Rede des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, bei der Eröffnung der Konferenz „Potsdamer Begegnungen“ am 8. November 2016 in Moskau
Vielen Dank. Ich hoffe, dass ich den fließenden Verlauf der Diskussion nicht verletzte. Ein paar Worte für das Protokoll. Wir schätzen aufrichtig die Kooperation, die unter der Schirmherrschaft der Potsdamer Begegnungen erfolgt. Ich bin für die Einladung zu diesem Format dankbar. Wir schätzen die Anstrengungen des Gortschakow-Fonds zur Unterstützung der öffentlichen Diplomatie und des Deutsch-Russischen Forums bei der Organisierung dieser Veranstaltungen.
Diese Plattform sammelt traditionell eine angesehene Zusammensetzung der Teilnehmer, schafft Bedingungen zur Besprechung der aktuellsten bilateralen und internationalen Fragen. Sie wurde ein unabdingbarer Teil des Zusammenwirkens der Zivilgesellschaften Russlands und Deutschlands. In der jetzigen Situation auf dem europäischen Kontinent und in der Welt im Ganzen sind besonders die Anstrengungen nachgefragt, die bei der Überwindung und Beseitigung der Klischees, schwarz-weißen Wahrnehmung helfen.
Das Thema, zu dem sie sich heute wandten – „Europa von Lissabon bis Wladiwostok: alternativloser Weg zur Stabilität in Europa“ – klingt zweifellos ziemlich aktuell. Wir sagten mehrmals, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs eine einmalige und reale Chance verpasst wurde, sein Erbe für immer zu beseitigen, alle Trennlinien zu verwischen, unserem Kontinent Frieden und Wohlstand zum Wohle der jetzigen und künftigen Generationen zu bringen. Dafür gab es alle notwendigen Voraussetzungen, ideologische Auseinandersetzungen wurden beseitigt und die Berliner Mauer, die sie verkörperte, eingerissen.
Darüber, warum damals nicht geschafft wurde, Erfolg auf diesem Wege zu erreichen, sagte ausführlich Präsident Wladimir Putin bei der Sitzung des Diskussionsklubs „Waldai“ am 27. Oktober. Von meiner Seite betone ich, dass unser Land einen großen Beitrag zur Beseitigung des Erbes der Epoche der Konfrontation leistete, darunter durch den Abzug der Truppen und Waffen aus Deutschland, Ländern Osteuropas und Baltikums. All diesen Jahren taten wir alles Erdenkliche, um das gegenseitige Verständnis, Förderung einer fruchtbaren gegenseitig vorteilhaften Kooperation in verschiedenen Bereichen zu fördern – von Wirtschaft und Handel bis zur Krisenregelung und Antiterrorkampf.
Viele Anwesenden erinnern sich wohl daran, dass wir 2008 die Initiative starteten, einen Vertrag über europäische Sicherheit abzuschließen. Der entsprechende politische Verpflichtungen über gleiche und unteilbare Sicherheit kodifizieren würde, die am Ende der 1990-er und Anfang der Nullerjahre sowohl in der OSZE, als auch im Russland-Nato-Rat feierlich erklärt wurden. Leider wurde der Entwurf dieses Dokuments abgelehnt, weil die Nato-Mitglieder beschlossen haben, dass juridische Sicherheitsgarantien nur diejenigen haben können, die sich der Allianz angeschlossen haben. Das war ein absichtlicher Kurs auf die Aufrechterhaltung der Trennlinien in Europa. Die Folgen dieser Mentalität sind bislang nicht verschwunden. Auf die Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung aller Staaten Europas waren auch unsere Schritte zur Umsetzung großangelegter Infrastrukturprojekte gezielt, darunter im Energiebereich, darunter North Stream. Darauf war ebenfalls unser Vorschlag gezielt, in der Zukunft eine Energieallianz zwischen Russland und der EU zu schaffen. Wir bewegten unsere Partner beharrlich dazu, Visabarrieren einzureißen – ein eindeutiger Anachronismus, der die Erweiterung der handelswirtschaftlichen, kulturell-humanitären Verbindungen, Kontakte zwischen Menschen verhindert.
Leider erhielten unser aufrichtiges Streben, eine umfassende Partnerschaft aufzunehmen (wir strebten tatsächlich danach), unser Wunsch, sie wahr strategisch zu machen, keine gehörige Unterstützung seitens der Länder des Westens. Einige waren bereit, entgegenzukommen, doch die Blocksolidarität, sture Position „alle oder niemand“ bewegte im Ergebnis unsere westlichen Partner dazu, negativ zu reagieren und auf der Position des Denkens mit Kategorien – „Seiner“ und „Fremder“ zu bleiben. Wie sie wissen – darüber wurde vor kurzem viel gesprochen – blieben die Zusicherungen, dass die Nato nicht in den Osten erweitert wird, leere Worte. Im Rahmen des Programms „Östliche Partnerschaft“ wurden Versuche unternommen, die Länder des postsowjetischen Raums vor einer künstlichen Wahl zu stellen – „mit uns oder gegen uns“, was erneut die Logik eines Nullsummenspiels bedeutete.
