen Minderheiten treu bleiben würden.

Wir haben ernsthaft über die Föderalisierung mit dem damaligen US-Außenminister John Kerry, der hohen Vertreterin der EU für Außenpolitik und Sicherheit Catherine Ashton und dem amtierenden Außenminister der Ukraine Andrej Deschtschitsa gesprochen. Das war im April 2014. Wir haben ernsthaft darüber gesprochen. Niemand sprach von der Krim. Die Sache war bereits entschieden. Wir entwickelten ein Dokument (die Genfer Erklärung vom 17. April 2014). Darin hieß es, dass die Leiter der ukrainischen Regionen gemeinsam darüber diskutieren sollten, wie sie in einem Staat, der früher unitarisch war, leben wollen, aber auch, dass die Rechte der Minderheiten berücksichtigt werden sollten. Das war 2014. Danach haben alle darüber „vergessen“.

Wladimir Selenski kam ebenfalls an die Macht unter dem Slogan, dass er die Minsker Vereinbarungen umsetzen würde. Einige Monate nach seiner Amtseinführung sagte er jedoch völlig andere Dinge: dass sie ein Einheitsstaat seien, es keinen besonderen Status geben werde und dass er nicht mit „Separatisten“ sprechen werde u.s.w.

Eine weitere Lüge, die der Präsident Frankreichs in seiner jüngsten pathetischen Erklärung äußerte, betrifft das Treffen im Dezember 2019 in Paris zwischen Emmanuel Macron, der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Präsidenten Russlands Wladimir Putin und Wladimir Selenski. Angeblich hätten die Deutschen und Franzosen dieses Treffen einberufen, um die Minsker Vereinbarungen zu retten. Die vorbereitenden Arbeiten führten zu einem Konsensdokument, das von Experten und Ministern der vier Länder abgestimmt wurde. Es wurde den Präsidenten und der Kanzlerin vorgelegt. Darin wurde die Notwendigkeit der Trennung der Streitkräfte an der Kontaktlinie erwähnt: zunächst in drei Bereichen und später entlang der gesamten Kontaktlinie. Dies wurde vereinbart. Als es den Führungskräften gezeigt wurde, waren alle zufrieden. Doch Selenski erklärte, er könne nur zustimmen, dies in drei „experimentellen“ Gebieten zu versuchen und nicht entlang der gesamten Kontaktlinie. Niemand konnte verstehen, warum, aber er bestand darauf. Das Wichtigste war, dass er nie die Truppen auch nur an diesen drei Orten abgezogen hatte. Die Kämpfe setzten sich fort.

Dann griff die NATO ein. NATO lieferte zweifellos Waffen und Aufklärungsdaten. Dies dauert bis heute an. Die Amerikaner gaben bekannt, dass sie (vielleicht vorübergehend, vielleicht auch nicht) ihre Ausbilder und Experten abziehen würden, die bei der Zielerfassung von Hochtechnologie-Raketen halfen, aber andere Länder bleiben dabei.

Ein weiterer Punkt bezüglich der NATO. Früher waren sie stolz darauf, ein Verteidigungsbündnis zu sein. Das Einzige, was sie interessierte, war der Schutz der Territorien der Mitgliedsstaaten. Auf dem Gipfel von 2022 in Madrid sagte der damalige Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass sie im Indopazifischen Raum aktiver sein müssten. Auf die Frage eines Journalisten, dass das Bündnis früher nur über den Schutz der Territorien der Mitgliedstaaten gesprochen habe, antwortete Stoltenberg, dass das natürlich der Fall sei und fügte hinzu, dass die Bedrohungen für das Bündnis nun aus dem Südchinesischen Meer, der Taiwanstraße und so weiter kämen.

Die Organisation begann, ihre nicht-inklusive Blöcke zu bilden: „Dreiergruppen“, „Quad“, „AUKUS“. Sie förderten die Bildung des „Indo-Pazifischen Quartetts“ (Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea), entwickelten ihre Zusammenarbeit mit Japan und Südkorea weiter. In gemeinsamen Übungen mit Südkorea werden bereits nukleare Elemente eingesetzt und diskutiert. Soweit ich weiß, plant das Bündnis, ein Büro in Tokio oder auf einer der japanischen Inseln zu eröffnen. Sie versuchen, einige Länder aus der ASEAN herauszuziehen und in „geschlossene Clubs“ mit begrenzter Mitgliedschaft einzubeziehen. Ein herausragendes Beispiel dafür sind die Philippinen und Singapur.

Das Sicherheitskonzept wurde von der ASEAN über Jahrzehnte entwickelt und beinhaltete alle auf gleichberechtigter Basis, einschließlich der Nachbarstaaten: China, USA, Indien, Russland, Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea. ASEAN basiert auf Konsens, aber dieser Grundsatz wird nun erheblich untergraben. Dies fiel mit der Zeit zusammen, in der wir begannen, unsere eigene Sicherheit und die eurasische Sicherheit (genau, eurasische, nicht europäische) neu zu überdenken.

