Ansprache des Vorsitzenden des ER-Ministerkomitees, Aussenminister Russlands Sergej Lawrow auf der Tagung des ER-Forums „Fuer die Zukunft der Demokratie“ zum Thema: „Ueber die Rolle der politischen Parteien“, Moskau, 18. Oktober 2006
Sehr geehrter Vorsitzender der Staatsduma,
Sehr geehrter Vorsitzender der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates,
Sehr geehrter ER-Generalsekretaer,
Sehr geeherte Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren,
Ich freue mich, Sie im Namen des russischen Vorsitzes im ER-Ministerkomitee in Moskau begruessen zu duerfen. Ich moechte mit Freude betonen, dass viele prominente Politiker und oeffentliche Funktionaere unserer Einladung gefolgt sind, um an diesem Schluesselforum unseres ER-Vorsitzes teilzunehmen. Das Interesse daran bestaetigt die Tatsache, dass wir ein fuer Europa wirklich aktuelles Thema gewaehlt haben. Ich bin sicher, dass Sie mit Ihrer Erfahrung in politischer und parlamentarischer Taetigkeit bei vielfaeltigen Verhaeltnissen in der nicht stabilen Welt im Verlauf der Diskussionen der bevorstehenden zwei Tage das allgemeine europaeische Wissensgut bereichern koennen, mit dem Europa in die Zukunft geht.
Probleme der Vervollkommnung von Formen der Demokratie und Buergergesellschaft, von Einfuehrung der effektiven Verwaltungsmethoden gehoeren zu Prioritaetsfragen des russischen ER-Vorsitzes. Das ist eng mit unseren anderen Prioritaeten verbunden – Festigung der nationalen Mechanismen von Menschenrechtsschutz, der Toleranz und des gegenseitigen Verstaendnisses, mit Verbesserung des Zugangs zu den Sozialrechten und Schutz der verletzbaren Bevoelkerungsgruppen. Alle diese Aufgaben haben einen langfristigen, strategischen Chrakter. Und obwohl der russische ER-Ministerkomitee-Vorsitz bald ablaeuft, werden sie bestimmt auf der Tagesordnung der exekutiven und legislativen Gewalt der Russischen Foederation bleiben.
Das neue Russland wird auch weiterhin eine offene und vorausschaubare Aussenpolitik betreiben, die eine Funktion unserer inneren Veraenderungen ist. Die Buergergesellschaft, demokratische Institute koennen sich, wie es die Geschichte zeigt, nur auf Grund der Festigung der wirtschaftssozialen Grundlagen der Gesellschaft entwickeln, und das ist nur bei stabilen Verhaeltnissen moeglich. Gerade daher haben wir und fuer einen Evolutionsweg der Entwicklung unseres Landes entschieden. Das verlangt seinerseits einen Kompromis von allen Schichten und Sozialgruppen, oder, anders gesagt, das, was man auch Gesellschaftseintracht nennt. Wir kamen in Russland nicht sofort, sondern nach vielen Proben und Fehlern zu dieser Entracht. Jemand koennte mit dem Tempo unserer Umwandlungen nicht zufrieden sein. Aber den Weg von solch tiefgreifenden, ich wuerde sagen, beispiellosen Reformen kann unser Land nur als eine einheitliche Gemeinschaft gehen. Darin besteht die Haupterrungenschaft unserer inneren Entwicklung der letzten Jahre.
Russland ist ein Teil der gegenseitig abhaengigen Welt, und ohne es ist es nicht moeglich, die Schluesselprobleme zu loesen, die vor der Menschheit stehen. Die Globalisierung verlangt eine einheitliche, kollektive Antwort der Weltgemeinschaft auf globale Herausforderungen und Gefahren.
Der Wettbewerb nimmt auch einen globalen Charakter an. Zu seinem Gegenstand werden allgemeine Werte und Entwicklungsmodelle, was keinen Platz fuer Ansprueche auf Zivilisationseinmaligkeit uebrig laesst. Darum ist es wichtig, den Dialog zwischen Zivilisationen zu vertiefen, behutsam mit der nationalen Eigenartigkeit, der kulturellen Vielfalt der Welt umzugehen, die sich auch in den unterschiedlichen politischen Systemen widerspiegelt. Ich bin fest ueberzeugt, dass die grundlegenden demokratischen Werte in jedem Land anders, mit Beruecksichtigung der nationalen Traditionen und anderer Besonderheiten realisiert werden, obwohl sie einen universellen Charakter haben. Jede Gesellschaft geht in eigenem Tempo auf diesen „Endpunkt" zu, wie es US-Praesident in seiner Rede auf der 61. UN-Vollversammlung sagte. Wie ich es nach den ersten Ergebnissen der Diskussionen auf der 61. UN-Vollversammlung beurteilen kann, bahnt das Verstaendnis dieser Realitaet immer mehr fuer sich den Weg in der Weltgemeinschaft.
Ich rufe Sie auf, sich ueber Kriterien einer „alten" oder „jungen" Demokratie Gedanken zu machen. Jemand moechte hier eine Trennlinie auf unserem Kontinent ziehen und dabei die Rechte der einen und Pflichten der anderen festlegen. Wir kennen Beispiele,wenn sogenannte stabile Demokratien sich hartnaeckig weigern, ins nationale Grundgesetz zum Beispiel den Punkt ueber eine obligatorische Einladung der internationalen Beobachter bei den Parlamentswahlen aufzunehmen. Und die Laender, die aus demokratischer Sicht zu den nicht „reifen" zaehlen, haben es schon gemacht und halten diese Ordnung strikt ein. Jedes zwiespaltige, diskriminierende Herangehen nutzt nicht – es traegt nichts zum gegeseitigen Verstaendnis in Europa bei, eher wird es untergraben dadurch es. Hier moechte ich die Gelegenheit nutzen und mich an Sie mit der Bitte wenden, die Ausarbeitung einer neuen ER-Konvention ueber die Standards von demokratischen Wahlen zu unterstuetzen. Russland hat das entsprechende Projekt angeboten und hofft auf eine konstruktive Zusammenarbeit.