Sobald Russland den Weg einer kontinuierlichen Entwicklung betrat, die Folgen der 1990-er Krisenjahre überwand, stießen wir auf eine Neuauflage der gegen uns gerichteten Abschreckungspolitik. Zu den Erscheinungen solches Kurses wurde unter anderem der von Washington und Brüssel unterstützte Staatssturz und bewaffnete Machtergreifung in der Ukraine, Einführung einseitiger antirussischer Sanktionen. In dieser Richtung werden auch die Pläne der USA zum Aufbau des europäischen Segments des globalen Raketenabwehrsystems, die Handlungen der Nato zur beschleunigten Militarisierung der Regionen Osteuropas, Baltikums, der Wassergebiete des Schwarzen Meeres und der Ostsee umgesetzt.
Die europäische Elite besprach natürlich diese Entwicklung. Wir verfolgten diese Diskussionen. Das Ergebnis besteht jetzt darin, dass die europäische Elite dem Druck aus Übersee nicht Widerstand leisten konnte und sich in antirussischen Kontext einfügte. Dabei baut Europa selbst (das ist kein Geheimnis) nicht sein Gewicht in globalen Angelegenheiten, stößt auf mehrere Herausforderungen – von den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise bis zum Wachstum der Terrorbedrohung und massiven Migrantenstrom. Es liegt auf der Hand, dass es in der heutigen Welt nicht mehr geschafft wird, einzelne Inseln der Sicherheit zu bilden, die gemeinsamen Probleme können nur gemeinsam gelöst werden – darin vergewissern wir uns jeden Tag.
Wir gehen weiterhin davon aus, dass es kaum geschafft wird, ohne Vereinigung der Potentiale aller Staaten, Europa, darunter der EU einen würdigen Platz im neuen polyzentrischen System der Weltordnung zu sichern. Die Geschichte zeigte mehrmals, dass die Versuche, Russland zu isolieren, immer zu schwerwiegenden Folgen für das ganze Kontinent führten, während eine aktive Einbeziehung unseres Landes in seine Angelegenheiten von langen Perioden der Stabilität begleitet wurde.
Um ein „Großes Europa“ vom Atlantik bis zum Pazifik zu errichten – und das ist ein anderer Weg, das Thema, das Sie heute gewählt haben, darzustellen, - sind mehrere Bedingungen nötig. Vor allem sollte man sich mit Taten und nicht nur mit Worten um die Errichtung der Architektur der gleichen und unteilbaren Sicherheit bemühen, wie das in den von mir eben erwähnten Beschlüssen der OSZE und des Russland-Nato-Rats verankert ist. Es sollte eine Vereinbarung getroffen werden, dass das Völkerrecht strikt eingehalten wird, darunter die Prinzipien der nationalen Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder, dass auf die Förderung von verfassungswidrigen Machtwechseln in anderen Ländern verzichtet wird.
Präsident Wladimir Putin bestätigte mehrfach unsere Bereitschaft zu solchen Vereinbarungen, zur Erfüllung der einst im Sinne der UN-Charta übernommenen Verpflichtungen. Darüber sprach er auch in der von mir erwähnten Sitzung des Waldai-Klubs in Sotschi. Unser Präsident bestätigte auch öfter die Bereitschaft zur Gestaltung eines einheitlichen Wirtschafts- und humanitären Raums von Lissabon bis Wladiwostok. Unseres Erachtens sind für die Erfüllung dieser strategischen Aufgabe alle nötigen Voraussetzungen vorhanden: unsere gemeinsamen zivilisatorischen und kulturellen Wurzeln, der hohe Grad der gegenseitigen Vervollkommnung unserer Wirtschaften, das Festhalten an einheitlichen Handelsregeln im Sinne der WTO-Normen, das Interesse an der Suche nach Wegen zu innovativem Wachstum.
In diesem Sinne legen wir viel Wert auf das Thema, das Motto, die Aufgabe, das bzw. die sich als „Integration der Integrationen“ bezeichnen lässt, also auf die Förderung des praktischen Zusammenwirkens zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Im Oktober 2015 wurde ein von der EAWU vorbereitetes entsprechendes Dokument der EU-Kommission vorgelegt – gleichzeitig mit dem Aufruf zur Diskussion auf dessen Basis. Wir erwarten nach wie vor eine inhaltreiche Antwort unserer Kollegen in Brüssel.
