Interview der japanischen Zeitung Nikkei mit dem russischen Außenminister S. W. Lawrow, 27. Januar 2012
Frage: Wie bewerten Sie die derzeitigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Japan und was ist der optimale Weg für ihre Weiterentwicklung?
Antwort: Die Dynamik der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Japan in den letzten Jahren ist insgesamt ziemlich beeindruckend. Der Außenhandelsumsatz, auf den sich die Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise negativ ausgewirkt haben, erholt sich stark – 2011 betrug das Wachstum des gemeinsamen Handels ungefähr 30%. Vorläufigen Zahlen zufolge haben wir im vergangenen Jahr beinahe das Rekordniveau von 2008 erreicht, nämlich 29,8 Mrd. US-Dollar. Möglicherweise haben wir dieses Niveau sogar überschritten.
Das Gesamtvolumen der japanischen Investitionen in die russische Wirtschaft hat kürzlich 10 Mrd. US-Dollar überschritten. Heute ist der Komplex fossile Energie das wichtigste strategische Gebiet der Zusammenarbeit. Es werden große gemeinsame Erdöl- und Erdgasprojekte wie Sachalin-1 (der Anteil japanischer Unternehmen beträgt 30%) und Sachalin-2 (22,5 %) verwirklicht, im Rahmen dessen das erste Werk Russlands zur Herstellung von Flüssiggas erfolgreich seinen Dienst verrichtet. Die Produktion dieses Werks stellt fast 9% des Gasimports Japans. Der Bau eines weiteren Werks zur Verflüssigung von Erdgas (mit einer Kapazität von 10 Mio. Tonnen im Jahr) sowie eines gaschemischen Komplexes ist in Planung. Die Produktion dieser Werke, die im Gebiet Wladiwostok gebaut werden sollen, wird nach Japan und in andere Länder der asiatisch-pazifischen Region geliefert, was zweifellos die Energiesicherheit der Region deutlich festigt.
Größte Automobilhersteller der Welt, wie Toyota, Nissan und Mitsubishi haben Montagewerke in Russland errichtet. Auch das Unternehmen Komatsu, ein angesehener Marktführer in der Herstellung von Bautechnik, besitzt in unserem Land Werke. Auch andere japanische Unternehmen sind im Anmarsch, was, unserer Meinung nach, von der Investitionsattraktivität des russischen Marktes und seiner großen Möglichkeiten zeugt.
Wenn man außerdem solche Faktoren, wie die geografische Nähe Russlands und Japans, die Komplementarität unserer Wirtschaften, das in beiden Ländern vorhandene große intellektuelle Potenzial, die sehr fortschrittliche Vorarbeit in Wissenschaft und Technik sowie die führende Position Japans in vielen Hightech-Bereichen berücksichtigt, wird klar, dass die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Japan bei Weitem nicht ausgeschöpft sind.
Jetzt, da die Wirtschaften der westlichen Industrienationen schwierige Zeiten durchleben, müssen die zwei großen asiatisch-pazifischen Mächte Russland und Japan aktiver die für beide Seiten vorteilhafte wirtschaftliche Zusammenarbeit weiterentwickeln. Am aussichtsreichsten gilt hier eine Zusammenarbeit im Bereich der Modernisierung und Innovationen. Einen neuen Anreiz für die Ausweitung dieser Kooperation soll das Inkrafttreten des russisch-japanischen Abkommens über die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung von Atomenergie vom 12. Mai 2009 geben, das kürzlich vom japanischen Parlament ratifiziert wurde.
Wir schätzen das Interesse der japanischen Geschäftskreise an einer Teilnahme an der Tätigkeit des Innovationszentrums Skolkowo sehr. Eine wichtige Rolle spielt der russisch-japanische Konsultationsrat für die Modernisierung der Wirtschaft. Laut den Ergebnissen der zweiten Sitzung des Rates im September letzten Jahres wurde in Moskau eine ganze Reihe an aussichtsreichen Investitionsprojekten ausgewählt.
