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Rede und Antworten des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, während der Online-Session „Russland und die Post-Covid-Welt“ im Rahmen des internationalen Forums „Primakow-Lesungen“ am 10. Juli 2020 in Moskau

1055-10-07-2020

 

Zuallererst möchte ich die Dankbarkeit für die Möglichkeit ausdrücken, erneut bei den Primakow-Lesungen aufzutreten. Das ist eine junge, doch eine der angesehensten Diskussionsplattformen zur internationalen Problematik. Leider treffen wir uns nicht im Präsenz-Format wegen der Coronavirus-Infektion, doch moderne Technologien ermöglichen es, den Terminplan einzuhalten. Ich war sehr zufrieden, dass meine Kollegen an den früheren Sitzungen der jetzigen „Lesungen“ teilnahmen. Meines Erachtens war sie laut ihren Einschätzungen nützlich.

Ich werde nicht darüber sprechen, welche Folgen Coronavirus bereits mit sich gebracht hat und für alle Bereiche unseres Lebens noch bringen wird. Sie sind sowohl in der Wirtschaft, als auch in Kontakten zwischen den Menschen zu spüren, beginnend mit offiziellen Besuchen und Verhandlungen bis zu humanitären, kulturellen und Bildungsaustauschen. Die Einschätzungen stimmen vor allem darin überein, dass die Rückkehr zu einem normalen Leben viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Niemand weiß genau, wie lange das dauern wird, und niemand weiß, wie das normale Leben aussehen wird. Alle sind sich darin einig, dass gewisse Veränderungen unvermeidlich folgen werden.

 Ich würde erwähnen, dass auch unser System des außenpolitischen Dienstes mit ernsthaften Prüfungen konfrontiert. Im zentralen Apparat und in unseren Vertretungen in den Regionen, behördlichen Unternehmen tauchte die Krankheit auf, doch Gott sei Dank in einem nicht sehr großen Ausmaß und nicht sehr ernsthaft. In einigen unseren ausländischen Vertretungen gibt es auch Menschen, die die Folgen der Pandemie erlebten. Alle ohne Ausnahme unseren ausländischen Einrichtungen arbeiteten an Hilfen für russische Staatsbürger, die sich im Ausland in einer Periode erwiesen, als die Grenzen geschlossen wurden. Zusammen mit anderen Teilnehmern des Operativen Stabs, vor allem Verkehrsministerium, Rosawiazija, Rospotrebnadsor, Kommunikationsministerium, befassten wir uns zunächst mit der Bildung der Listen. Das ist eine sehr aufwendige Arbeit, die mit zahlreichen Fehlern (selten bewusster, doch öfter unbewusster) und ihrer Korrektur verbunden ist. Parallel lief die Arbeit zur Zahlung der Tagesgelder an jene, die sich in dieser Situation ohne Geldmittel erwiesen. Ein Großteil dieser Arbeit wurde bereits erledigt, obwohl es natürlich noch Interessierte gibt, die buchstäblich in den letzten Tagen auftauchten. Bei der Analyse der Lage in den Ländern, in den sie sich aufhalten, beschließen Menschen wohl, dass es angesichts der nicht eindeutigen Aussichten des Ausgangs dieser Geschichte besser wäre, nach Hause zurückzukehren.

Was andere Aspekte des Einflusses der Pandemie auf unsere Arbeit, unsere Berufspflichten betrifft, spitzte die Infektion alle vorhandenen Herausforderungen und Drohungen zu. Sie verschwanden nicht, darunter der internationale Terrorismus. Wie sie wissen, gibt es bereits Spekulationen, dass Terroristen überlegen, wie sie den Stamm dieses Virus nutzen sollen bzw. irgendwelche neue Stämme schaffen sollen, um ihre böswillige Ziele zu erreichen. Drogen verschwanden nicht, die Cyberkriminalität, Umwelt, Klima u.a., auch natürlich zahlreiche Konflikte in verschiedenen Regionen der Welt. Das alles überschneidet sich mit der Spezifik der Administration von Donald Trump und ihrem Kurs auf eine bewusste Untergrabung aller ohne Ausnahme völkerrechtlichen Mechanismen der Rüstungskontrolle und Kooperation in der internationalen Arena (Beispiele vom UNESCO, WHO, UN-Menschenrechtsrat u.a.).

Wir verfolgen das natürlich aufmerksam und analysieren. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass man nur mit gemeinsamer Arbeit auf Grundlage der Prinzipien der UN-Charta, Respekt der Prärogativen des UN-Sicherheitsrats, via Mobilmachung der Vereinigungen, die auf Prinzipien des Konsens arbeiten, wie G20, BRICS, SOZ, Vereinigungen im postsowjetischen Raum, Beschlüsse erreichen kann, die nachhaltig sein und die Regelung verschiedener Krisen, Konflikten und Problemlösung im Interesse aller Staaten gerade auf Grundlage der Berücksichtigung der Besorgnisse von allen ermöglichen werden. Leider sind nicht alle unter Bedingungen der Pandemie bereit, gemeinsam vorzugehen, nicht zu gemeinsamen Schritten und Herangehensweisen bereit, es sind die Versuche zu erkennen, gemeinnützige Interessen zu fördern, diese Krise zu nutzen, um die unerwünschten Regimes auch weiter zu ersticken. Der Aufruf des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres und UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet wurden absolut ignoriert, dass die einseitigen Sanktionen zumindest für einige Zeit gestoppt werden sollten, die die Lieferung der medizinischen und anderen humanitären Waren, anderer Bedarfsgüter in entsprechende Länder verhindern. In dieser Reihe sind auch die Versuche, auf dem Höhepunkt der Pandemie, wenn alle daran denken sollen, wie man medizinischen Fachkräften, Ärzten, Virologen helfen soll, die Verantwortlichen für die Ausbreitung dieser Infektion zu bestimmen. Sie alle wissen sehr gut, was ich meine.

Wie vor 75 Jahren, als der Sieg gegen einen gemeinsamen Feind nur durch dein Zusammenkommen und die Überwindung der ideologischen Widersprüche gesichert wurde, müssen wir auch heute begreifen, dass man diese Fragen nur gemeinsam lösen kann. Ich bin sicher, dass wir über das Schicksal der WHO noch sprechen werden. Wir treten dafür ein, alles auf Grundlage der Prinzipien der UN-Charta zu lösen, die die Plattform der kollektiven Sicherheit bildet.

Unsere westlichen Kollegen, wie ich darüber schon mehrmals sprach, versuchen jetzt aktiv, in den diplomatischen, politischen und praktischen Bereich das Konzept der „auf Regeln ruhenden Weltordnung“ zu implementieren. Das ist nicht das Völkerrecht, sondern etwas anderes (wir können darüber ebenfalls ausführlicher während der Diskussion sprechen). Das ist der eindeutige Versuch, die Dominanz zurückzugewinnen, die der historische Westen fast seit 500 Jahren genoss. Das ist der Versuch, der die Formen der Einberufung der „Interessengruppen“, verschiedener Partnerschaften, wo bequeme Länder eingeladen werden, die entweder die Versuche der einseitigen Herangehensweisen zu internationalen Angelegenheiten teilen, oder dem Druck folgen werden, und sich diesen Initiativen anschließen, bekommt. Da werden nicht alle gerufen. Jene, die eine eigene Position zu Sachen haben und bereit sind, sie zu verteidigen, bleiben in der Seite. Und dann, wenn in einem engen Kreis ein Konzept gebildet wird – zum Problem der Chemiewaffen, oder ein Versuch, einen Club der Ausgewählten zu schaffen, die darüber entscheiden werden, wer schuld an der Verletzung der Cybersicherheit ist, werden sie das als universell anwendbare Normen präsentieren. Wir beobachten das alles. Das sind sehr ernsthafte Probleme.

Ich möchte meine Einführungsrede abschließen. Unser Hauptziel bleibt weiterhin der Schutz der nationalen Interessen, die Schaffung von maximal günstigen äußeren Bedingungen für die Entwicklung des Landes. Wie Sie sehen konnten, schlagen wir Ideen vor, die vereinigen. Die aktuellste davon ist jetzt die Einberufung des Gipfels der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Die Arbeit erfolgt ziemlich intensiv. Jetzt konzentrieren wir uns auf dem Inhaltsteil dieser Veranstaltung, weil er natürlich die bestimmende Bedeutung haben wird.

Alle Schwierigkeiten, die sich jetzt in den internationalen Beziehungen zeigen, erhöhen die Bedeutung dieser Diskussionen, des Beitrags der Expertengemeinschaft, der akademischen, politischen Kreise zu den Anstrengungen zur Analyse der Situation, Aufbau der vernünftigen realistischen Prognosen. Da sollte man sich an die Situationsanalyse erinnern, die Jewgeni Primakow in unser außenpolitisches und politologisches Leben aktiv implementierte. Wir wissen sehr hoch zu schätzen, dass die Teilnehmer und Organisatoren der Primakow-Lesungen uns immer helfen, ein reicheres Bild der Ideen zu haben, von denen wir jene wählen, die dann dem Präsidenten zur Bestimmung unseres Kurses in einer jeweiligen Lage vorgelegt werden. 

Frage: Vor fünf Jahren hatten wir in einer globalen strategischen Prognose des Internationalen Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen vermutet, dass eines von vier Szenarien der künftigen Weltordnung eine neue Bipolarität werden könnte. Damals bildete die relative Dynamik der gesamten Stärke Chinas und der USA die Basis dieser Hypothese. Die Pandemie bestätigte diese Hypothese in vielen Hinsichten. Natürlich entsteht eine andere als im 20. Jahrhundert asymmetrische Bipolarität, wenn die strategische Parität zwischen Russland und den USA herrscht und die wirtschaftliche zwischen China und den USA.

Glauben Sie, dass der „Point of no return“ im Konflikt der USA und Chinas schon vorbei ist? Die Zuspitzung dieser Konfrontation widerspricht offensichtlich den Interessen Russlands. Könnte Russland die Rolle einer ausgleichenden Großmacht zwecks Aufrechterhaltung der Stabilität des internationalen Systems spielen, indem es sich unter anderem auf Ihre einmaligen Erfahrungen im Bereich der multilateralen Diplomatie stützen würde?

Sergej Lawrow: Ich erinnere mich noch an diese Prognose, die Sie erwähnt haben. Ich muss sagen, dass sich in diesen fünf Jahren natürlich viele Dinge verändert haben. Vor allem geht es um die Bestätigung, dass die Konfrontation bzw. Rivalität und der Führungskampf zwischen den USA und China natürlich zunimmt. Bevor ich diesen bipolaren Prozess unmittelbar erwähne, muss ich sagen, dass die wahre Situation in der Welt im Allgemeinen viel komplizierter ist. Die Welt wird immerhin immer polyzentrischer als sie früher war. Es gibt neben den USA und China ziemlich viele Akteure, ohne die man seine Interessen nur sehr schwer voranbringen kann, falls diese oder jene Hauptstadt sich dafür entscheidet, das im Alleingang zu tun. Ich denke, wie werden noch darüber reden, welche Varianten möglich wären. Ich erwähne einmal, dass sich der Dekan der Fakultät der Weltwirtschaft und Weltpolitik der Moskauer Higher School of Economics, Sergej Karaganow, vor kurzem zu diesem Thema in einem Beitrag für das Fachmagazin „Russia in Global Affairs“ geäußert hat, das von Fjodor Lukjanow herausgegeben wird.