Auf jedem Kontinent – in Afrika, Lateinamerika – gibt es Organisationen auf kontinentaler Ebene: die Afrikanische Union, CELAC (in Lateinamerika und der Karibik). Nur Eurasien, der größte, wohlhabendste und entwickelte Kontinent, hat keine eigene kontinental übergreifende Organisation.

Alle Versuche Russlands, Teil eines Kooperationsprozesses im Bereich der Sicherheit zu werden, waren mit euroatlantischen Strukturen verbunden: OSZE, Russland-NATO-Rat. Die EU wird auch bald euroatlantisch werden. All dies hat nicht funktioniert.

Jetzt versuchen wir, ohne jemandem etwas aufzuzwingen, eine Vision der eurasischen kontinentalen Architektur zu diskutieren, ohne die Form vorwegzunehmen, sondern sich einfach setzen und über die Grundlage der Offenheit dieser hypothetisch möglichen Architektur für alle Länder des Kontinents zu sprechen. Lassen Sie sie NATO oder OSZE beibehalten, wenn sie das wollen. Es gibt jedoch die EAWU, die OVKS, die GUS, ASEAN. Es gibt die Südasiatische Vereinigung für regionale Kooperation – nicht sehr aktiv, aber dennoch. Der Golf-Kooperationsrat normalisiert jetzt seine Beziehungen zu Iran. Und wir fördern dies.

Der größte Teil dieser subregionalen Aktivitäten ist wirtschaftlich. Es wäre gut, wenn wir unsere Kräfte bündeln und eine Arbeitsteilung organisieren würden, um Geld und Anstrengungen für die Harmonisierung wirtschaftlicher Pläne zu sparen. Der Präsident Russlands, Wladimir Putin, nannte dies die Große eurasische Partnerschaft. Vielleicht wird dies in vielen Jahren die materielle Grundlage für eine Sicherheitsarchitektur sein, die nicht der westlichen Hälfte des Kontinents nahe sein wird.

Frage: Ich bin mir nicht sicher, ob ich meinem eigenen Land vertraue. Ich weiß, dass die russische Regierung aufrichtig eine diplomatische Lösung anstrebt.

Was mich beunruhigt, ist das, was ich weiterhin von Menschen höre, die wichtige Posten innehaben. Ich erinnere mich, wie die Vereinigten Staaten 1972 unter Präsident Richard Nixon zynisch die Beziehungen zu China entwickelten. Dies wurde mit dem klaren Ziel getan, zu versuchen, die UdSSR und die Volksrepublik China gegeneinander auszuspielen. Ich habe das von mehreren Leuten gehört. Ich weiß, dass Elbridge Colby, der der drittwichtigste Mann im US-Verteidigungsministerium sein wird (er ist ein Kandidat für den Posten des stellvertretenden Verteidigungsministers), dies genau so sieht. Sie sehen in China den Feind und glauben, dass sie einen Keil zwischen Russland und China treiben können und Russland wieder als Keil gegen China einsetzen können. Das ist Unsinn. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten nimmt die russische Regierung ihre Vereinbarungen ernst und hält sich daran.

Wie sehen Sie die russische Reaktion auf diesen Trick der USA? Einerseits reichen sie Ihnen die Hand der Freundschaft, aber gleichzeitig geben sie nicht ihre Bestrebung auf, Ihr Land zu zerstören und Sie zynisch gegen die Chinesen zu benutzen.

Sergej Lawrow: Das haben wir schon gehabt. Sie haben das Jahr 1972 erwähnt, als US-Präsident Nixon wollte, dass die Beziehungen in diesem Dreieck so wären: Beziehungen zwischen den USA und China und zwischen den USA und Russland sollten besser sein als die Beziehungen zwischen Moskau und Peking.

Das ist eine ziemlich interessante philosophische Konstruktion. Aber die aktuelle Situation unterscheidet sich davon radikal. Wir hatten noch nie solche guten und vertrauensvollen langfristigen Beziehungen mit China, die von beiden Völkern unterstützt werden. Die Amerikaner wissen, dass wir nie unsere juristischen, aber auch politischen Verpflichtungen gegenüber China verletzen werden.

Natürlich haben wir auch Probleme und Schwierigkeiten. Großenteils lassen sie sich auf die Sanktionen zurückführen, denn Unternehmen wollen solche „Bestrafungen“ vermeiden. Manche durchaus aussichtsreiche logistische und infrastrukturelle Projekte in Sibirien wurden verschoben. Aber wir haben es nicht eilig und die Chinesen schon gar nicht – sie gucken ja immer über den Horizont, so ist ihre nationale Mentalität, und wir respektieren das.