Wir spüren ein wachsendes Interesse der japanischen Geschäftsgemeinschaft an einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit Russland. Dieselbe Einstellung haben die russischen Geschäftsleute. Die Regierung Russlands wird ihrerseits auch in Zukunft alles Mögliche tun, damit die Geschäftskreise unserer Länder eine effiziente Zusammenarbeit in einer von Stabilität und Vorhersehbarkeit gekennzeichneten Umgebung entwickeln können.
Frage: Wie geht es mit dem Dialog über die Möglichkeiten einer gemeinsamen wirtschaftlichen Tätigkeit auf den Südkurilen voran, der auf einem Treffen der Außenminister Russlands und Japans im Februar 2011 koordiniert wurde. Welche Position vertritt Russland bei der Förderung dieser Zusammenarbeit? Werden konkrete gemeinsame Projekte diskutiert?
Antwort: Eine mögliche gemeinsame wirtschaftliche Tätigkeit auf den Südkurilen mit Japan wird von uns als Ergänzung der eigenen Bemühungen, einen sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung in dieser Region Russlands zu erreichen, angesehen. In unserem Land wurde ein föderales Zielprogramm zur Erhöhung des Lebensniveaus der russischen Bürger, die auf diesen Inseln leben, verabschiedet.
Als aussichtsreiche Bereiche der russisch-japanischen Zusammenarbeit zählen wir die Fischverarbeitung und die Optimierung der fischwirtschaftlichen Infrastruktur, die geothermische Energie sowie den Tourismus. Ich denke, dass in diesen Bereichen interessante gemeinsame Projekte verwirklicht werden können.
Wichtig ist allerdings, ein vollständiges gegenseitiges Verständnis bei einem prinzipiellen Problem zu erzielen, nämlich dem, dass die gemeinsame russisch-japanische wirtschaftliche Tätigkeit auf den Südkurilen im Rahmen der russischen Gesetzgebung vonstattengehen soll, die große Möglichkeiten für eine Tätigkeit ausländischer Unternehmen überall in Russland bietet, unter anderem auf den Inseln, von denen hier die Rede ist. Ich möchte dieses Thema in Tokio mit dem japanischen Außenminister K. Gemba besprechen.
Frage: Was kann man für eine Verbesserung der russisch-japanischen Beziehungen in allen Bereichen unternehmen (inklusive der Lösung der Frage um das Territorium), die nach dem Südkurilen-Besuch des Präsidenten D. A. Medwedew eine Zeit der Abkühlung durchlebten?
Antwort: Wenn es eine gewisse Abkühlung der Atmosphäre bei den russisch-japanischen Beziehungen gab, so war das absolut nicht unser Verschulden. Das Motiv sollte in der überflüssigen emotionalen Reaktion bestimmter politischer Kreise Japans auf den Südkurilen-Besuch russischer Spitzenpolitiker gesucht werden. Das Oberhaupt eines souveränen Staates hat das volle Recht, jede beliebige Region seines Landes zu besuchen und dieses Recht anzuzweifeln ist zumindest kurzsichtig.
Glücklicherweise liegt der von Ihnen erwähnte Zeitabschnitt bereits hinter uns. Durch die russisch-japanischen Treffen auf höchster Ebene in Deauville im Mai 2011 und in Honolulu im November 2011 gelang es nicht nur, dem Ausbruch unnötiger öffentlicher Polemik ein Ende zu setzen, sondern wir haben auch ein inhaltsvolles, konstruktives Programm für ein gemeinsames Handeln zur Intensivierung der russisch-japanischen Beziehungen ins Auge gefasst. Die Rede ist von einer Zusammenarbeit in Handel und Wirtschaft mit Schwerpunkt auf die Modernisierung der Wirtschaft, von der Ausweitung der russisch-japanischen Zusammenarbeit bei der Lösung aktueller internationaler Probleme, vor allem in der asiatisch-pazifischen Region, und von der Erweiterung von kulturellen und humanistischen Austauschprogrammen, in erster Linie der Durchführung großer jährlicher Festspiele der russischen Kultur in Japan und entsprechender japanischer Veranstaltungen in unserem Land.