Es ist klar, dass die ganze Vielfalt von politischen, wirtschaftlichen, militärischen, historischen, ideologischen Faktoren, die jetzt in der multipolaren Welt zutage kommen, die Jewgeni Primakow einst voraussagte, auch bei unserer praktischen Arbeit berücksichtigt werden muss. Gerade vor diesem Hintergrund und durch dieses Prisma bewerten wir die amerikanisch-chinesischen Kontroversen. Dass sie nicht in einem Vakuum existieren, wird wenigstens dadurch bestätigt, dass jede Seite möglichst viele Befürworter auf ihre Seite ziehen will, wenn es um die WHO oder um jedes andere Thema geht, das so oder so mit Washington und Peking assoziiert wird und das ihre Kontroversen bestimmt.

Das Wachstum der allgemeinen staatlichen Stärke Chinas nehmen die Amerikaner natürlich als Gefahr für ihre Ansprüche auf die globale Führung wahr – trotz aller „wenn“ und „aber“. Noch 2017 hatten die USA in ihrer Strategie der nationalen Sicherheit China neben Russland zu den größten Gefahren gezählt. Dabei wurde China damals zum ersten Mal die Priorität gegeben im Vergleich zu der Gefahr für die USA, die von Russland ausgeht.

Man warf Russland und China unmittelbar vor, dass sie den US-amerikanischen Einfluss, die Werte und das Gedeihen der USA herausfordern wollen. Es ist klar, dass die USA aktuell in diesem Kampf auf völlig schmutzige Methoden zurückgreifen. Alle sehen und verstehen das. Es werden einseitige Forderungen formuliert, die nur die Interessen der USA berücksichtigen. Falls man diese Forderungen zurückweist, wird das sofort als inakzeptabel bezeichnet, und es werden Sanktionen verhängt. Falls die Gegenseite vorschlägt, das Thema zu besprechen, dann werden bei der Besprechung sehr schnell Ultimaten gestellt – und am Ende werden wieder Sanktionen verhängt, egal ob dabei Handelskriege beginnen, ob Tarife eingeführt werden usw.

Die Vereinbarung zur ersten Phase der Handelsverhandlungen, die die Amerikaner und Chinesen im Januar vereinbaren konnten, und das, was mit dieser Vereinbarung jetzt passiert ist, ist kennzeichnend. Die US-Behörden werfen Peking nicht nur vor, es würde Arbeitsplätze für sich gewinnen, es hätte den Markt mit seinen Waren überflutet und wolle selbst keine US-amerikanischen Produkte kaufen; es würde das Projekt „One Belt – one Road“ umsetzen, dessen Ziel wäre, alle Arbeitsmechanismen der Weltwirtschaft, der Produktionskette usw. zu unterdrücken. Die Amerikaner behaupten noch, China hätte auch Informationen hinsichtlich der Corona-Infektion verheimlicht und Cyberspionage begangen. Hinzu kommt auch diese Huawei-Geschichte (dabei zwingen die Amerikaner ihre Verbündeten und auch andere Länder sehr intensiv dazu, auf jegliches Zusammenwirken mit Huawei und anderen chinesischen Digitalriesen und auch anderen Unternehmen zu verzichten, wobei chinesische High-Tech-Unternehmen von globalen Märkten verdrängt werden). China werden Expansionismus am Südchinesischen Meer, Probleme an der faktischen Kontrolllinie mit Indien, Verletzung der Menschenrechte, die Situation im Tibet bzw. im Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang, die Probleme um Taiwan und Hongkong vorgeworfen. Das alles passiert gleichzeitig. Es wird eine „Riesenwelle“ von solchen Attacken organisiert – eine Art „neunte Woge“. Ich hoffe natürlich, dass die gesunde Vernunft am Ende des Tages die Oberhand gewinnt, so dass die Situation den „Point of no return“ doch nicht passiert, den Herr Dynkin erwähnte.

Wir hoffen, dass es in den USA solche Menschen gibt, die denken, was mit der Förderung der Zuversicht der ganzen Welt und mit der Zuverlässigkeit des Dollarsystems für die ganze Welt weiter zu tun ist, wenn die Wahl und alle damit verbundenen Fragen wieder vorbei sind. Der US-Finanzminister redet inzwischen nahezu offen, dass man doch vorsichtig bleiben müsste, um eine gewisse Grenze nicht zu überschreiten, wo man ihnen einfach weglaufen könnte – und sagen, der Dollar wäre einfach untauglich, weil man ihn so unverschämt missbraucht.

Es besteht natürlich auch die Hoffnung, dass die Chinesen eine solche politische und diplomatische bzw. außenpolitische Kultur haben, die immer versucht, scharfe Situationen zu vermeiden. Aber es gibt auch sehr beunruhigende Merkmale davon, dass amerikanische und auch chinesische Offizielle trotz dieser Keime der Hoffnung, die gepflegt werden sollten, sich immer öfter persönliche Angriffe erlauben, die manchmal sehr hart sind. Das zeugt von einer hohen Spannung auf beiden Seiten. Und das ist natürlich sehr beunruhigend. Ich hoffe, dass unsere chinesischen und amerikanischen Kollegen doch noch diplomatische Methoden – Methoden der klassischen Diplomatie – auf Lager haben, so dass man persönliche Beleidigungen lassen (die Amerikaner mögen es ja, anderen alle Sünden vorzuwerfen) und am Verhandlungstisch Platz nehmen sollte – und einräumen, dass man es mit einer Großmacht zu tun hat und dass man die Interessen respektieren sollte, die nicht nur Großmächte, sondern alle Staaten der Welt haben. Die Welt sollte natürlich danach streben, auf Basis der Suche nach einer Balance dieser Interessen zu arbeiten.

Was die zweite Frage angeht, so entspricht diese Eskalation nicht unseren Interessen. Meines Erachtens widerspricht sie  keinerlei unseren Interessen, den Interessen der Europäischen Union und auch anderer Länder. Wenn wir einmal die EU nehmen, so ist der Handelsumsatz zwischen China und der EU mit dem zwischen China und den USA durchaus vergleichbar. Ich denke, man muss auch auf die Bestrebungen achten, die inzwischen in der Europäischen Union immer öfter zum Ausdruck gebracht werden, was die strategische Autonomie nicht nur im militärpolitischen  und im Sicherheitsbereich angeht, sondern auch im Handels- und Wirtschaftsbereich. Übrigens will auch die EU ihre Produktionsstätten wieder auf ihr Territorium verlegen und möglichst viele Handels- und Verteilungsketten unmittelbar kontrollieren. In diesem Punkt konkurriert sie direkt mit den Amerikanern. Es ist unwahrscheinlich, dass sie in allen Aspekten die USA unterstützen wird, wenn diese die chinesische Wirtschaft möglichst entbluten wollen, indem sie alle Prozesse, die eine aktive Entwicklung ermöglichen, auf ihr Territorium verlegen. Da wird es viele Reibungen, Spannungen und Interessenkonflikte geben.

Im Unterschied zum Jahr 2014, als die EU unter einem enorm starken Druck der USA ihre Russland-Sanktionen verhängte, lassen sich in der EU inzwischen Merkmale eines gesunden Pragmatismus uns gegenüber beobachten. Unter anderem haben die Europäer offen erklärt, dass sie die traurig bekannten „fünf Prinzipien“ von Federica Mogherini anders erwägen werden, die vor einigen Jahren zwecks Einführung der Russland-Sanktionen formuliert worden waren; noch sprechen sie von der Notwendigkeit einer Korrektur  ihrer Vorgehensweise, damit sie den Interessen der Europäischen Union möglichst entspricht.

Übrigens sprach der EU-Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, vor kurzem über die EU und China bzw. die EU und Russland und sagte auf die Frage, warum die EU keine Sanktionen gegen China wegen Hongkongs und wegen der Menschenrechte verhängte, dass Sanktionen keine Methode seien, die gegenüber China eingesetzt werden sollte. Wir fragten dann, ob Sanktionen nach Auffassung Herrn Borrells eine Methode ausmachen, die Russland gegenüber eingesetzt werden sollte. Unsere europäischen Freunde werden darüber nachdenken. Das ist keine leichte Frage.

Ich denke, dass wir und die EU an der gegenseitigen Kooperation interessiert sind, ohne dass dies jemandem schadet. Im Prinzip sind wir mit niemandem befreundet, nur um gewisse Aktionen gegen Dritte zu organisieren. Alles erfolgt auf Basis des Pragmatismus und der gegenseitigen Nützlichkeit. Ich denke, dass man in Brüssel doch die politische Kurzsichtigkeit der letzten Zeit überwinden wird. Dass man im Rahmen der Übersicht der Russland-Politik der Europäischen Union mehr Aufmerksamkeit der Analyse der realen Vorteile der Entwicklung der Beziehungen mit Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion schenken wird.

Ich sehe im Handelskrieg zwischen Washington und Peking keine Vorteile für Russland. Wir werden davon weder bei unseren Beziehungen mit der EU noch bei unseren Beziehungen mit Indien profitieren, die traditionell freundschaftlich und konjunkturunabhängig sind und aus meiner Sicht auch weiter so bleiben werden – wir haben eine „besonders privilegierte strategische Partnerschaft“ mit diesem Land. Ich sehe keinen Grund dafür, dass unsere indischen Freunde die Errungenschaften unserer Partnerschaft und ihre Perspektiven aufgeben würden.

Frage: Sie haben bereits das Thema russisch-amerikanische Beziehungen erwähnt. Natürlich hängen von ihrer Entwicklung die internationale Sicherheit und die strategische Stabilität ab. Es entsteht eine ziemlich beunruhigende Situation, weil das Regime der Rüstungskontrolle gerade eine tiefe Krise erlebt. Möglicherweise wird auch der letzte wichtigste Vertrag auf diesem Gebiet in einem halben Jahr auslaufen. Die Gründe für diese Situation gibt es jede Menge, ob geopolitische als auch technologische. Meines Erachtens muss man feststellen, dass die öffentliche Meinung heutzutage keinen Druck auf die politischen Eliten zwecks Förderung der Rüstungskontrolle ausübt, wie das während des Kalten Kriegs war. Damals gab es, wie wir wissen, Massenkundgebungen dagegen. Und jetzt wurden für die Öffentlichkeit solche Themen wie Pandemie, Klimawandel, Terrorismus zu den Prioritäten. Die Angst vor einem Atomkrieg trat in den Hintergrund. Kann man diese Situation noch wenden, oder es wäre eine neue „Kubakrise“ nötig, damit die Öffentlichkeit die Gefahr eines nuklearen Konflikts begreift und ihre Meinung dazu äußert?