Ich werde wohl kein Geheimnis verraten, wenn ich Ihnen sage, dass während des Treffens Wladimir Putins und Joe Bidens im Juni 2021 in Genf (mitten in der Corona-Pandemie) ein kurzes Gespräch stattgefunden hat, an dem sich nur die Außenminister beteiligten. Joe Biden sagte damals, dass er sich allmählich den Absolutismus der Demokratie anders überlege, denn Länder mit autoritären Regierungen die Pandemie wesentlich besser in den Griff bekommen als die USA. Jeder Staat hat nach seinen Worten seine Handlungsfreiheit und entscheidet selbst, ob die Bevölkerung geimpft werden sollte oder nicht. Aber laut Biden haben China und Russland diese Herausforderung viel besser als andere Länder in den Griff bekommen.

Das ist eine philosophische Diskussion. Wenn man dieser Logik folgt, kann man sinnieren, ob vier oder sogar nur zwei Jahre genügen, um solche Herausforderungen in den Griff zu bekommen, besonders wenn man die modernen komplizierten Technologien bedenkt, die einen Umbau einzelner Wirtschaftsbranchen verlangen. Wenn man Halbzeitwahlen verliert, wird der Kongress nicht mehr zulassen, dass man seine Pläne umsetzt.

Ich denke, die Antwort ist so: jedes Land sollte sein Schicksal und seine Zukunft selbst bestimmen. Das entspricht voll und ganz der UN-Charta, in der es sich um souveräne Gleichheit von Staaten und um Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten handelt.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Afghanistan. Das Experiment zur Aufdrängung der Demokratie ist dort total gescheitert, denn man hatte die jahrhundertelangen Gewohnheiten, Sitten und Bräuche sowie ungeschriebenen Regeln dieser Zivilisation ignoriert. Man sollte sehr vorsichtig sein, wenn es um jegliche Aufdrängung geht. Donald Trump sprach schon von seiner Idee, ein dreiseitiges Treffen der USA, Chinas und Russlands zu organisieren, um die Themen Atomwaffen und Sicherheitsfragen zu besprechen. Wir sind für alle Formate offen, die sich auf gegenseitigen Respekt, auf Gleichberechtigung und  den Verzicht auf vorbestimmte Entscheidungen stützen. Wenn unsere chinesischen Freunde Interessen dafür zeigen, dann sollen sie ihre Entscheidung treffen.

Aber das bedeutet keineswegs, dass der russisch-amerikanische Dialog über strategische Stabilität unwichtig ist. Donald Trump und seine Administration zeigten häufiger ihr Interesse an einer Wiederaufnahme solcher Diskussionen. Präsident Putin sagte seinerseits, dass dies gerade das Gebiet ist, für das wir eine besondere Verantwortung tragen, wenn man bedenkt, dass der START-III-Vertrag in einem Jahr ausläuft.

Diese Vorgehensweise unterscheidet sich radikal von der Vorgehensweise der Administration Joe Bidens. Diese sagte uns damals: Lasst uns wieder den START-Vertrag wieder in Kraft setzen! Aber Ihr sollt uns erlauben, manche von euren Nuklearobjekten zu besuchen. Wir sagten darauf: Ihr habt uns zu Feinden abgestempelt und erklärt, dass Ihr Russland eine strategische Niederlage beibringen wollt. Sie erwiderten: Das stimmt zwar, aber das schließt nicht taktische und technische Besuche aus.

Wie ich am Anfang gesagt habe, Trumps Position besteht darin, dass wir keineswegs zulassen dürfen, dass unsere Kontroversen in einen Krieg ausarten. Und wenn es gemeinsame Interessen gibt, dürfen wir nicht Chancen verpassen, diese auszunutzen und davon zu profitieren.

Frage: US-Außenminister Marco Rubio sagte, es beginnt gerade eine Epoche der multipolaren Welt. Sie sagten, dass die Chinesen und teilweise Russen immer „über den Horizont“ gucken und kurzfristige Ereignisse ignorieren. Was denken Sie: Gibt es in den nächsten zehn Jahren Chancen auf eine Normalisierung der russisch-amerikanischen Beziehungen? Und wäre es vielleicht möglich, eine Allianz unserer Länder zu bilden? Diese Frage ist für viele Menschen wichtig.

Sergej Lawrow: Historisch bedeutet das Wort „Allianz“ eine Vereinigung bestimmter Länder gegen jemanden sonst. Und die Multipolarität, die Marco Rubio einräumt, ist etwas anderes.

Wie kann man eine Multipolarität  anerkennen, ohne solche Großmächte wie China, Indien, Afrika als einen riesigen Kontinent, Lateinamerika im Allgemeinen, Brasilien und eine ganze Reihe von anderen Akteuren zu berücksichtigen?

Die Multipolarität wird sich aus meiner Sicht noch lange entwickeln. Vielleicht wird das eine ganze historische Epoche dauern, was aber nur meine Meinung ist. Diese multipolare Welt kann aus Supermächten bestehen, wenn es um ihre Größe, ihr Wirtschaftsgewicht oder ihre militärische Stärke geht, besonders wenn sie Atomwaffen haben.  Natürlich gehören solche Länder wie die USA, China und Russland in diese Kategorie.