Für eine weitere Verbesserung der russisch-japanischen Beziehungen wäre es hilfreich, die offensichtliche Tatsache zu verstehen, dass Russland und Japan - zwei große Nachbarländer - objektiv an einer weitgreifenden allmählichen Entwicklung der bilateralen Beziehungen interessiert sind. Eine solche Entwicklung soll helfen, die vor beiden Ländern stehenden sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben zu lösen und ihre Positionen in der internationalen Arena zu festigen. Entsprechend sollten die Abweichungen bei einzelnen Fragen der Tagesordnungen einer aktiven Ausweitung der praktischen Zusammenarbeit nicht stören.
Wenn beide Seiten von diesem Axiom ausgehen würden, wäre der Dialog über ungelöste Fragen beider Seiten wahrscheinlich produktiver.
Frage: Wie sehen die Pläne Russlands zur Ausweitung der Beziehungen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region aus? Welche Rolle spielt dabei das bevorstehende Gipfeltreffen der APEC in Wladiwostok?
Antwort: Die Ausweitung der Beziehungen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region ist eine der größten Prioritäten der Außenpolitik Russlands. Ohne unser Land wären gemeinsame Bemühungen zur Gewährleistung von Frieden und Stabilität in der Region, zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und bei anderen Herausforderungen der Gegenwart genauso unvorstellbar, wie eine Zusammenarbeit in Ausnahmesituationen und die Erweiterung des Dialogs zwischen den Völkern. Wir leisten einen gewichtigen Beitrag bei der Lösung von Problemen der asiatisch-pazifischen Region im Bereich der Energie, des Transports, der Wissenschaft und Technik sowie des Umweltschutzes.
Bei der Lösung dieser und anderer aktueller Probleme rechnen wir mit einer weiteren Ausweitung der Zusammenarbeit mit Japan im Rahmen verschiedener multilateraler Foren, die in der Region stattfinden. Dies sind in erster Linie die Ostasiengipfel, das regionale ASEAN-Forum für Sicherheit, die Konferenz der ASEAN-Verteidigungsminister und der Dialogpartner und natürlich die APEC. Sie stellen große Möglichkeiten zur Vertiefung der Zusammenarbeit in Ausnahmesituationen, bei der Stabilität der Energielieferungen und bei der Meeressicherheit dar, wo Russlands Rolle äußerst gefragt ist. Wir sind bereit, auch andere aktuelle Fragen zur Entwicklung der Region zu besprechen.
Eines der wichtigsten Werkzeuge zur Vertiefung der Integration in der asiatisch-pazifischen Region stellt der Vorsitz Russlands im APEC-Forum in diesem Jahr dar. Wir werden die Nachfolge antreten und uns mit den Aufgaben beschäftigen, mit denen sich die vorsitzenden Länder vor uns, unter anderem auch Japan, befassten und auch in vollem Umfang eigene Prioritäten verwirklichen. Diese sind gut bekannt. Es handelt sich um die weitere Liberalisierung der Handels- und Investitionstätigkeit sowie die Vertiefung der wirtschaftlichen Integration in der Region, die Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit, die Optimierung der Transport- und Logistiksysteme und die Zusammenarbeit zur Förderung von Innovationen.
Insgesamt arbeitet Russland bei der Diskussion der gesamten APEC-Agenda, inklusive der russischen Prioritäten, eng mit Japan zusammen. Wir bedienen uns der Erfahrung unserer japanischen Partner in der Organisation solcher Gipfel und arbeiten bei der Verwirklichung von Infrastrukturprojekten in Wladiwostok mit japanischen Unternehmen zusammen. Wir sind bereit für eine Ausweitung der Kooperation.
Frage: Ein mögliches Datum und eine Agenda für das nächste japanisch-russische Treffen auf höchster Ebene?
Antwort: Die prinzipielle Einstellung der russischen Seite bezüglich einer Erweiterung des Dialogs mit Japan in allen Formaten, auch auf höchster Ebene, ist konsequent und unverändert. Ich bin mir sicher, dass die Kontakte unserer Führungspersonen in diesem Jahr aktiv fortgeführt werden.