Wir muessen alle die Braeuche und Traditionen voneinander respektieren. Wenn wir das Gefuehl der eigenen Fehlerlosigkeit loswerden koennen, wenn wir alles und alle nicht ueber einen Kamm scheren werden, werden viele Aufgaben der europaeischen Politik schneller und erfolgreicher geloest. Nur so ist es real moeglich, das Erbe der vergangenen Blockpolitik zu ueberwinden.
Die politischen Parteien spielen eine Schluesselrolle in jedem demokratischen Prozess. Sie sind eigentliche Vermittler zwischen den Buergern und den Staatsaemtern. Ohne Parteien ist es unmoeglich, die Interessen von verschiedenen Sozialschichten deutlich zum Ausdruck zu bringen. Das Parteiensystem ist Katalisator der Diskussionen zu den Fragen, die fuer die ganze Gesellschaft vom Interesse sind. Die Parteien, wie auch Massenmedien, bilden die Gesellschaftsmeinung, arbeiten Loesungsmodelle der Probleme aus, die vor dem Staat und der Gesellschaft stehen.
Trotz solch vielvaeltigen Funktionen und des Einflusses der Parteien stossen viele Laender Europas auf ein sinkendes Vertrauen der Bevoelkerung zur politischen Klasse, man kann auch allgemeine Verringerung vom Interesse an dem politischen Leben und besonders an der persoenlichen Beteiligung der Menschen daran feststellen. Ich glaube, die Teilnehmer unseres Forums muessen die Ursachen dieser Erscheinungen besprechen, die Diskussion darueber fortsetzen, wie es sich auf die Effektivitaet der demokratischen Institute auswirkt.
Es besteht fuer Europa eine reale Gefahr, zur „parteilich-politischen Apatie" herabzurutschen. Wir muessen alle darueber nachdenken, was man dieser Herausforderung gegenueberstellen kann. Die Natur laesst, wie bekannt, kein Vakuum zu. Und das politische Vakuum beginnt sich sofort mit Ideen zu fuellen, die manchmal nicht harmlos und gefaehrlich sind und die gesunde Gesellschaftsentwicklung stoeren. Nationalismus und Populismus, Xenophobie und Intoleranz, verschiedene Formen vom Menschenhass – das sind reale Gefahren fuer das heutige Europa. Viele europaeische Laender stossen aus bekannten demographischen, Migrations- und anderen Gruenden auf eine sich veraendernde soziale Umgebung. Die Leute fuehlen sich nicht immer sicher, politisch und im Alltag. Und wer muss es denn noch, wenn nicht die Parteien, auf diese Herausforderungen Antworten geben. Ich nehme an, man koennte diese Probleme auf dem heutigen Forum diskutieren.
Es gibt eine Reihe von anderen Fragen, ohne die die Diskussion ueber die Rolle der politischen Parteien nicht vollstaendig sein und den Forderungen der heutigen Zeit nicht entsprechen wird. Koennen wir zum Beispiel sagen, dass die Parteien alle sozialpolitische Mannigfaltigkeit des europaeischen Kontinents widerspiegeln? Oder wie ist das Verhaeltnis zwischen den „traditionellen" und den „jungen" Parteien? Koennen unsere politischen Systeme adequat die Impulse „von unten" aufnehmen? Kann man die Regeln des Parteilebens fuer die den modernen Standards und Forderungen, den Normen der politischen Etik, der Transparenz entsprechend halten? Inwieweit sind die Parteien als politische Institute den Buergern Rechenschaft pflichtig? Die Liste von solchen Fragen koennte weiter fortgesetzt werden. Natuerlich ist es unmoeglich, waehrend der zwei Tage Antworten auf diese nicht leichten Fragen zu geben. Aber man muss danach suchen, unter anderem durch den Erfahrungsaustausch, durch nuetzliche Erfahrungen im Bereich des Parteiaufbaus.
Der russische ER-Ministerkomitee-Vorsitz unterstuetzte die Verwandlung des Forums „Fuer die Zukunft der Demokratie" ins Instrument des regelmaessigen Meinungsaustausches ueber aktuellere Fragen der politischen Entwicklung Europas. Dieser Prozess begann in Warschau im vorigen Jahr, jetzt werden, wie ich glaube, andere Hauptstaedte – Stockholm und Madrid - den Staffelstab von Moskau uebernehmen. Wir hoffen, dass die Ergebnisse und Empfehlungen des Moskauer Forums auf weiteren Etappen in Betracht gezogen werden. Ich bin ueberzeugt, dass es uns auf solche Weise gelingen wird, den Grundstein einer wichtigen Dimension der Zusammenarbeit im Rahmen des Europarates legen werden, die das Grundziel der Schaffung des Europas ohne Trennlinien erreichen hilft.
In einigen Minuten werden wir die Ansparache des ER-Generalsekretaers Herrn Tarry Davice und des Vorsitzenden der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Herrn René van der Linden hoeren. Bevor ich ihnen das Wort gebe, moche ich ihnen unseren Dank fuer Unterstuetzung des russischen Vorsitzes im ER-Ministerkomitee aussprechen, unter anderem bei der Organisation des heutigen Forums. Ich hoffe, es wird zu unserem allgemeinen Erfolg beitragen.
Danke fuer die Aufmerksamkeit.
18. Oktober 2006