Ich und meine Kollegen aus unserer wissenschaftlichen Gesellschaft haben gerade sehr viele Videokonferenzen mit unseren amerikanischen Kollegen. Sie sagten, in den USA müsste es vernünftige Menschen geben. Ich kann sagen, dass diese Konferenzen die Möglichkeit geben, eine ganze Reihe von neuen Vorschlägen zu formulieren, die für unsere Initiativen genutzt werden könnten. Natürlich informieren wir das Außenministerium, insbesondere den Vizeaußenminister Sergej Rjabkow, darüber, was hier vorgeht. Aber jetzt sollte man daran denken, dass gewisse radikale Schritte unsererseits nötig wären (möglicherweise im Zusammenhang mit dem Gipfel der fünf Vetomächte), um Bedingungen zu schaffen, die nicht nur den Zerfall des Rüstungskontrollregimes verhindern, sondern auch die Entwicklung eines neuen Systems der internationalen Sicherheit und strategischen Stabilität ermöglichen würden, das unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts wirksam wäre.

Sergej Lawrow: Ich bin mit Ihnen einverstanden. Die nuklearen Risiken sind in letzter Zeit viel größer geworden, und die Situation auf dem Gebiet der internationalen Sicherheit und strategischen Stabilität verfällt immer weiter. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Die USA wollen ihre globale Dominanz zurückerobern und den Wettbewerb gewinnen, den sie als „Rivalität der Großmächte“ bezeichnen. Sie geben den Begriff „strategische Stabilität“ auf und ersetzen ihn durch „strategische Rivalität“. Sie wollen gewinnen, und zwar um jeden Preis. Sie tragen die ganze Architektur ab, die Rüstungen kontrollierte, und wollen die Freiheit genießen, was die Wahl von Druckmitteln auf ihre geopolitischen Opponenten angeht (auch von gewaltsamen Mitteln). Sie wollen Möglichkeiten haben, auf diese Methoden überall auf der Welt zurückzugreifen. Das ist besonders beunruhigend, wenn man die jüngsten Veränderungen in den Doktrinen der militärpolitischen Führung der USA bedenkt. Dabei lässt man inzwischen Szenarien vor, wenn eine „beschränkte Verwendung von Atomwaffen“ möglich wäre. Auffallend ist übrigens, dass sie jetzt wieder uns (wie auch im Kontext mancher anderen Themen) vorwerfen, unsere Doktrin würde „beschränkte Atomwaffeneinsätze“ zulassen, und behaupten, das wäre eine „Eskalation zwecks Deeskalation“ bzw. „eine Eskalation zwecks Sieges“. Erst vor kurzem kommentierten die Amerikaner unsere doktrinären Dokumente und behaupteten, es würde dort geheime Teile geben, die solche Bestimmungen enthalten würden. Das stimmt aber nicht. Wir sehen in den USA bereits jede Menge von praktischen Programmen, die zwecks Untermauerung dieser Bestimmungen mit militärtechnischen Potenzialen umgesetzt werden. Es geht nämlich um die Entwicklung von Atomsprengköpfen geringer Stärke. US-amerikanische Experten und Offizielle reden davon ebenfalls ganz offen.

Vor dem Hintergrund all dessen beunruhigt uns besonders der zweijährige Verzicht der Amerikaner, das grundlegende Prinzip nochmals zu bestätigen, dass es im Atomkrieg keine Sieger geben kann und dieser dementsprechend niemals entfacht werden soll. Seit dem frühen Herbst 2018 liegt unser Vorschlag, der auf Papier im Sinne der Bestätigung davon gestaltet wurde, was der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten Maxim Litwinow und US-Präsident Franklin Roosevelt vereinbarten und Noten austauschten, bei der amerikanischen Seite. Wir erinnern daran regelmäßig. Es wird gesagt, dass sie diese Frage noch erörtern. Natürlich werden wir das Thema der Unzulässigkeit  des Atomkriegs und Unmöglichkeit des Sieges darin im Kontext des bevorstehenden Gipfels der „Fünf“ fortsetzen. Am Wichtigsten ist, dass die Formulierungen nicht schwächer als jene sind, die in den entsprechenden Dokumenten zwischen der Sowjetunion und den USA enthalten sind. Die Abschwächung dieser Formulierungen zeigt uns, dass die Amerikaner die kategorische Eigenschaft und Alternativlosigkeit dieses Prinzips verwischen möchten.

Bezüglich der Frage, dass Sie die Situation in der Zivilgesellschaft nicht als jene einstuften, die diesen Bedrohungen ausreichend Aufmerksamkeit widmet – damit bin ich einverstanden. Wichtig ist, diesem Problem zusätzliche Aufmerksamkeit zu widmen, mit einer verständlichen Sprache existierende Risiken zu erklären, weil technische Details nicht immer für Verständnis zugänglich sind, es ist wichtig, in welcher Form die Analyse dieses Problems den Staatsbürgern vorgelegt wird. Natürlich soll man nicht nur mit offiziellen Strukturen des Staates, sondern auch der Zivilgesellschaft selbst, ihren sich gebildeten, politisch aktiven Teil rechnen – Nichtregierungsorganisation, akademische und Expertenkreise.

Indem man diese Einschätzung unterstützt, würde ich dazu aufrufen, mit der Fortsetzung des Begreifens der Atomgefahr durch die Öffentlichkeit nicht zu übertreiben, weil es wichtig ist, nicht zu übertreiben und jenen zu helfen, die überhaupt Atomwaffen verbieten und eine Welle in einer anderen Richtung zu starten versuchen.

Der Atomwaffenverbotsvertrag widerspricht direkt dem Atomwaffensperrvertrag, stiftet Chaos, Probleme. Ich bin also sicher, dass man mit professionell vorbereiteten Menschen – wir haben von diesen mehr als irgendwo sonst, ein richtiges Gleichgewicht finden kann.

Die Stimmungen der Massen, wenn man über solche spricht, bestimmen nicht immer ein reales Leben. Als US-Präsident Donald Trump gewählt wurde, wurden die Stimmungen der Massen in vielerlei Hinsicht von den von ihm angekündigten Plänen unterstützt, seinem Aufruf, die russisch-amerikanischen Beziehungen zu normalisieren. Die Massen beruhigten sich. Niemand entfacht Rebellen zu diesem Thema.

Natürlich ist wichtig, eine direkte Arbeit mit Atommächten, ihrer Führung  fortzusetzen. Wir wollen, dass vernünftige Herangehensweisen dominieren.

Sie erwähnten, dass politologische Konsultationen zwischen Ihnen, ihren Kollegen, US-Experten laufen. Wir begrüßen das. Der Beitrag, die Einschätzungen, Informationen, die wir nach solchen Konsultationen bekommen, werden immer berücksichtigt und bestimmen in vielerlei Hinsicht das Wesen unserer Herangehensweisen, darunter die Situationen, wenn Varianten der Führung vorgelegt werden, indem man geholfen wird, bestimmte Szenarien, Vor- und Nachteile jedes von ihnen zu analysieren.

Den Gipfel der Fünf ausschließlich den Aufgaben der Rüstungs-, Abrüstungskontrolle und Nichtverbreitung zu unterordnen, das wollen sehr die USA und die Briten und Franzosen, die ihnen nachspielen. Die Chinesen sehen darin einen Versuch, die Idee der Erweiterung des Kreises der Teilnehmer der Verhandlungen über Atomwaffen mit allen möglichen Mitteln durchzusetzen. Die Position gegenüber den multilateralen Verhandlungen wurde von China mehrmals und eindeutig dargelegt. Wir respektieren diese Position. Die Amerikaner kennen sich übrigens in der Verdrehung sehr gut aus. Auch aus unseren Auftritten mit der Darlegung der Position, aus den chinesischen Erklärungen nehmen sie nur das, was sie in ihrer Arbeit nutzen wollen. Die Chinesen sagten vor kurzem, dass sie bereit sind, sich den Verhandlungen über die Kontrolle der Atomwaffen anzuschließen, sobald die USA ihre Arsenale bis auf die Größe des chinesischen Arsenals reduzieren. Einen Tag später sagte der Sondergesandte des US-Präsidenten für Rüstungskontrolle Marshall Billingsley, dass die USA die Bereitschaft Chinas begrüßen, sich den multilateralen Verhandlungen anzuschließen und laden China nach Wien ein. Ende Juli finden weitere Konsultationen auf der Expertenebene zwischen Russland und den USA zur Entwicklung des Treffens des stellvertretenden Außenministers Russlands, Sergej Rjabkow, und des Sondergesandten des US-Präsidenten für Rüstungskontrolle, Marshall Billingsley, Ende Juni, als die Amerikaner eine „Zirkusvorstellung“ mit chinesischen Flaggen organisierten, statt. Nun erklären die Amerikaner erneut öffentlich, dass sie China nach Wien einladen, und es wäre richtig, dass sich Russland zu zweit mit China trifft, Peking erklärt, was die USA von ihm wollen. Dass es unhöflich und nicht diplomatisch ist, soll wohl niemandem erklärt werden. Bei unseren Einschätzungen, wenn wir sagen, dass wir davon ausgehen, dass China seine Position selbst bestimmt, respektieren wir die Position, die von China dargelegt wurde. Ich würde betonen, dass die Amerikaner auf Papier überhaupt nichts davon legten, was sie über die Notwendigkeit des Übergangs zu einem multilateralen Format sagen. Mögen sie auf Papier das bringen, was sie meinen. Doch sie wollen das kategorisch nicht.

Wir werden bereit sein, an multilateralen Verhandlungen teilzunehmen, doch jeder soll die Beschlüsse für sich selbst und freiwillig treffen. Nur eine freiwillige Teilnahme kann effektiv sein.

Alle Einwände werden abgelehnt. „Russland unterstützt unseren Aufruf zur Aufnahme multilateraler Verhandlungen“. Wenn wir sagen, dass falls multilaterale Verhandlungen beginnen, halten wir es für notwendig, dass daran auch Großbritannien und Frankreich teilnehmen sollen, sagte der Sondergesandte des US-Präsidenten für Rüstungskontrolle Marshall Billingsley  auf die Frage über die Teilnahme von Paris und London vor einigen Tagen unverhohlen, dass es souveräne Mächte sind und sie selbstständig darüber entscheiden wollen, ob sie teilnehmen sollen oder nicht, die USA würden für sie nicht entscheiden. Und für China werden sie entscheiden und entscheiden de facto.

