Rede des Ständigen Vertreters Russlands bei der OSZE, Andrej Kelin, in einer Sitzung des Ständigen OSZE-Rats am 29. Januar 2015 in Wien
Zur Situation in der Ukraine und zur Nichterfüllung
der Minsker Vereinbarungen durch die ukrainischen Behörden
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
wir haben im Rahmen des Ständigen Rats nach meiner Einschätzung ungefähr 70 Diskussionen zur Ukraine-Krise abgehalten. Aber nur sehr selten handelte es sich dabei um ehrliche Versuche, die wahren Gründe der aktuellen Ereignisse konstruktiv zu besprechen und gemeinsam nach Auswegen aus dieser Situation zu suchen. Auch jetzt hören wir bloße Beschuldigungen, Russland würde aggressiv handeln, wobei man in Wahrheit über die aggressiven Handlungen der ukrainischen Behörden gegenüber den eigenen Bürgern im Donezbecken sprechen sollte.
Die Ereignisse der letzten Tage belegen erneut das, wovor wir unsere Kollegen, unter anderem im Ständigen OSZE-Rat, bereits gewarnt hatten: Kiew hat den Ende Dezember verkündeten Waffenstillstand im Konfliktraum für den Ausbau seines Offensivpotenzials und die Vorbereitung eines neuen Versuchs zur gewaltsamen „Regelung" der Situation genutzt.
Kiew bereitete sich die ganze Zeit auf den Krieg vor, ohne ein Hehl daraus zu machen. Zur Trennlinie wurden zusätzliche Truppen samt Waffen, darunter schweren Rüstungen, verlegt. Es wurden neue Mobilmachungswellen ausgerufen. Die Behörden hegen Pläne zur Militarisierung der Wirtschaft, die aber eine unerträgliche Last für sie sein wird.
Das Ergebnis sehen wir jetzt, wenn die ukrainischen bewaffneten Strukturen beträchtliche Kräfte einsetzen, immer intensiver die Städte und Dörfer beschießen und diese Verbrechen, bei denen Greise, Frauen und Kinder sterben, zynisch als „das Recht auf Selbstverteidigung" bezeichnen. Nach Angaben des Gemeinsamen Zentrums für Kontrolle und Koordinierung wurden allein vom 23. bis 27. Januar 29 friedliche Einwohner getötet und 57 verletzt. Am 27. Januar wurde Lugansk samt Vororten einem Raketenangriff der ukrainischen bewaffneten Strukturen ausgesetzt. Beschossen wurden auch die Donezker Stadtbezirke Kiewski, Kuibyschewski und Petrowski sowie die Städte Gorlowka und Jenakijewo. Seit gestern wurde die Zivilbevölkerung 68 Mal unter Beschuss genommen. Weder in Washington noch in London geschweige denn in Ottawa forderte jemand von den ukrainischen Behörden, diese tödlichen Handlungen zu stoppen.
Vor diesem Hintergrund sehen wir in Kiew keine Anzeichen dafür, dass die Kriegshandlungen eingestellt werden und ein Dialog mit dem nichteinverstandenen Teil der Bevölkerung in der Ostukraine nebst politischer Regelung und einer allumfassenden Verfassungsreform beginnen könnte, wozu viele europäische Länder, der UN-Sicherheitsrat, der EU-Rat und andere internationale Organisationen aufrufen.
Die Logik der Kiewer Behörden ist im Grunde verständlich: Falls statt der Kriegshandlungen der Regelungsprozess beginnen würde, könnten sie nicht mehr vom Westen Geld und Waffen sowie Druck auf Russland fordern, damit es nachgiebig wird. Eben darauf lassen sich das immer lauter werdende Geschrei von der Aggression und die täglich steigenden Zahlen der sich angeblich in der Ukraine befindlichen russischen Truppen zurückführen. Nicht zu übersehen ist auch, dass Kiew einzelne tragische Episoden der letzten Tage bewusst ausnutzt, um seine Bitten und Forderungen zu bekräftigen – wie geschehen während der jüngsten Sitzung der Ukraine-Nato-Kommission und auf dem Weltwirtschaftsforums in Davos. So wird das wahrscheinlich auch in der heutigen Sitzung des EU-Rats sein.