Andere Länder, die nicht so groß sind, können ebenfalls an der multipolaren Welt teilnehmen – über subregionale Strukturen, beispielsweise ASEAN, den Golf-Kooperationsrat, die Arabische Liga, die Afrikanische Union. Letztere ist übrigens beim Gipfel 2024 ständiges G20-Mitglied geworden. Auch die Arabische Liga möchte solchen Status bekommen. Wir sind dafür.

Bei der G20 geht es um ein Format, das aktuell seine Nützlichkeit nicht nur im finanziellen und wirtschaftlichen Bereich beweist, sondern auch im politischen Aspekt. Sie könnte eine positive Rolle auch bei der Etablierung der multipolaren Welt spielen.

Wir beobachten weiterhin Rudimente der Feindseligkeit, aber es gilt die Konsensregel. Dort gibt es keine Abstimmungen. Deshalb ist dieses Format mehrversprechend im Vergleich zur UN-Vollversammlung. Jedes Mal, wenn etwas im UN-Sicherheitsrat nicht erreicht werden kann, wenden sie sich an die UN-Vollversammlung, wo sie ganze Shows organisieren – mit Vorwürfen, Abstimmungen usw.

Aber nicht nur US-Außenminister Rubio redet von der Multipolarität. Als Donald Trump über die ursprünglichen Gründe der Krise sprach, erwähnte er die Nato – das habe ich schon gesagt. Wirr bestehen darauf, dass jegliche Vorgehensweise, jeder Versuch, sich mit der Regelung der Ukraine-Krise zu befassen, jede Initiative (und die meisten klingen sehr unbestimmt) – sie alle sollten auf die Ausrottung der ursprünglichen Gründe des Konflikts ausgerichtet werden.

Donald Trump hat bestätigt, dass einer der wichtigsten Gründe die Nato-Erweiterung war, die Russlands Sicherheit gefährdete. Übrigens muss ich hinsichtlich der neuen Realität, die nach dem 20. Januar entstanden ist, sagen: die Bedeutung der Ukraine für Russlands Sicherheit ist viel, viel größer als die Bedeutung Grönlands für die Sicherheit der USA.

Der zweite Aspekt, der den Konflikt auslöste, bestand in der Bekämpfung der russischen Sprache und Kultur, russischer Massenmedien, im Verbot von Oppositionsparteien, von manchen oppositionellen Medien, die über Morde oder über Entführung von Journalisten und über Kriegsverbrechen gegen Menschen in Donbass gleich nach dem Staatsstreich berichteten. Diese Menschen wurden zu „Terroristen“ abgestempelt. Das alles verletzte die UN-Charta, der zufolge alle die Rechte jedes Menschen respektieren sollten – unabhängig von seiner Rasse, seines Geschlechts, seiner Sprache oder Religion. Das ist  im Artikel 1 der UN-Charta verankert.

Ich sprach mit UN-Generalsekretär António Guterres und habe auch Journalisten in der UNO darauf verwiesen. Noch machte ich Journalisten auf etliche Themen aufmerksam, die vom Westen missbraucht worden waren, um Russland als „abgebrühten Verbrecher“ zu verurteilen. Und alles begann im Juli 2024, als die malaysische Boeing (Flug MH17) abgeschossen wurde.

Der Gerichtsprozess verlief unter Beteiligung nur eines unmittelbaren Augenzeugen – zwölf andere wurden dem Publikum nicht präsentiert, und ihre Namen sind unbekannt geblieben. Aber die Geschworenen erklärten, dass man sich auf ihre Aussagen verlassen könne und dass sie ihre Worte bestätigt hätten. Also ist diese Sache immer noch absolut intransparent.

Es geht auch um die Vergiftung in Salisbury, um das Schicksal der Skripals. Wir wandten uns an die britischen Behörden mit Fragen über das Schicksal und den Aufenthaltsort dieser russischen Staatsbürger, doch unsere Appelle wurden ignoriert.  Die Briten machten einen großen Skandal und warfen uns vor, und nutzten diese Situation aus, um die Sanktionen zu verschärfen. Und danach haben sie über diesen Zwischenfall „vergessen“.