Also bin ich nicht gerade optimistisch hinsichtlich der Perspektiven des START-Vertrags, denn ich kenne immerhin die Gewohnheiten der aktuellen Unterhändler. Dennoch geht der Dialog mehr oder weniger weiter. Sergej Rjabkow und Marshall Billingslea  haben sich im Rahmen des Prozesses, den sie quasi betreuen, auf die Bildung von drei Arbeitsgruppen geeinigt. Vom 27. bis 30. Juli werden sie in Wien eine Sitzung der Arbeitsgruppe für Weltraum, Transparenz in den nuklearen und Waffenangelegenheiten und für nukleare Doktrinen durchführen. Wir werden es schon sehen. Wir verweigern nie Gespräche und werden unser Bestes tun, damit sie erfolgsorientiert sind.

Frage: Jetzt macht einen der wichtigsten Aspekte der russisch-amerikanischen Beziehungen, vor allem im Bereich der Rüstungskontrolle, das Problem der Verlängerung des START-Vertrags aus. Sollte bis Februar die Vereinbarung mit Washington zur Verlängerung dieses Vertrags nicht getroffen werden – wie würde dann Russland weiter vorgehen? Falls im Dialog mit Washington auf dem Gebiet Rüstungskontrolle eine solche Pause entsteht, so dass der Vertrag nicht verlängert wird – was wird dann mit dem Rüstungskontrollsystem? Wären dann künftig multilaterale Formate möglich, über die wir jetzt reden?

Sergej Lawrow: Ich gehe davon aus, dass die USA die Entscheidung zur Nichtverlängerung des Vertrags bereits getroffen haben. Die Beharrlichkeit, mit der sie von der Alternativlosigkeit der Überführung dieser Gespräche auf eine dreiseitige Ebene reden, zeugt davon, dass alles schon vorentschieden ist. Darüber hinaus werden Bedingungen gestellt, dass der Vertrag auch die modernsten russischen Waffen berücksichtigen sollte, was im Grunde nur eines bedeutet: Man will „die offene Tür stürmen“. Wir haben den Amerikanern bei den früheren Gesprächen gesagt, dass „Awangard“ und „Sarmat“ nach ihrer vollwertigen Aufstellung den Beschränkungen im Sinne des Vertrags unterliegen – solange dieser in Kraft bleibt natürlich. Was andere Systeme angeht, so sind sie neu. Sie gehören nicht in die drei Kategorien, für die der New START-Vertrag gilt. Wir wären allerdings bereit, die Gespräche darüber zu starten, dass auch solche Rüstungen, die keine klassischen aus der Sicht des New START-Vertrags sind, auch Gegenstand von Diskussionen werden – selbstverständlich im Kontext der grundsätzlichen Gespräche über absolut alle Fragen, die die strategische Stabilität so oder so beeinflussen. Das und der Raketenabwehrbereich, in dem gerade solche Dinge zu sehen sind, die die Behauptungen durchkreuzen und ihre Lügenhaftigkeit bestätigen, die in letzter Zeit verbreitet wurden, die Raketenabwehr wäre ausschließlich gegen die potenzielle Raketengefahr seitens des Irans und Nordkoreas gerichtet. Daran erinnert sich schon lange niemand mehr. Es geht nur um die Eindämmung Russlands und Chinas. Zu den anderen Faktoren gehören unter anderem hochpräzise nichtnukleare Waffen, das so genannte PGS-Programm (Prompt Global Strike), die Pläne der Amerikaner und Franzosen zur Waffenstationierung im Weltall (daraus wird auch kein Hehl gemacht), die Situation um den Atomwaffenteststopp-Vertrag usw. Wir sind bereit, über neue Rüstungen zu sprechen, aber nicht um jemandem einen Gefallen zu tun und jemands Initiativen zu befriedigen, sondern um die Gefahr für die globale Stabilität und Sicherheit wirklich zu senken.

Und dafür sollte man alle Dinge besprechen, die solche Gefahren schaffen, indem sie die Entwicklung von „Gegengiften“ provozieren, wie das mit unseren Hyperschallwaffen passierte, die nach der globalen Stationierung von US-amerikanischen Raketenabwehrsystemen entwickelt wurden.

Was konkret den New START-Vertrag angeht, so brauchen wir seine Verlängerung genauso sehr, wie die Amerikaner. Sie betrachten unsere Aufrufe zu seiner fünfjährigen Verlängerung ohne Vorbedingungen als irgendein Spiel. Sie behaupten, Russland hätte sein ganzes nukleares Arsenal modernisiert, und bei ihnen würde dieser Prozess erst beginnen, so dass Russland versuche, die Amerikaner zu „fesseln“. Das stimmt absolut nicht. Wir brauchen die Verlängerung des New START-Vertrags nicht mehr als die Amerikaner. Falls sie vehement dagegen sind, werden wir sie nicht überreden. Wir wissen, dass wir unsere Sicherheit langfristig garantieren können – auch ohne diesen Vertrag. Über unsere Handlungen im Falle des Auslaufs dieses Vertrags  müssen wir aus meiner Sicht noch nicht reden – es ist noch viel zu früh dafür. Aber wir sind auf jede Entwicklung der Situation gefasst – das ist wirklich so. Sollte der Vertrag nicht verlängert werden, gibt es verschiedene Varianten, aber sie werden auf die Fortsetzung des Dialogs mit den USA über die strategische Problematik ausgerichtet sein, über neue Instrumente der Rüstungskontrolle – in dem Kontext, in dem ich sie erwähnte: im Kontext aller Fakten, die die strategische Stabilität beeinflussen.

Was multilaterale Verhandlungen angeht, so hatten wir noch 2010, als der New START-Vertrag erst unterzeichnet wurde, gesagt, dass mit diesem Vertrag die Möglichkeiten für weitere Kürzungen im bilateralen Format erschöpft sind. Und falls man über weitere Kürzungen verhandeln will (ich unterstreiche dieses Wort), dann müsste man die Arsenale auch der anderen Atomgroßmächte berücksichtigen und schon nach anderen Diskussionsformen suchen. Es geht um Kürzungen. Und wenn es um Kontrolle geht, dann denke ich, dass das bilaterale russisch-amerikanische Format noch lange nicht erschöpft ist. Denn es wäre wohl unvernünftig und verantwortungslos gegenüber eigenen Völkern und allen Völkern der Welt, alle Arten der Kontrolle und Transparenz zu verlieren. Und die Tatsache, dass es unter den russisch-amerikanischen Arbeitsgruppen, die sich jetzt in Wien treffen werden, die Gruppe für Transparenz gibt (das ist ein umfassender Begriff, der Vertrauens- und Verifizierungsmaßnahmen vorsieht), halte ich für ein positives Signal.

Frage: Die Länder Eurasiens betrachten Russland als zentrale Stütze, die die EU mit den Ländern Asiens verbinden würde. Wie sehen Sie die Rolle Russlands in diesem Raum?

Sergej Lawrow: Die Situation auf dem eurasischen Kontinent wird natürlich in vollem Maße fast von allen globalen Faktoren beeinflusst. Hier liegen mehrere wichtige Weltzentren – China, Russland, Indien, EU, wenn wir über das Kontinent sprechen. Jeder von diesen Akteuren hat aus verschiedenen Gründen das Recht, eine von den USA unabhängige Außenpolitik durchzuführen. Das betrifft auch die EU. Die Aufrufe zur strategischen Autonomie dehnen sich auch auf den Bereich der Entwicklung aus. Ja, wir spüren in Eurasien die Handlungen nicht nur der Kräfte, die solche Blöcke nach Interessen bilden und Konfrontations-Aspekte in die Prozesse implementieren wollen, hier beobachten wir  immer mehr die zentripetale Tendenzen. Ich meine die ASEAN und EU im Osten und Westen unseres Kontinents. Im Zentrum – die SOZ, EAWU. Wir möchten in diesem Raum nicht trennende, sondern vereinigende Herangehensweise fördern und das transregionale Zusammenwirken auf Grundlage der Gleichheit, gegenseitigen Vorteile und am wichtigsten, des Begreifens der eindeutigen vergleichenden Vorteile  der Vereinigung des ganzen Kontinents via Integrationsstrukturen, die im Westen, Osten, im Zentrum geschaffen wurden, vertiefen, das aber bei Respekt jedes einzelnen dieser Vereinigungen und bei Suche nach natürlichen Formen des Zusammenwirkens machen. Darauf ist die große eurasische Partnerschaft, wie wir das nennen, gerichtet, deren Bildung Wladimir Putin beim Russland-ASEAN-Gipfel vor einigen Jahren in Sotschi initiierte. Wir denken, dass es ein ziemlicher realer Aktionsplan ist.

Ich würde außer Klammern betonen, dass es hier Tendenzen gibt, die in Gegenrichtung gehen. Sie werden vor allem durch die USA via bekannte so genannte Indopazifik-Konzepte gefördert, die auf die Untergrabung der zentralen systembildenden Rolle der ASEAN in der Asien-Pazifik-Region  sowie darauf gerichtet sind, eine Gruppe der Länder zu bilden, die offen und unverhohlen  China bei seiner Entwicklung verhindert.

Ich würde für die Suche nach Berührungspunkten aller Integrationsprozesse eintreten. Ja, es gibt das chinesische „One Belt, One Road“-Konzept, die EAWU hat mit China ein Abkommen, das die Suche nach Berührungspunkten, Harmonisierung der Projekte, die im Rahmen der Eurasischen Integration, im Rahmen des chinesischen Projekts umgesetzt werden, vorsieht. Natürlich ist das im mehreren Fällen der Zusammenstoß der Wirtschaftsinteressen, doch die Bereitschaft, sich auf völkerrechtliche Prinzipien, Prinzipien des Respektes voneinander zu stützen, ermöglich, diese Wirtschaftsinteressen via Suche nach ihrem Gleichgewicht zu versöhnen. Gerade so werden unsere Beziehungen mit den Partnern in der EAWU-China, in der SOZ und mit ASEAN aufgebaut. Wir laden die EU dazu ein, wie das mehrmals gesagt wurde, ebenfalls zu sehen, wie sie mit Vorteilen für sich selbst und alle anderen sich der Erschließung unseres gemeinsamen geopolitischen, vor allem geowirtschaftlichen Raums anschließen könnte.

Frage: Bekannt ist, dass die Region des Nahen Ostens und Nordafrikas heute nicht ruhig bleibt. Zumal tauchen dort immer wieder irgendwelche neue Spaltlinien auf, es bleiben Konflikte, von denen wir sehr gut wissen. Er verschlechtert sich die humanitäre Situation wegen ungerechter Sanktionen des Westens gegen einen bestimmten Teil der Region. Es vertiefen sich verschiedene Asymmetrien. Wie sind heute strategische Interessen Russlands in dieser Region? Was wollen wir heute dort unter Berücksichtigung des Post-Covid-Charakters der Epoche, in die wir jetzt eintraten?