Ich muss abermals darauf hinweisen, dass Kiew nur eine der insgesamt zwölf Bestimmungen des Minsker Protokolls immer wieder erwähnt: die über die internationale Überwachung des Grenzraums. Die Umsetzung aller anderen Verpflichtungen, darunter zur Verabschiedung von Gesetzen zum Sonderstatus der Region, zur Amnestie, zur Verbesserung der humanitären Situation im Donezbecken und dessen Wiederbelebung wird immer wieder „vergessen".
Nun zum Thema Donezbecken. Die Kiewer Behörden ergreifen immer neue Maßnahmen zur Strangulation der Einwohner der Donbass-Region: Faktisch handelt es sich um eine absolute Blockade. Neben der Einstellung der Auszahlung von Sozialgeldern, auf die die Bevölkerung ein Recht hat, wird die Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern blockiert. Im Grunde gibt es nur einen Versorgungsweg, und zwar humanitäre Hilfe aus Russland. Aber sie reicht nicht aus, denn die Infrastruktur wird immer weiter zerstört: Krankenhäuser, Wasser- und Stromversorgungsobjekte. Die humanitären Agenturen der UNO, „Ärzte ohne Grenzen" und andere Nichtregierungsorganisationen schlagen Alarm und warnen vor einer humanitären Katastrophe. Wir wollen eine klare Antwort auf die einfache Frage bekommen: Hält man in Kiew das Donezbecken für einen Teil der Ukraine oder nicht? Wenn nicht, dann wird uns Vieles klar.
Vorläufig ist eines offensichtlich: Die ukrainischen Behörden bemühen sich um untragbare Bedingungen für die Bevölkerung der Territorien, die sie nicht kontrollieren können. Die Zahl der Flüchtlinge, die Ende des vorigen Jahres allmählich geringer wurde, ist jetzt wieder gestiegen. Viele von ihnen fliehen nach Russland.
Dabei verstehen immer mehr Menschen in der Ukraine, wohin sie von ihren kriegsbesessenen Führern getrieben werden, und weigern sich, Verbrechen gegen ihre Mitbürger zu begehen. Laut verschiedenen, darunter ukrainischen, Quellen gibt es unter den Menschen, die aus der Ukraine flüchten, immer mehr Männer im wehrpflichtigen Alter, die den neuen Mobilmachungswellen entgehen wollen.
Angesichts dessen wenden wir uns an die Vertreter der Staaten, die die ukrainische Führung beeinflussen, vor allem Washington. Es ist an der Zeit, aufzuhören, die ukrainische „Kriegspartei", die dortigen „Falken" zu fördern und ihre unmenschlichen Taten zu vertuschen. Es ist nicht hinnehmbar, sie zu weiteren Kriegshandlungen im Osten der Ukraine zu provozieren. Bei einer solchen Entwicklung der Situation kann es nur ein Ergebnis geben: eine große Katastrophe.
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
wir neigen zu einer ganz anderen Vorgehensweise: Trotz der gesamten Schwere der Situation sind wir überzeugt, dass die Förderung des Friedens und der Aussöhnung in der Ukraine durchaus machbar ist. Dafür ist ein allumfassender nationaler Dialog erforderlich. Es ist offensichtlich, dass die Rechte und Interessen aller Regionen und Bürger absolut garantiert werden müssen. Wir plädieren für die Fortsetzung der Arbeit im Rahmen des Minsker Prozesses, deren wichtigsten Bestandteil direkte Kontakte zwischen Kiew auf der einen Seite und Donezk und Lugansk auf der anderen Seite ausmachen. In diesem Fall sind nicht konkrete Personalien wichtig, sondern ihre Vollmachten sowie ihre Fähigkeit, die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen zu übernehmen.
Wir hoffen, dass die bei den Vorgesprächen in Donezk begonnene Debatte eine Fortsetzung haben wird, unter anderem zu Themen wie Feuereinstellung, der Abzug von Artilleriewaffen und Raketensystemen von der Trennlinie, die Festlegung der Trennlinie und der Gefangenenaustausch.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.