Dasselbe gibt für die Situation um Alexej Nawalny, der im Gefängnis gestorben ist, wo er seine Haftstrafe absaß. Ein paar Jahre zuvor war er nach seiner vermeintlichen Vergiftung in Russland behandelt worden. Weniger als 24 Stunden nach seiner „Vergiftung“ wurde er nach Deutschland befördert, wo er auch behandelt wurde. Das war eine interessante Geschichte, und wir stellten den Deutschen entsprechende Fragen. Er war immerhin unter Staatsbürger, und wir wollten die Wahrheit darüber wissen, was mit ihm passiert war. Die Deutschen sagten uns, im zivilen Krankenhaus wäre bei ihm nichts entdeckt worden, und deshalb hätte man ihn in ein Hospital der Bundeswehr geschickt, wo in seinem Blut angeblich der Giftstoff Novitschok entdeckt wurde. Wir fragten nach den Testergebnissen, was völlig normal war: Er war immerhin unser Staatsbürger, und man warf uns brutalen Umgang mit ihm vor. Man weigerte sich aber, uns diese Informationen zur Verfügung zu stellen, denn dann könnten wir erfahren, wie hoch Deutschlands Niveau der Experten im Bereich der Biostoffe ist.  Deshalb würde man diese Informationen der OPCW überlassen.

Wir wandten uns an die OPCW und verwiesen darauf, dass wir selbst Mitglied dieser Organisation sind. Die deutsche Seite sagte aber, das sei jetzt unsere Verantwortung. Man bestätigte uns, diese Angaben von Deutschland erhalten zu haben, allerdings unter der Bedingung, man würde uns diese Daten nicht zeigen. Aber das war doch kindisch – und gleichzeitig so tragisch!

Ich fragte häufiger viele westliche Journalisten (und zwar in der Öffentlichkeit), warum sie als Profis auf ihrem beruflichen Gebiet nicht die Wahrheit über den Mann erfahren wollen, den der Westen zum Märtyrer ausgerufen hat, der vom „bösen“ Russland verfolgt wurde. Wollen Sie denn nicht wissen, was mit ihm in Wahrheit passiert war, wie er behandelt wurde (auch in Deutschland), bevor er nach Russland zurückgekehrt war?

Und es gab noch einen Zwischenfall – in Butscha. Um die Unterzeichnung des Abkommens im April 2022 in Istanbul hatten wir als Zeichen des guten Willens mehrere Orte bei Kiew freiwillig verlassen. Und zwei Tage nach unserem Rückzug aus dieser Stadt zeigte BBC die zentrale Straße von Butscha mit Leichen, die auf beiden Straßenrändern akkurat lagen. Natürlich brach eine Empörungswelle aus. Wir verlangten eine Ermittlung, doch niemand interessiert sich dafür – nach wie vor. Wir wollen die Namen der Menschen erfahren, deren Leichen BBC gezeigt hat.

Ich warf diese  Frage zweimal im UN-Sicherheitsrat auf, in der Gegenwart des Generalsekretärs, wie auch bei meinen persönlichen Treffen mit ihm. Wir wandten uns auch an den UN-Hochkommissar für Menschenrechte – und bekamen keine Antwort. Zweimal hob ich diese Frage vor internationalen Journalisten in New York hervor und appellierte an ihre berufliche Pflicht. Alles war vergeblich.

Was das Thema Menschenrechte und die Aufrichtigkeit unserer westlichen Freunde angeht, so wollen Europa und  Großbritannien, dass dies alles weitergeht. Selenskis Empfang in London nach dem Skandal in Washington zeugte davon, dass sie an einer Erhöhung der Sätze interessiert sind und etwas vorbereiten, um Trumps Administration zu aggressiven Handlungen gegenüber Russland zu überreden. Wir sehen das philosophisch – wir wissen, was wir tun.

Am meisten finde ich ihre Besessenheit von der Friedensstifter-Idee frappierend. Der französische Präsident Macron erklärt, der Krieg sollte gestoppt werden, und einen Monat später sollten dort „Friedensstifter“ stationiert werden – und dann würde man schon entscheiden, was weiter zu tun wäre.

Erstens ist das etwas anderes als für das Ende des Kriegs erforderlich ist, den der Westen die Ukrainer gegen uns führen lässt – das wissen wir. Wenn die Nato-Erweiterung wenigstens von Donald Trump als einer der wichtigsten Gründe anerkannt wird, dann ist die Anwesenheit der Nato-Truppen auf dem ukrainischen Boden – egal unter welcher Flagge – eine Gefahr für uns.

Frage:  Und Sie werden das unter keinen Umständen akzeptieren, richtig?

Sergej Lawrow: Unter keinen Umständen. Mit uns redet niemand. Man behauptet nach wie vor, über die Ukraine darf nichts ohne Absprache mit der Ukraine entschieden werden; tut aber alles gegen Russland, ohne Russland zu fragen. Als Präsident Trump über Friedensstifter gefragt wurde, sagte er, dass es noch viel zu früh ist, dieses Thema zu besprechen, aber normalerweise müssen alle Seiten zustimmen. Warum sollten wir zustimmen, dass eine solche Kraft aus Ländern besteht, die uns als ihren Feind bezeichnen? Würden sie dort als Friedensstifter erscheinen?