Sergej Lawrow: Wir haben tatsächlich gute Beziehungen, wohl die besten in der ganzen Geschichte der Verbindungen zwischen unserem Lande, in allen seinen Erscheinungen, und dieser Region. Die Beziehungen mit allen – arabischen Ländern, trotz des ganzen Konfliktpotentials in der arabischen Welt, auch mit Israel.

Wir werden von der Notwendigkeit ausgehen, gute Verbindungen mit allen diesen Ländern zu entwickeln und ihre Probleme, Bedürfnisse zu verstehen und sie bei unseren Beziehungen nicht nur zu einem konkreten Land, sondern auch bei den Beziehungen mit den Ländern, mit denen dieser konkrete Partner Schwierigkeiten hat, zu berücksichtigen.

Am Anfang wurde ich gefragt, ob Russland bereit ist, die Rolle des Ausgleichers zwischen den USA und China zu spielen. Wenn wir gebeten werden, wenn daran Interesse sein wird, werden wir das nicht ablehnen. Wir haben Kontakte mit jenen und anderen. Die Erfahrung unserer historischen Entwicklung lässt behaupten, dass wir das Potential haben.

Wenn es in dieser Region oder irgendwo noch Interesse an unseren Vermittleranstrengungen gibt, sind wir immer bereit, zu helfen, doch wir werden uns natürlich niemandem aufdrängen. Unser Interesse besteht hier vor allem darin, dass es dort keine neuen Militärkrisen gibt, die alten Krisen zu regeln und dass die Region des Nahen Ostens und Nordafrikas die Zone des Friedens, Stabilität wird. Wir haben kein strategisches Interesse, gelenktes Chaos aufrechtzuerhalten. Solches Interesse haben einige andere große außerregionale Länder. Wir haben kein solches Interesse. Wir sind nicht daran interessiert, verschiedene Staaten der Region gegeneinander zu hetzen, um damit einen Vorwand und Anlass zur Fortsetzung und manchmal sogar Erweiterung unserer Militärpräsenz zu haben. Wir sind daran interessiert, gegenseitige Handels-, Wirtschafts-, Investitions-Verbindungen mit diesen Staaten zu entwickeln. In diesem Sinne wollen wir nicht, dass irgendein anderes Land in dieser Region das Schicksal Libyens wiederholt, dem einfach die Staatlichkeit entnommen wurde, und man nicht weiß, wie man das „zusammenkleben“ soll. Deswegen werden wir aktiv daran teilnehmen, dass das völkerrechtliche Herangehen dominiert, damit es nicht mehr Probiergläser mit Zahnpulver, das als VX präsentiert wird, gibt. Damit es nicht mehr Lüge über das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen in anderen Ländern der Region gibt, wie das jetzt mit Syrien vor sich geht. Es wurde auch C-Waffen in Libyen erwähnt, die dort jemand nicht bis zum Ende „enthüllt“ hat. Alle diesen Ideen, wie sie formuliert werden – das ist alles ein offenes Geheimnis.

Wir wollen von unseren Beziehungen mit den Ländern der Region wirtschaftlich profitieren. Dafür haben wir viele gemeinsame  Momente in unseren Vorgehensweisen zu den Problemen der modernen Welt: Völkerrecht, UN-Charta, Dialog zwischen Zivilisationen, was enorm wichtig ist, wenn man auch die muslimische Bevölkerung Russlands bedenkt. Unsere muslimischen Republiken haben sehr gute Verbindungen mit den Ländern der Golfregion, mit anderen Ländern der arabischen Welt. Wir wollen das alles aufrechterhalten und entwickeln. Wir werden nicht von dem dort andauernden Chaos profitieren. Aber sobald sich die Situation stabilisiert, sichert uns die Zuverlässigkeit Russlands als Partner bei der Wirtschaftskooperation, bei der militärtechnischen Kooperation, im politischen Bereich immer wichtige Vorteile.

Frage: Meine Frage ist mit den jüngsten Veränderungen in unserem Land verbunden. Die novellierte Verfassung, die in Kraft getreten ist, enthält folgende Norm: „Handlungen (außer der Delimitation, Demarkation, Redemarkation der Staatsgrenze der Russischen Föderation mit den Nachbarländern), die auf Entfremdung eines Teils des Territoriums der Russischen Föderation ausgerichtet sind, sowie Aufrufe zu solchen Handlungen werden nicht zugelassen.“ Das ist eine durchaus verständliche Norm. In diesem Zusammenhang habe ich folgende Frage: Bedeutet das, dass unsere langjährigen Verhandlungen mit Japan über die so genannte „territoriale Frage“ jetzt verfassungswidrig sind, weil sie dem Grundgesetz widersprechen? Soweit ich mich erinnern kann, wurden in Bezug auf die Kurilen-Inseln solche Begriffe wie „Delimitation“ bzw. „Demarkation“ nie angewandt. Oder irre ich mich?

Sergej Lawrow: Nein, Sie irren sich nicht. Unsere Beziehungen mit Japan stützen sich auf eine ganze Reihe von Abkommen. Russland als Nachfolgerstaat der Sowjetunion bestätigte seinerzeit seine Treue allen Abkommen, die die Sowjetunion getroffen hatte. Das bestätigte Präsident Putin öfter. Das gilt auch für die Erklärung von 1956, der zufolge wir bereit sind, mit  unseren japanischen Kollegen die Notwendigkeit eines Friedensvertrags zu besprechen, und das auch tun, und zwar nicht so, wie das „am nächsten Morgen nach dem letzten Schuss“, also nach dem Ende des Kriegszustands (manche unsere Kollegen in Japan wollten ausgerechnet einen solchen Vertrag) getan wird. Der Kriegszustand zwischen der Sowjetunion und Japan wurde im Sinne der erwähnten Erklärung von 1956 beendet, in der geschrieben steht, dass es keinen Krieg mehr gibt und dass wir gegenseitige diplomatische Beziehungen aufnehmen. Was wäre denn noch nötig? Deshalb sollte der Friedensvertrag, um den es sich handelt, modern und vollwertig sein und nicht die Situation widersprechen, die es vor 60 bzw. 70 Jahren gab, sondern die heutige Situation, wenn wir von der Notwendigkeit der Entwicklung von vollwertigen Beziehungen mit Japan überzeugt sind. Das Dokument sollte inhaltreich und allumfassend sein und Punkte über Frieden, Freundschaft, gute Nachbarschaft, Partnerschaft, Zusammenwirken in allen Bereichen unserer Beziehungen enthalten, insbesondere im Wirtschaftsbereich, der sich zwar entwickelt, aber gar nicht auf allen Gebieten. Wir sollten auch nicht vergessen, dass es seitens unserer japanischen Nachbarn Sanktionen gegen Russland immer noch gibt – zwar keine so umfassenden, wie die US-Sanktionen, aber immerhin.

Der Vertrag sollte auch die Problematik der Sicherheit umfassen, wenn man bedenkt, dass Japan Mitglied eines sehr engen Militärbündnisses mit den USA ist, wobei Washington Russland nahezu zu seinem Feind erklärt hat. Natürlich sollten die Artikel des vollwertigen Vertrags auch unsere Ansichten zum außenpolitischen Zusammenwirken umfassen, wo wir praktisch alle umstrittenen Fragen unterschiedlich abstimmen, wie auch humanitäre und kulturelle Verbindungen und viele andere Momente. Wir schlugen konzeptuelle Grundlagen eines solchen Vertrags vor. Vorerst haben unsere japanischen Kollegen auf eine solche Konzeption nicht konkret reagiert.

Natürlich liegt  allen Momenten, die unsere weiteren Beziehungen bestimmen sollten, das Problem der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zugrunde. Japanische Offizielle erklärten öfter, sie würden die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs bis auf die Situation um die Südkurilen anerkennen, die sie als „nördliche Territorien“ bezeichnen. Das ist eine rechtswidrige Position. Japans rechtliche Position sollte durch die Tatsache bestimmt werden, dass dieses Land die UN-Charta ratifiziert hat, in der es den Artikel 107 gibt, dem zufolge alles, was die Siegermächte getan haben, nicht zu besprechen ist.

Natürlich hören wir Erklärungen unserer japanischen Nachbarn, sie wären bereit, einen Friedensvertrag abzuschließen, sobald das territoriale Problem geregelt worden ist. Das ist aber etwas anderes, was abgesprochen wurde. Es wurde vereinbart, sich auf den Abschluss des Friedensvertrags zu konzentrieren, wie das eben die Erklärung von 1956 verlangt.

Frage: Russland kritisiert oft die USA, weil sie im Stillen und im Indischen Ozean nicht inklusive Strukturen voranbringen, deren Aufgabe ist, für die USA „unbequeme“ Staaten zu isolieren. Vor allem meine ich den so genannten „Vierseitigen Dialog über Sicherheitsfragen“ – Quad (Quadrilateral Security Dialogue). Es ist offensichtlich, dass allein das Bestellen solcher Formate die Region aus einem Kooperationsraum in einen Konfrontationsraum verwandelt. Wir sind daran keineswegs interessiert. Aber die Quad-Idee scheint trotz all ihrer Nachteile bei den strategischen Partnern Russlands Akzeptanz zu finden – unter anderem bei Indien. Es gibt Gespräche über das „Quad-plus“-Format, in das die Amerikaner Vietnam einladen wollen – einen weiteren unseren strategischen Partner. Es sieht so aus, dass die Sicherheit in der Region gefestigt werden sollte. Könnte Russland unter solchen Bedingungen eine Alternative für solche Formate bieten, um eine Situation zu verhindern, wenn zwei unsere strategischen Partner an einem Format beteiligt sind, dessen Ziel ist, den dritten einzudämmen?

Sergej Lawrow:  Ich habe mich bereits zu den Indopazifischen Konzeptionen, zu den Strategien zur Gestaltung einer „freien und offenen“ Indopazifischen Region geäußert, wie US-amerikanische Diplomaten das nennen. Wenn irgendeine Initiative sich selbst als „frei und offen“ bezeichnet, habe ich immer den Eindruck, dass es um eine PR-Aktion geht, denn wie kann sie denn offen sein, wenn nicht absolut alle Länder der Region zur Beteiligung daran eingeladen werden?

Als der Begriff „Indopazifische Strategien“ entstand, fragten wir, ob das zu bedeuten hätte, dass es jetzt nicht um den Asien-Pazifik-Raum gehen sollte, dessen Umrisse klar und deutlich sind (APEC und solche Mechanismen, die um den ASEAN-Verband entstanden sind (Regionales ASEAN-Sicherheitsforum, Beratung der Verteidigungsminister der ASEAN- und Partnerländer (ein sehr wichtiger Mechanismus) und natürlich der Mechanismus der Ostasiatischen Gipfeltreffen, der in diesem Jahr seinen zehnten Jahrestag begeht). Russland trat dazu vor einigen Jahren bei – übrigens gemeinsam mit den USA. Das sind wirklich offene und inklusive Mechanismen, zu denen alle eingeladen werden, die daran teilnehmen wollen. Als wir fragten, warum jetzt statt des etablierten Begriffs „Asien-Pazifik-Raum“ von irgendwelchen „Indopazifischen Strategien“ die Rede ist und ob das bedeutet, dass der geografische Umfang dieser Konzeption größer als der des Asien-Pazifik-Raums ist, so dass jetzt alle Küstenländer des Indischen Ozeans eingeladen werden, antwortete man uns: „Nein“. Aber warum denn dann „Indo-“?! Und sieht der Persische Golf, der ja Teil des Indischen Ozeans ist, den Anschluss an diese Prozesse vor? Man sagte uns erneut: „Nein“, denn im Persischen Golf gebe es zu viele Probleme dafür, dass die dortigen Länder in diese Initiativen einbezogen werden.