Natürlich wäre der Bau des „gesamteuropäischen Hauses“ ohne die Bewegungsfreiheit der Bürger (das war übrigens noch in der Abschlussakte von Helsinki vereinbart worden), ohne den Schutz der Rechte von nationalen Minderheiten, ohne den kompromisslosen Kampf gegen jegliche Formen und Äußerungen des Rassismus, des Fremdenhasses, des aggressiven Nationalismus und Chauvinismus unmöglich.
Heutzutage müssen wir uns um die Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens in Europa bemühen, das wegen der Ukraine-Krise beschädigt wurde. Wir alle sind damit einverstanden, dass auf der Tagesordnung nach wie vor die baldmöglichste und vollständige Erfüllung der Minsker Vereinbarungen steht, in deren Rahmen Kiew sich bekanntlich verpflichtete, der Donbass-Region einen Sonderstatus zu verleihen, der in der Verfassung verankert würde, ein Gesetz über Amnestie zu verabschieden und die Kommunalwahlen im Donezbecken durchzuführen. Ich muss unterstreichen, dass es sich um europäische Basisstandards handelt, die für die Bürger das Recht auf die Selbstverwaltung und auf die freie Verwendung der Muttersprache vorsehen. Russland ist an der Konfliktregelung an seinen Grenzen mehr als jemand sonst interessiert, obwohl manchmal Behauptungen zu hören sind, dass wir diesen Konflikt angeblich künstlich verzögern und für immer und ewig anheizen oder – umgekehrt – einfrieren wollen. Das sind aber nur Versuche, die eigenen Probleme auf andere zu schieben.
Zum Abschluss möchte ich ein paar Worte zu den russisch-deutschen Beziehungen sagen. Wir sind überzeugt, dass die konsequente Entwicklung unserer Beziehungen den Interessen unserer Völker entspricht und ein wichtiger Faktor für die Förderung der europäischen Sicherheit und Stabilität ist.
Wir sind an der Aufrechterhaltung und am Ausbau unseres seit vielen Jahren angehäuften positiven Kooperationspotenzials und treten konsequent für die Aufrechterhaltung und Vertiefung des gleichberechtigten und respektvollen Dialogs ein. Wir sind bereit, ganz verschiedene Initiativen und Vorschläge zu besprechen und akute Fragen konstruktiv zu regeln.
Wir wissen, dass man in Deutschland inzwischen immer besser versteht, dass es für die Normalisierung der Beziehungen mit Russland keine Alternativen gibt und dass es dringend nötig ist, diverse etablierte Kooperationsformate wiederzubeleben. Wir bekommen regelmäßig entsprechende Signale von Vertretern der deutschen Öffentlichkeit, der Geschäftskreise und von einfachen Menschen. Wir können diese Einstellung nur begrüßen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir diese positive Einstellung keineswegs provozieren – außer der öffentlichen Demonstration unserer Bereitschaft zu normalen und respektvollen Beziehungen.
Es ist erfreulich, dass die Kontakte unserer Parlamente, unserer Behörden und Regionen sich immer weiter entwickeln, wie auch die Kontakte zwischen Vertretern beider Gesellschaften auf Gebieten wie Kultur, Wissenschaft, Bildungswesen und Geschichte. Im Juni haben wir gemeinsam mit meinem Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier das russisch-deutschen Jahr der Jugendaustausche eröffnet, das dem 2015 zu Ende gegangenen gegenseitigen Jahr der russischen Sprache und Literatur in Deutschland und der deutschen Sprache und Literatur in Russland folgt. Es ist erfreulich, dass das Gesellschaftsforum „Petersburger Dialog“ seine Arbeit wiederaufgenommen hat – das ist ein sehr wichtiger Ort für die Vertiefung der Kontakte auf der Ebene der „Volksdiplomatie“. Wir sind auch damit zufrieden, dass jegliche Versuche, dieses Format, das auf die positive Entwicklung unserer Beziehungen ausgerichtet ist, zu ändern und in eine Art Beziehungen zwischen dem Lehrer und dem Lehrling zu verwandeln, sehr weise abgelehnt wurden. Das Forum arbeitet nach wie vor konstruktiv.
Einen wichtigen Beitrag zu unserer gemeinsamen Arbeit leisten, wie ich schon sagte, auch die Potsdamer Begegnungen. Ich rechne damit, dass unser Interesse am Dialog (wenn man den hochintellektuellen Inhalt der Diskussionen bedenkt) uns helfen wird, optimale Antworten auf die schwierigen Probleme zu finden, mit denen wir heutzutage konfrontiert werden und mit denen, soweit ich verstehe, alle unzufrieden sind.
Ich wünsche Ihnen abermals konstruktive Diskussionen.