Zweitens geht es um die Rechte und Schicksale der Menschen, die nicht nur auf den befreiten Territorien leben, sondern auch auf den Territorien, die vom Kiewer Regime kontrolliert werden. Die meisten von ihnen sprechen Russisch. Sie sind im Sinne der russischen Kultur aufgewachsen und wollen, dass ihre Kinder Russisch lernen. Ich fragte, ob das Gesetz, das die russische Sprache verbietet, auf dem Territorium, das von der Ukraine bleiben wird, abgeschafft wird. Darauf gab es noch keine Antwort. Das werden wir noch sehen.

Und es stellt sich noch eine Frage: wird das Denkmal für Bandera, der Hitlers Kollaborateur war und vom Nürnberger Tribunal in Abwesenheit verurteilt wurde, weiter stehenbleiben? Dieses Denkmal wurde zum ersten Mal dem israelischen Außenminister gezeigt. Und er sagte, er hätte nie gedacht, dass so etwas möglich sein kann.

Es ist nun einmal so, dass der bleibende Teil der Ukraine dieses Denkmal weiterhin stehen und das Verbot der russischen Sprache weiter gelten lassen würde. Sie würde weiter Fackelzüge mit Symbolen der SS-Divisionen organisieren. Dann wäre das  bei allem Respekt kein „friedensstiftender“ Teil, das wären keine Kräfte, die den Frieden fördern. Das wären Kräfte, die das Nazi-Regime unterstützen und verteidigen. Und das wäre ewig so. Das ist völlig inakzeptabel.

Frage: Ich habe eine Frage über den Gaza-Streifen. Präsident Putin empörte sich über den Völkermord im Gaza-Streifen. Wie ist die Position des russischen Außenministeriums, wenn das Netanjahu-Regime den Iran angreift? Der israelische Premier äußerte sich öffentlich mit so einer Drohung.

Sergej Lawrow: Wir hatten immer gute Beziehungen mit Benjamin Netanjahu. Wladimir Putin betonte immer, wenn er über diese Region sprach, dass die Regelung dieser Frage ohne Gründung eines palästinensischen Staates und ohne zuverlässige Garantien für Israel unmöglich wäre.

Beide Staaten wurden im Sinne der entsprechenden Resolution der UN-Vollversammlung im Jahr 1948 gegründet. Ich weiß nicht mehr, wie die genaue Formulierung war, aber es ging dabei darum, dass die Bedingung der Gründung und des Bestehens eines Staates die Gründung und das Bestehen des zweiten wäre.

Jetzt reden alle, die auf die Notwendigkeit der Gründung des palästinensischen Staates hinweisen, von den Grenzen aus dem Jahr 1967. Sie unterscheiden sich stark von den Grenzen von 1948, die  die Grenzen Israels und Palästinas sein sollten. Wenn Sie sich die Karte der Region anschauen, dann sehen Sie, dass die Grenzen von 1967 quasi „kosmisch“ sind im Vergleich dazu, wie sie jetzt sind; und im Westjordanland wimmelt es ja von israelischen Siedlungen.

Ich habe viele Berichte gesehen, dass die Israelis beschlossen hätten, das Westjordanland auf eine „besondere“ Art und Weise zu annektieren, indem sie es unter ihre volle Kontrolle nehmen, ohne die Palästinenser abzuschieben, die aber nur in einigen Munizipalitäten leben dürften. Nicht in Lagern, sondern in Munizipalitäten.

Frage: Ist der Iran Teil der aktuellen Verhandlungen? Handelt es sich bei den Ukraine-Verhandlungen auch um andere geopolitische Fragen? Sprechen die Präsidenten Putin und Trump ausschließlich über die Ukraine? Oder könnte es dabei auch um andere geopolitische Interessen Russlands handeln?

Sergej Lawrow: Wir haben die Situation in der Persischen Golfregion sowie den Gemeinsamen allumfassenden Aktionsplan bezüglich des iranischen Atomprogramms besprochen. Wir plädieren für Wiederherstellung des ursprünglichen Programms, das die Amerikaner in der ersten Amtszeit Präsident Trumps aufgegeben haben. Es gibt manche Kontakte auch mit den Europäern. Wir plädieren dafür, dass das Format wieder ins Leben gerufen wird, das im ursprünglichen Iran-Deal vorgesehen war, der vom UN-Sicherheitsrat (unter Beteiligung Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, der USA, Russlands und Chinas) gebilligt wurde. Wir werden sehen, wie es weitergeht.

Beunruhigend ist aber, dass es manche Merkmale gibt, dass die Amerikaner für diesen neuen Deal politische Bedingungen stellen wollen, laut denen der Iran sich zu Kontrollen verpflichten müsste, die bestätigen würde, dass er keine Gruppierungen im Irak, im Libanon, in Syrien usw. unterstützt. Ich denke nicht, dass so eine Variante funktionieren würde.