Wenn Sie sich all die Ideen anschauen, die in diesem „Quartett“ vorangebracht werden, dann sehen Sie, was ich schon sagte: Sie sind mit Versuchen zur Eindämmung Chinas verbunden – und niemand macht ein Hehl daraus. Indien, unser besonders privilegierter strategischer Partner, versteht das sehr  gut. Indien übt seine multilaterale und in viele Richtungen gerichtete Politik aus und ist natürlich an Beziehungen mit den USA interessiert (und wer ist denn daran nicht interessiert?!), wie auch mit Japan und Australien. Wir sind auch daran interessiert. Aber Indien will nicht, dass dies auf Kosten der weiteren Zuspitzung seiner Beziehungen mit China passiert. Die Inder hatten sehr traurige Zwischenfälle an der faktischen Trennungslinie, aber wir begrüßen die Tatsache, dass es unverzüglich Kontakte zwischen den Militärs der beiden Länder gab, die noch fortgesetzt werden. Es gibt Absprachen zur Deeskalation der Situation. Es fanden auch Kontakte zwischen Politikern und Diplomaten statt. Wir sehen das Interesse der indischen und auch der chinesischen Seite daran, eine weitere Anspannung der Beziehungen zu vermeiden. Also wenn man über Indopazifische Strategien als Zukunft unserer ganzen großen Region ernsthaft reden will, sollte man zunächst die Frage beantworten, worauf sich dieser Begriffswechsel zurückführen lässt. Wenn man das tut, um Indien einen Gefallen zu tun, weil der Ozean der Indische heißt, dann sollte man das auch sagen.

Es gibt immerhin Dinge, die sich bereits etabliert haben. Ich erwähnte das umfassende Netz von Instituten und Mechanismen, die um den ASEAN gebildet wurden. Bei dem ASEAN geht es um eine Gruppe von Ländern, die im Rahmen ihrer Zivilisationskultur vereinigende Vorgehensweisen vorantreiben. Alles stützt sich dabei auf die Suche nach Konsensen, nach der Interessenbalance. Und alle waren jahrzehntelang völlig zufrieden, dass sich die multilateralen Beziehungen ausgerechnet auf dieser Plattform entwickelten, um die das Regionale Sicherheitsforum, die Beratungen der Verteidigungsminister, die Ostasiatischen Gipfeltreffen entstanden. Es gibt sogar den Ausdruck: „ASEAN-way“. Diese Länder betonen ständig, dass sie alle Sachen auf die „ASEAN-Art“ regeln wollen. Das bedeutet keineswegs, dass sie nach Konfrontationen suchen, dass sie Projekte umsetzen wollen, die Probleme für andere Teilnehmer dieses Prozesses hervorrufen könnten. Und die Indopazifischen Strategien verfolgen ein anderes Ziel – jedenfalls in der Form, in der sie geplant wurden.

Am Anfang unseres Gesprächs zählte ich die Einwände der USA gegen China auf, die sie ultimativ und ziemlich hart zum Ausdruck bringen. Auch diesen Mechanismus wollen sie einsetzen, um den Druck auszuüben. Wir sehen daran nichts Positives. Alle Probleme sollte man friedlich und auf dem Verhandlungsweg lösen. Wie gesagt: Die Plattform, die die ASEAN-Länder bieten, passt ideal dafür, dass jeder Teilnehmer seine möglichen Probleme mit jedem anderen Mitglied ohne Polemik und ohne Anspannung der Situation bespricht. Wir bauen mit dem ASEAN (ich erwähnte bereits die EAWU, die SOZ) „Brücken“ auf – die Sekretariate dieser Organisationen haben bereits entsprechende Memoranden unterzeichnet. Wir werden die zentrale, systembildende Rolle des ASEAN im Asien-Pazifik-Raum vorantreiben.

Wenn man die Indopazifischen Strategien verständlicher macht, wenn wir uns überzeugen, dass sie zum Beitritt zu diesen Prozessen tendieren, die vom ASEAN angeführt werden, ohne zu versuchen, diese Rolle zunichte zu bringen und den ganzen Dialog auf die Eindämmung Chinas oder irgendeines anderen Landes auszurichten, werden wir das nur begrüßen. Aber vorerst sehen wir das nicht.

Frage: Vor einer Woche fand eine Expertenumfrage statt, nachdem die Amerikaner der russischen Militäraufklärung GRU vorgeworfen hatten, die Taliban gekauft zu haben, damit diese US-Soldaten in Afghanistan töten. Alle Experten zeigten sich überzeugt, dass sich diese Behauptungen auf die innenpolitischen Fragen in Amerika zurückführen lassen. Ihr Mitarbeiter, der Präsidentenbeauftragte für Afghanistan, Samir Kabulow, bemerkte zudem, dass eine der Fraktionen in den USA gegen den Abzug der US-Kräfte aus Afghanistan sei, weil Vertreter der US-Geheimdienste in den letzten Jahren in den Drogenhandel involviert seien. Bisher hatte ich noch keine Möglichkeit, Sie über diese Situation zu fragen: Was halten Sie also davon?

Sergej Lawrow: Wir haben bereits auf diese Spekulationen in den USA über angebliche Verbindungen zwischen Russland und den Taliban reagiert, die wir angeblich aufgefordert hätten, für Entlohnung gegen US-Militärs zu kämpfen, und ihnen sogar gewisse „Kopfgelder“ geboten hätten. Ich kann nur bestätigen, dass sich das alles nur auf schmutzige Spekulationen stützt. Dabei wurden keine konkreten Fakten angeführt. Mehr noch: Zuständige Mitarbeiter des US-amerikanischen Präsidialamtes, unter anderem der Verteidigungsminister, erklärten, sie wüssten nichts von solchen Fakten.

Das alles wurde wieder so geschrieben, als wäre das extra unter Berücksichtigung des innenpolitischen Kampfes im Vorfeld der Wahlen getan worden (und das war wohl wirklich so). Man wollte die Administration blamieren und alles diskreditieren, was sie tut, vor allem in der Russland-Richtung. Wir gesagt: Es gibt keine Fakten. Obwohl Fakten hatte es noch Ende der 1970er- und in den 1980er-Jahren gegeben – damals hatte die US-Administration kein Hehl daraus gemacht, dass die Amerikaner „Stinger“ und andere Waffen Mudschaheddin-Kämpfern lieferten, die sie gegen sowjetische Soldaten einsetzten.

Ich wiederhole: Wir sind daran interessiert, dass Russland und die USA in Afghanistan aus ihren Erfahrungen lernen, die sie in diesem leidgeprüften Land gesammelt haben, und gemeinsam mit anderen Ländern, die imstande sind, bei der Beruhigung der Situation zu helfen (vor allem mit China, dem Irak und Pakistan), und mit anderen Nachbarn Afghanistans den nationalen Dialog fördern. Damit befassen wir uns auch intensiv.

Was die USA angeht, so unterstützen wir im Rahmen dieses politischen Prozesses die Vereinbarungen, die die USA im Dialog mit den Taliban und der  Regierung voranbringen. Wir wirken da auf unseren Wegen mit, damit diese Vereinbarungen in die Tat umgesetzt werden. Es gibt den Beratungsmechanismus im Russland-USA-China-Format, an dem sich auch Pakistan beteiligt. Auch der Iran wird zur Beteiligung eingeladen, aber vorerst nahm er diese Einladung nicht an, und zwar wegen seiner Probleme in den Beziehungen mit den USA und deren weltweiten Handlungen gegen den Iran. Dieser Beratungsmechanismus hilft bei der Kooperation und bei der Bestimmung von konkreten Richtungen, in die Signale an diese oder jene Seite gesendet werden könnten. Das wird im Rahmen der Logik getan, die das so genannte „Moskauer Format“ bestimmt hat, an dem absolut alle Nachbarn Afghanistans, die USA, Russland und China beteiligt sind. Es ist absolut optimal.

Was die Behauptungen hinsichtlich der Drogen in Afghanistan und der möglichen Verwicklung von US-Militärs ins Drogengeschäft angeht, so bekamen wir öfter Informationen, die unter anderem von Massenmedien verbreitet  werden, dass aus Afghanistan Opiate in andere Länder, insbesondere nach Europa, geschmuggelt werden und dass dabei die Fliegerkräfte der Nato-Koalition eingesetzt werden. Gouverneure von verschiedenen afghanischen Provinzen berichteten öfter über permanente Flüge von Hubschraubern ohne Kennzeichen, wobei der ganze afghanische Himmel von der Nato-Koalition kontrolliert wird. Es gab auch andere Berichte über den Schmuggel von Opiaten in anderen Formen.

Natürlich können wir solche Informationen nicht zu 100 Prozent überprüfen, aber sie kommen einfach viel zu oft dafür, dass wir sie ignorieren. Falls im afghanischen Himmel Luftstreitkräfte zum Einsatz kamen (und das konnten, wie ich schon sagte, nur die Nato-Fliegerkräfte sein), so wurden diese Flüge nur von Soldaten oder Mitarbeitern der Geheimdienste organisiert. Diese Umstände müssen ermittelt werden, und zwar vor allem in den USA selbst. Sie haben zuständige Behörden, die wohl die Einhaltung der nationalen Gesetze kontrollieren. Zweitens sind Ermittlungen auch in dem Land nötig, in dem sich ihre Streitkräfte aufhalten – in Afghanistan. Das sagte auch Herr Kabulow. Und wenn wir übrigens absolut unbestreitbare Fakten scharf ins Auge fassen, sehen wir, dass der Drogenschmuggel aus diesem Land in andere Länder, insbesondere nach Europa, in Russlands Nachbarländer und nach Russland, in den fast 20 Jahren, die die USA und die anderen Koalitionsmitglieder in Afghanistan bleiben, um das Zig-fache gewachsen ist. Weder die USA noch die anderen Nato-Mitglieder kämpfen richtig gegen die Drogenproduktion in Afghanistan. Übrigens verwies der für Afghanistan zuständige US-Generalinspektor, John Sopko, vor kurzem in einem Bericht darauf, dass es Mohnanbauflächen unmittelbar in der Nähe von Nato-Stützpunkten gebe. Das ist auch ein Fakt. Das ist wohl nicht ganz richtig aus der Sicht der US-Position zur Bekämpfung des Drogengeschäfts.

Wir hoben das auch im UN-Sicherheitsrat oft genug hervor, wenn dort Berichte über die Aktivitäten der Nato-Koalition in Afghanistan präsentiert wurden, wie auch bei bilateralen Gesprächen, wobei wir unsere Partner zur Bekämpfung der Drogenindustrie aufforderten. Sie erklärten, das Mandat der Nato-Mission würde das nicht vorsehen – sie wäre nur für Terrorbekämpfung zuständig. Dass die Drogenindustrie unmittelbar den Terrorismus finanziert und die wichtigste  Finanzquelle von terroristischen Organisationen ist, ist allgemein bekannt. Da kann man schon gewisse Schlüsse ziehen. Wie gesagt: Wir nehmen dieses Problem ernst wahr.

Frage: Einige Stunden nach dieser Tagung der „Primakow-Lesungen“ (um 10.00 Uhr New Yorker Zeit) wird eine außerordentliche Tagung der UN-Vollversammlung beginnen, die dem Thema Pandemie gewidmet sein wird. Die Tagung wurde auf Initiative der Bewegung der Blockfreien Staaten einberufen. Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Tagung ein? Wer wird dabei Russland vertreten? Hat die UNO nach Ihrer Auffassung nicht viel zu spät auf die Pandemie reagiert? Wie bewerten Sie die Rolle der Bewegung der Blockfreien Staaten unter den aktuellen Bedingungen?

Sergej Lawrow: Natürlich wissen wir, dass es in diesem Jahr auf Initiative der Bewegung der Blockfreien Staaten (in diesem Jahr steht Aserbaidschan an ihrer Spitze) eine spezielle Tagung der UN-Vollversammlung zum Thema Covid-19 einberufen wird. Sie wird etwas später stattfinden. Heute, am 10. Juli, beginnt nur die Bestimmung der Regeln, nach denen die Tagung einberufen wird, denn angesichts der Corona-Infektion müssen alle Veranstaltungen, die fern stattfinden, aus der Sicht verschiedener organisatorischer Momente abgesprochen werden. Heute wird nur das besprochen. Der Tag der Einberufung der Sondertagung wurde noch nicht festgelegt.

Ich denke nicht, dass wir Gründe haben, die UNO ungeschickt zu nennen, die zu spät auf die Herausforderungen der Coronavirus-Infektion reagierte. Was die Generalversammlung der UNO betrifft, wurde sie zweimal einberufen, das war ziemlich lange her, auf einer frühen Etappe dieser Situation. Es wurden zwei Resolutionen verabschiedet, die den Aufgaben der internationalen Gemeinschaft beim Kampf gegen Coronavirus gewidmet sind. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete vor kurzem eine Resolution zu Covid-19. Wir konnten das lange nicht machen, weil die Amerikaner sich kategorisch weigerten, die Rolle der WHO in diesem Dokument hervorzuheben. Im Ergebnis wurden Worte gefunden, die es ermöglichten, diese Rolle zu hervorheben und eine Konsens-Verabschiedung zu gewährleisten.

Wollen wir nicht daran vergessen, dass die Weltgesundheitsversammlung, übrigens unter Teilnahme der Amerikaner, sich im Mai zu einer Sondersession versammelte. Sie verabschiedete eine Resolution, die von Amerikanern unterstützt wurde, wo die WHO-Rolle objektiv widerspiegelt wurde. Auf dieser Session wurde auch vereinbart, dass sobald die Pandemie und alle wichtigsten Programme abgeschlossen sind, wird eine internationale Einschätzung der Lehren durchgeführt, die wir aus der Tätigkeit der WHO in dieser Richtung ziehen. Doch ohne auf jemanden mit dem Finger zu zeigen. Eine objektive wissenschaftliche Einschätzung der unabhängigen Profis.

Die Bewegung der Blockfreien Staaten ist, da bin ich mit Ihnen einverstanden, unser enger Partner. Wir sind ein Gast-Land, das regelmäßig zu Gipfeln der Bewegung und auch zu Ministersitzungen eingeladen wird. Diese Struktur wurde in einem ganz anderen historischen Kontext, am Höhepunkt des Kalten Kriegs ins Leben gerufen, als Entwicklungsländer, die diese Bewegung bildeten, das Prinzip der Neutralität zu zwei Militärblöcken erklärten. Ich denke, dass es richtig ist, weil die Versuche, gewisse Blöcke wieder zu bilden (wir haben darüber heute teilweise gesprochen) andauern. Es ist sehr wichtig, dass diese Neutralität, Unparteilichkeit, Ausrichtung auf die Förderung der Völkerrechtsprinzipien die Grundlage der Tätigkeit der Bewegung der Blockfreien Staaten bleiben. Im Oktober 2016 fand in Baku ein weiterer Gipfel der Bewegung statt. Wir waren dort als Gast anwesend. Es wurden wichtige gemeinsame Erklärungen abgestimmt, darunter die Bestätigung der Position zugunsten der Festigung der Multipolarität in der internationalen Arena, Respekt der Prinzipien der UN-Charta. Zudem wurden Erklärungen der Bewegung der blockfreien Staaten zur Unterstützung Palästinas und Boliviens angenommen – in der damaligen Periode waren es ziemlich aktuelle Themen. Wir sind daran interessiert, dass unter Status in der Bewegung es ermöglicht, an den Fragen zu arbeiten, die vom gegenseitigen Interesse sind.

Frage: Gab es bei den Verhandlungen zu den Minsker Abkommen über die Ausarbeitung von kurzfristigen Änderungen an der Verfassung der Ukraine, die mit dem Sonderstatus des Donezbecken verbunden sind, ultimative Forderungen von Dmitri Kosak? Wenn ja, warum wurde die Forderung erst jetzt so drastisch, obwohl es die Minsker Abkommen schon seit fünf Jahren gibt?

Sergej Lawrow: Es wurden keine Forderungen und Ultimaten gestellt. Im Format der Normandie-Berater, Assistenten von vier Anführern, im Rahmen der Teilnahme der russischen Seite in der Kontaktgruppe, wo wir zusammen mit der OSZE die Gewährleistung des direkten Dialogs anstreben, den Kiew mit Donezk und Lugansk führen soll, prinzipiell und konzeptuell streben wir nur eines an – wir bitten unsere ukrainischen Nachbarn, das vollständige Festhalten an den Minsker Vereinbarungen zu bestätigen, wie sie geschrieben, unterzeichnet und vom UN-Sicherheitsrat gebilligt wurden. Wenn uns gesagt wird, dass Kiew den Minsker Abkommen treu bleibt, aber die gesamte Grenze unter Kontrolle der ukrainischen Armee und Grenzsoldaten gestellt werden soll, dann sind es keine Minsker Abkommen. Das ist eine Täuschung der eigenen Bevölkerung, eine bewusste Täuschung. Wenn gesagt wird, und das von der höchsten Führung der Ukraine, dass an den Minsker Abkommen festgehalten werden soll, weil sie der Grund der Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Russland sind, wollen wir wissen – wenn das das Hauptinteresse der Ukraine bezüglich der Minsker Vereinbarungen ist, mögen sie uns erklären, wozu sie diese Vereinbarungen unterzeichnete und ob das Festhalten an ihnen für all das, was dort geschrieben ist, bleibt, und nicht dieser absolut künstlichen und nicht adäquaten Ankopplung an Sanktionspolitik. Von der Inadäquatheit dieser Ankopplung vergewissern sich bereits die meisten Mitglieder der EU. Das ist ein prinzipielles Herangehen. Ich sprach mit dem Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Dmitri Kosak sprach mit seinen Kollegen. Wir wollen, dass die Franzosen und Deutschen als Teilnehmer des Normandie-Formats sich jedoch zu diesem Thema äußern. Wir hören jeden Tag aus Kiew offizielle Erklärungen, die einfach alle Vereinbarungen ruinieren, die vom UN-Sicherheitsrat nach den Minsker Abkommen festgelegt sind.

Dabei führen wir ein pragmatisches Gespräch, um konkrete Schritte zur Bewegung zu allen Aspekten des Minsker Dokuments abzustimmen – zu Sicherheitsfragen, sozialwirtschaftlichen, humanitären und politischen Themen. Beim jüngsten ziemlich produktiven Treffen der Berater der Staatschefs des Normandie-Formats in Berlin wurden mehrere Vereinbarungen erreicht, was eine weitere Phase des Austausches der festgehaltenen Personen, Erreichen der Vereinbarungen in der Kontaktgruppe über Sicherheitsfragen, darunter Abstimmung der Texte der Befehle, die von kämpfenden Seiten (Kiew, Donezk und Lugansk) angenommen werden sollen mit der Darlegung der Handlungen, die mit diesen Befehlen verbietet werden, betrifft. Das wurde abgestimmt. Der dritte abgestimmte Aspekt aus der politischen Tagesordnung – die Darstellung der eigenen Vision des Dokuments durch die Ukraine, das die Änderungen der Verfassung zur Widerspiegelung des Sonderstatus dieser Gebiete von Donezbecken in voller Übereinstimmung mit den Minsker Abkommen enthalten wird.

Zu allen diesen drei Richtungen wurde ein Verständnis erreicht, das in den Beschlüssen der Kontaktgruppe, die vor einigen Tagen zu Ende ging, gestaltet werden sollen. Zu allen drei Vereinbarungen desavouierte die ukrainische Delegation in Minsk alles, was in Berlin abgestimmt wurde. Wir wurden darauf aufmerksam. Der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration der Russischen Föderation, Dmitri Kosak, sendete eine entsprechende Botschaft an seine Kollegen. Deswegen gibt es hier keine Überraschung. Wir traten immer dafür ein, dass die Minsker Vereinbarungen in vollem Umfang und in der ganzen Reihenfolge, die festgelegt ist, erfüllt werden. Wir mangeln nicht an Geduld, doch die Geduld hilft, wenn es konzeptuelle Klarheit gibt, und bislang fehlt die konzeptuelle Klarheit darüber, wie die Administration des Präsidenten der Ukraine, Wladimir Selenski, der an die Macht mit dem Motto des schnellen Friedens im Donezbecken kam, sich zu den Handlungen verhält, die unternommen werden sollen, indem man die Minsker Vereinbarungen erfüllt.

Frage: Der ehemalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten John Bolton schreibt in seinen Erinnerungen über die Unzufriedenheit des US-Präsidenten Donald Trump wegen Sanktionen zu Salisbury und Syrien. Bekamen Sie solche Signale? Bleibt eine Vereinbarung mit den USA über den Austausch der Besuche auf der höchsten Ebene bestehen? Wird die Teilnahme Russlands im erweiterten Format der „Gruppe der Sieben“ erörtert?