Alle Länder der Golfregion haben Einfluss außerhalb ihrer eigenen Grenzen. In Nordafrika setzen sie ziemlich viele humanitäre und wirtschaftliche Programme um. Sie treten als Vermittler auf, beispielsweise in Sudan, dessen innenpolitische Krise so oder so von manchen Akteuren aus der Golfregion geregelt wird. Deshalb glaube ich nicht, dass eine Situation entstehen könnte, in der alle Länder außer dem Iran das Recht hätten, andere Länder der Region zu beeinflussen.

Frage: Wie können Sie die Erklärungen Präsident Putins von Juni 2024 kommentieren, die den Bedingungen der Regelung und der Verhandlungen mit der Ukraine gewidmet waren? Ich sehe das so: die Position Präsident Putins ist unverändert geblieben. Ihre Position ist, wie ich sehe, dieselbe wie die des Präsidenten. Dasselbe hat auch Ihr Stellvertreter Sergej Rjabkow gesagt. Ich denke aber, im Westen gibt es Menschen, die glauben, dass Sie eines sagen, in Wirklichkeit aber andere Ansichten haben.

Sergej Lawrow: Diese Leute sollen sich auch weiter irren. Wir haben ein reines Gewissen, und zwar nicht nur weil wir es nur selten nutzen, sondern weil wir uns schon öfter getäuscht haben. Aber im Kontext konkret dieser Krise wissen wir, was wir tun müssen, um keine Kompromisse zu akzeptieren, die Menschenleben gefährden würden.

Es geht nicht um Territorien, sondern um Menschen, die wegen neuer Gesetze ihre Geschichte verloren haben. Noch vor unserer militärischen Sonderoperation, als der Krieg wider die Minsker Vereinbarungen weiterging, wurde Selenski in einem Interview im September 2021 gefragt, was er von den Menschen jenseits der Trennungslinie hält. Dann sagte er, dass es Menschen und Kreaturen gibt. Dann ergänzte er, dass er denjenigen in der Ukraine, die sich als Teil der russischen Kultur betrachten, raten kann, aus der Ukraine nach Russland abzuhauen. Und das sagt der Mann, der erst wenige Jahre zuvor als Schauspieler und dann als Präsidentschaftskandidat dafür plädiert hatte, Angriffe gegen die russische Sprache zu lassen. All diese Aussagen lassen sich leicht im Internet finden.

Die Reihenfolge dieser Ereignisse hat uns dazu gezwungen, uns auf Ergebnisse zu konzentrieren, die diese Menschen retten könnten. Manche sagen, die Ukraine sollte zu den Grenzen von 1991 zurückkehren, und Russland sollte die Ukraine „verlassen“. Aber Territorien sind nur deshalb wichtig, weil dort Menschen leben. Und die Menschen, die auf diesen Territorien leben, die Selenski zurückbekommen will, sind Nachkommen der Menschen, die vor Hunderten Jahren Odessa und andere Städte aufbauten, die dort Häfen und Straßen bauten, die diese Gebiete erschlossen und mit  der Geschichte dieses Bodens verbunden waren.

Die UNESCO hat übrigens unter einem gewaltigen Druck seitens der Ukraine das Stadtzentrum von Odessa zum Objekt des Weltkulturerbes erklärt. Die Stadt verdient das absolut. Aber diese Entscheidung wurde eine Woche nach dem Abriss des Denkmals für Katharina die Große verkündet, die Odessa gegründet hatte. Das Denkmal wurde abgerissen und weggeworfen. Und die UNESCO verhielt sich so, als wäre nichts passiert.

Lassen Sie mich die Reihenfolge der Ereignisse anführen. Bei der Präsidentschaftswahl 2004 gab es zwei Kandidaten: ein „prorussischer“ und der andere wurde als „proamerikanisch“ bezeichnet. Er war mit einer Amerikanerin verheiratet, die Politologin von Beruf war. Die Stichwahl hat der prorussische Kandidat gewonnen, aber die Menschenmenge, die vor allem von den Europäern aufgehetzt wurde, verlangte eine neue Auswertung der Wahlergebnisse. Unter einem gewaltigen Druck beschloss das ukrainische Verfassungsgericht, eine dritte Präsidentschaftswahlrunde zu organisieren, was in der Verwaltung des Landes gar nicht vorgesehen war. Und am Ende hat der prowestliche Kandidat Viktor Juschtschenko gewonnen. Na gut, da gab es keinen „Maidan“, keine Revolution, und niemand hatte die anderen zu etwas aufgehetzt.

Die nächste Präsidentschaftswahl hat Viktor Janukowitsch gewonnen. Das war ein sauberer Sieg, und niemand stellte ihn infrage. Dann begann Janukowitsch 2013 (oder vielleicht sogar noch etwas früher) Verhandlungen über Assoziation mit der Europäischen Union – das wurde bekannt. So etwas kann man unmöglich verbergen. Unsere Experten erklärten ihren ukrainischen Kollegen, dass wenn sie ein Abkommen mit der EU abschließen sollten, müssten sie für viele Waren Nulltarife einführen. Und die Ukraine hatte ohnehin Nulltarife mit Russland, denn in der EU gilt ja ein Freihandelsraum. Und gegenüber der EU haben wir Schutzzölle, die bei unserem WTO-Beitritt vereinbart worden waren. Also könnte eine Situation entstehen, wenn europäische Waren frei in die Ukraine geraten könnten. Und da es zwischen der Ukraine und Russland keine Zollgrenze gibt, müssten wir die Grenze schließen.