Sergej Lawrow: Ich habe die Memoiren Boltons nicht gelesen, doch ich las die Beschreibung einzelner Sujets, die zu diesem Buch gehören. Es ist verständlich, dass John Bolton eine eigene Position zu den russisch-amerikanischen Beziehungen sowie der US-Mission in der Welt im Ganzen und wie sich Amerika zur Weltordnung verhalten soll, wie sie sein soll, hat. Wohl wie jedes Buch, das vom Autor konzipiert wird (in den USA schreibt fast jeder Mensch, der seit einem, anderthalb bzw. zwei Jahren im Staatsamt ist, bereits eigenes Buch), soll es gut verkauft werden, dazu soll man Interesse bei den Lesern auslösen, heiße Themen helfen wohl dabei. Ich lasse das auf dem Gewissen Boltons – sowohl die Darlegung des Materials und die Öffnung gewisser pikanter sensibler Details im Text. Ich lasse auf dem Gewissen auch eindeutige Beschönigungen der Handlungen Washingtons in einer jeweiligen Situation.

Niemand schloss Vereinbarungen über den Austausch von Besuchen auf der höchsten Ebene. Denn eine Vereinbarung über einen Besuch ein konkretes Datum, Stadt, geografische Bezeichnung der Gegend, wo dieser Besuch stattfinden soll, bedeutet. Doch niemand verzichtet auf Besuche. Wir haben keinen Mangel am Wunsch, mit Amerikanern auf allen Ebenen zu arbeiten, und Russlands Präsident Wladimir Putin hat einen guten Kontakt zu US-Präsident Donald Trump. Ich spreche ab und zu mit US-Außenminister Mike Pompeo. Auf der Ebene unserer Stellvertreter läuft ebenfalls ein Dialog. Damit sehen wir keine Hindernisse, wenn es Interesse seitens der US-Seite geben wird. Wir wollen nicht, dass unsere Beziehungen zu den USA nur als Anhängsel des Wahlkampfes und der ziemlich harten Handlungen, die kurz vor den US-Wahlen gegenüber einander unternommen werden, wahrgenommen werden.

Was die Gruppe der Sieben betrifft, haben wir meines Erachtens zu diesem Thema schon alles gesagt. Es gab die G8, wo Russland vollberechtigt teilnahm. Sie wurde 2014 nicht auf unsere Initiative nicht einberufen, unsere Partner – Europa, Nordamerika, Japan – beschlossen, an dieser Veranstaltung nicht teilzunehmen. Das ist ihre Wahl. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, sagte in einem Kommentar, dass wir weiterhin uns freuen werden, die ganze G8 in der Russischen Föderation zu empfangen. Wenn unsere Kollegen das nicht wollen, kann man niemanden zur Liebe erzwingen.

Was die G7 betrifft, widerspiegelt die Liste der Länder, die US-Präsident als potentielle Eingeladene zu dem in den USA bevorstehenden Gipfel erwähnte, das Verständnis davon, dass die Gruppe der sieben alleine nichts mehr lösen kann. Doch auch mit den Ländern, die genannt wurden, wird sich die Situation kaum stark ändern, weil nicht alle in der Liste vertreten waren, die erläutert wurde. Wir sind davon überzeugt, dass ernsthafte Fragen in der Weltwirtschaft, Weltfinanzen ohne China kaum effektiv gelöst werden. Es liegt anscheinend auf der Hand, dass gerade diese Gründe – die Notwendigkeit der Einbeziehung der Hauptakteure auf den globalen Finanz-, Wirtschafts-, Warenmärkten, Hauptteilnehmer der Weltwirtschaft die Grundlage der Wiederaufnahme und Verlegung der Tätigkeit der G20 auf das höchste Niveau wurde. Das ist ein inklusiver Mechanismus, der auf Grundlage eines Konsens, Prinzipien der Gleichberechtigung funktioniert. Wir denken, wenn man über das Wesen der Probleme spricht, mit denen die Wirtschaft konfrontiert ist, und nicht über die Nutzung in der außenpolitischen Polemik bzw. anderer Rhetorik, ist die G20 natürlich ein offensichtliches Format, das aufrechterhalten und umfassend gefördert und aktiv genutzt werden soll.

Frage: In Russland wird immer gesagt, dass man bereit ist, mit jedem Präsidenten zu arbeiten, den US-Volk wählen wird. Können Sie eine Einschätzung für eine mögliche Entwicklung der russisch-amerikanischen Beziehungen im Falle des Sieges des ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden geben? Ist Ihres Erachtens die Erwartung mehrerer Experten rechtfertigt, dass er einige für Russland unvorteilhafte Beschlüsse revidieren kann – zum Beispiel, über den Austritt aus dem INF-Vertrag und Open-Sky-Vertrag?

Sergej Lawrow: Bei uns ist es nicht üblich, die Wahlkampagne zu kommentieren, damit befassen sich Massenmedien, so ist es in allen Ländern. Die Wahlkampagne in den USA löst großes Interesse in der ganzen Welt aus, das ist auch klar, doch auf der offiziellen Ebene gehen wir davon aus, und das ist absolut richtig, dass die Wahl des Staatschefs – die Wahl des US-Volkes, die innere Angelegenheit der USA ist.

Wenn man darüber spricht, wie ein bestimmter Ausgang der Wahlen die russisch-amerikanischen Beziehungen beeinflussen kann, wenn man darüber abstrakt überlegt, gibt es Kommentare einiger Experten, die betonen, wie das auch die Abrüstungsverhandlungen beeinflussen wird. Er gibt Meinung, die wohl mit irgendwelchen Fakten verbunden ist, dass die Demokraten weniger als Republikaner auf den Bruch der Vereinbarungen im Bereich strategische Stabilität, Abrüstungsvereinbarungen der letzten Jahrzehnte gestimmt sind. Doch wir erinnern uns auch daran, dass unter dem ehemaligen Präsidenten Barack Obama, der Demokrat ist, die größte antirussische Kampagne initiiert wurde, deren viele Elemente, darunter die Sanktionsfrage jetzt ein Element des Zweiparteien-Konsens sind. Ich werde nicht mutmaßen, die Situation ist unvorhersehbar. Ich wiederhole nochmals, das US-Volk möge darüber entscheiden.

Das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE, das unter anderem für die Überwachung der Wahlen zuständig ist, absolvierte die erste solche Überwachung ferngesteuert und verbreitete einen Bericht, der vor einigen Tagen im Ständigen Rat der OSZE vorgelegt wurde, wo zahlreiche Ansprüche geäußert wurden, wie im Prinzip Wahlprozesse gemäß  den US-Gesetzen organisiert sind. Ich werde nicht auf Details eingehen, der Bericht ist vorhanden, man kann ihn lesen. Doch dort ist unter anderem erwähnt, dass mindestens mehr als zwei Millionen Staatsbürger der USA aus verschiedenen Gründen kein Stimmrecht haben, das ihnen laut Gesetz gehören soll. Was besonders interessant ist, wurde der „angeborene Mangel“ der US-Wahlgesetzgebung betont, der im Zwei-Stufen-Prinzip des Wahlprozesses besteht. Zunächst werden die Repräsentanten der Wähler gewählt, die dann den Präsidenten wählen. Zudem hieß es, dass die Bestimmung der Kreise nicht gleichmäßig gegenüber verschiedenen ethnischen Gruppen ist. Eine ziemlich interessante Anmerkung der OSZE. Wir sagten darüber schon seit langem. Ich erinnere mich, wie Condoleezza Rice die US-Außenministerin war, und sie erhob erneut Ansprüche, beschwerte sich über die Wahlen bei uns, und ich sagte ihr, wenn man konkrete Ansprüche hat, haben wir internationale Beobachter, nationale Beobachter und vieles andere, und das alles wird analysiert, und ich erinnerte sie daran, dass man in den USA mehr direkte Stimmer der Wähler bekommen kann, doch wegen der Bestimmung der Kreise, des Systems der Wähler-Repräsentanten wird zum Präsidenten eine andere Person gewählt. Das erinnerte an die Situation 2000, als lange Stimmen in Florida gezählt wurden, und im Ergebnis laut Beschluss des Obersten Gerichts diese Neuauszählung gestoppt wurde, und George W. Bush zum Präsidenten wurde, und Albert Gore zugab, dass er sich damit abfindet. Condoleezza Rice sagte mir, dass sie über dieses Problem Bescheid wissen, doch das ist ihr Problem, und sie werden das selbst klären. Anscheinend werden sie auch so auf den Bericht der OSZE reagieren.

Was die Aussichten und Projizierung eines jeweiligen Ergebnisses auf die Verträge betrifft, darunter der Open-Sky-Vertrag, sollen die USA nach dem jetzigen Terminplan gemäß dem erklärten Beschluss über den Austritt ihre Teilnahme am Vertrag am 22. November stoppen, also zweieinhalb Wochen nach den Wahlen. Unabhängig davon, wer Präsident wird, wird die neue Administration am 20. Januar ihre Verpflichtungen übernehmen. Deswegen wird dieser Beschluss in dieser Situation, wenn der Vertrag abläuft, kaum revidiert. Wenn die neue Administration, ob demokratisch oder republikanisch, beschließt, in diesen Vertrag zurückzukehren, müssen Verhandlungen dann aufs Neue aufgenommen werden. Deswegen riefen wir auf der außerordentlichen Konferenz der Seiten des Open-Sky-Vertrags am 6. Juli im Online-Format alle bleibenden Teilnehmer des Vertrags dazu auf, dass sie sich bemühen, den Vertrag aufrechtzuerhalten. Wir sind dazu bereit, dass er weiterhin funktioniert, doch der endgültige Beschluss, ob man da bleibt oder nicht, werden wir treffen, nachdem wir alle Folgen des Beschlusses über den Austritt der USA, der meines Erachtens nicht mehr geändert werden soll, erörtern. Er ist endgültig und unveränderlich, wie wir uns vergewissern können. Das wird auch dadurch bestätigt, was mit dem INF-Vertrag war. Es wurde ebenfalls angekündigt, dann gab es Versuche der Überzeugungen, doch das führte zu nichts.

Ich würde dazu zurückkehren, was ich bei der Antwort auf eine der früheren Fragen sagte. Wir sind zur Situation bereit, wenn wegen eines kontinuierlichen Kurses der USA auf die Zerstörung aller diesen Vereinbarungen nichts im Bereich Rüstungskontrolle bleibt, doch wir sind auch dazu bereit – nicht von Null auf zu beginnen, sondern Kontakte mit Amerikanern zu allen Problemen der strategischen Stabilität fortzusetzen. Ich bin davon überzeugt, dass das auch von allen anderen Mitgliedern der Weltgemeinschaft unterstützt wird. Dabei werden wir die Tür auch zu multilateralen Verhandlungen offen halten, die sich natürlich auf ein allgemeines Verständnis, freiwillige Teilnahme an diesen Verhandlungen und darauf stützen sollen, dass die Zusammensetzung der Teilnehmer ausgewogen ist.

 


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