Präsident Putin hat der EU-Kommission, an deren Spitze damals Jose Manuel Barroso stand, sogar vorgeschlagen, zu dritt zusammenzukommen: EU, Russland  und die Ukraine – und uns zu überlegen, wie wir diese Kontroversen regeln können, damit niemand wirklich leiden müsste. Barroso sagte uns, es gehe euch nichts an, wir besprechen nicht euren Handel mit Kanada, macht also, was Ihr wollt.

Dann hat Viktor Janukowitsch um eine Verschiebung der Unterzeichnung dieses Assoziierungsabkommens gebeten, weil er mehr Zeit brauchte, um zu verstehen, wie diese Probleme am besten zu überwinden wären. Das wurde zum Anlass für den „Maidan“. Er wurde gut vorbereitet: dort wurden ja Hunderte identische Zelte aufgestellt – eines Modells, derselben Farbe usw. Dieser Staatsstreich hat im Februar 2014 seinen Höhepunkt erreicht, als Deutschland, Frankreich und Polen als Vermittler bei den Verhandlungen zwischen dem legitimen Präsidenten und der Opposition agierten. So begann damals alles.

Sie haben eine Vereinbarung getroffen, die aber schon am nächsten Morgen verletzt wurde, als die Opposition erklärte, dass sie jetzt die Macht wäre. Wenn sie das Abkommen erfüllt hätte, das mithilfe der Deutschen, Franzosen und Polen getroffen worden war, dann wäre die Ukraine jetzt dort gewesen, wo sie wollte – an den Grenzen von 1991, und die Krim würde ihr gehören. Aber sie wollten nicht abwarten, denn dann müssten sie noch fünf Monate auf die vorverschobene Wahl warten, die sie gewinnen würden. Denn ukrainische Wähler waren ja von der USAID sehr intensiv bearbeitet worden. Die Zahlen, die jetzt gerade auftauchen, die Präsident Trump im Kongress bekanntgegeben hat... Victoria Nuland sagte nach diesem Machtsturz, sie hätten vieles für den Sieg der Demokratie in der Ukraine getan. Sie meinte zu dieser konkreten Revolution, dass sie fünf Milliarden Dollar dafür ausgegeben hätten.

Dann gab es die Minsker Vereinbarungen. Wenn die Ukraine sie umgesetzt hätte, dann wäre sie auch innerhalb der Grenzen von 1991 gewesen, allerdings ohne die Krim. Denn die Krim wurde während der Minsker Verhandlungen nie erwähnt. Alle verstanden, dass es eine saubere und faire Abstimmung des Volkes gewesen war. Da gab es Hunderte westliche Beobachter, die zwar keinen offiziellen Status hatten, aber Parlamentsmitglieder waren.

Im April 2022 sagte der französische Präsident Emmanuel Macron in Istanbul, Präsident Putin hätte versucht, Selenski etwas aufzudrängen. Das war eine weitere Lüge Macrons, denn das Dokument, das von uns und den Ukrainern paraphiert wurde, war von der ukrainischen Seite vorbereitet worden. Wir haben es einfach akzeptiert. Es war ziemlich geradlinig: keine Nato, keine Militärstützpunkte, keine Manöver. Statt der Nato sollten die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und zudem Deutschland und die Türkei als Garanten auftreten. Und auch für andere Länder waren die Türen offen, die als Garanten handeln wollten. Diese Garantien galten nicht für die Krim und den Teil der Donbass-Region, die damals von Russland kontrolliert wurde. Die Ukrainer haben diese Prinzipien paraphiert – das war ihre Entscheidung. Dann aber hat der damalige britische Premier Boris Johnson den Ukrainern verboten, das Abkommen zu unterzeichnen. Sie sollten weiter kämpfen. Genauso wie jetzt, wenn der Chef des deutschen Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, sagt, sie sollten bis 2029 nicht anhalten. Vielleicht wollen sie einfach länger als Donald Trump an der Macht bleiben.

Also wenn die Ukrainer mit uns kooperiert und ihre eigene Initiative umgesetzt hätten, dann würden sie jetzt innerhalb der Grenzen von 1991 außer der Krim und eines Teils der Donbass-Region leben.

Jedes Mal, wenn sie lügen, verlieren sie. Dieser Prozess geht weiter.

Frage: Man sagt, Sie wären der Klemens von Metternich der heutigen Epoche. Aber ich denke, das ist nicht ganz richtig. Klemens von Metternich war eher der Sergej Lawrow von damals.

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