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Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für die Beilage "Russia Beyond the Headlines” der Zeitung „Rossijskaja Gaseta“ in der britischen Zeitung "The Daily Telegraph", 26. August 2014

1975-26-08-2014

Frage: Es mehrten sich besonders in den westlichen Medien die Meldungen, dass russische Truppen in der Ukraine einmarschieren könnten, dass diese sogar bereits die Grenze überschritten hätten und sich jetzt auf ukrainischem Territorium befänden. Ist Ihrer Meinung nach so etwa möglich?

Lawrow: Leider verbreiten die Medien weiterhin Gerüchte, verzerrte Informationen und sogar offensichtliche Lügen. Unlängst verkündete die Ukraine, dass ihre Artillerie eine Panzerkolonne zerstört habe, die sich angeblich aus Russland in die Ukraine bewegte, und dabei berichteten zwei britische Zeitungen sogar, dass ihre Journalisten Zeugen dieses Einfalls waren. Es wurden jedoch keine Beweise für die Echtheit dieser Informationen geliefert und sogar das Außenministerium der USA konnte die Informationen über diesen Vorfall nicht bestätigen.

Wir bewerten alle diese Berichte als Erscheinungen des Informationskriegs.

Frage: Der echte Krieg wird jedoch schon geführt. Was kann Russland zur Beilegung dieser Krise tun?

Lawrow: Unsere Position ist äußerst klar: Wir wollen in der Ukraine einen Frieden, den man nur durch einen breiten nationalen Dialog unter Teilnahme aller Regionen und aller politischen Kräfte des Landes erreichen kann.

Gerade darüber einigten sich Russland, die USA, die EU und die Ukraine am 17. April in Genf. Auf dem jüngsten Treffen der Außenminister Russlands, Deutschlands, Frankreichs und der Ukraine in Berlin trat niemand gegen die Bekräftigung der Bestimmungen der Genfer Erklärung auf. Kiew muss die Kriegsspiele beenden und sich von der Illusion lossagen, dass die Krise in der Ukraine durch einen Sieg im Krieg gegen das eigene Volk überwunden werden kann. Zu unserem großen Bedauern unterstützen die USA und die EU weiterhin blind jegliche Handlungen Kiews.

Ich möchte noch ein Dokument erwähnen, welches Kiew und der Westen der Vergessenheit anheim geben wollen. Es handelt sich um das Abkommen vom 21. Februar über die Beilegung der Krise, welches von Wiktor Janukowitsch, Arsenij Jazenjuk, Wladimir Klitschko und Oleh Tjahnybok unterzeichnet und von den Außenministern Frankreichs, Deutschlands und Polens beglaubigt wurde. Jetzt wird gesagt, dass die „nachfolgenden Ereignisse diesem Abkommen den Sinn nahmen", da Janukowitsch das Land verlassen hat. Ich möchte jedoch meine Kollegen daran erinnern, dass im Abkommen vom 21. Februar die erstrangige Verpflichtung zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit vorgesehen war. Hängt die Erreichung eines solchen Ziels von der Person Janukowitsch ab? Ist die nationale Einheit etwa kein universelles Prinzip für jedes Land, welches geeint bleiben möchte? Anstatt der Durchführung dieser Verpflichtung organisierten die Oppositionsführer danach einen bewaffneten Staatsstreich und verkündeten öffentlich die Schaffung einer „Regierung der Sieger". Leider ist die Logik „der Sieger erhält alles" weiterhin das führende Grundprinzip für die Handlungen Kiews, welche den Tod von Tausenden Zivilisten, die Existenz von hunderttausenden Flüchtlingen und Vertriebenen sowie die fast vollständige Zerstörung der sozialen Infrastruktur vieler Städte und Ortschaften im Osten der Ukraine nach sich zogen.

Frage: Viele sprechen von einem neuen Kalten Krieg in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, wenn man die Verhängung von wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland durch die USA und die EU-Länder in Betracht zieht. Welche Gegenmaßnahmen kann Russland bei einer Verschärfung der Sanktionen durch diese Länder treffen?

Lawrow: Versuche zur Lösung von Krisensituationen durch einseitige Sanktionen, welche über die Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrats hinausgehen, bedrohen den internationalen Frieden und die Stabilität. Solche Versuche sind kontraproduktiv und widersprechen den Normen und Prinzipien des Völkerrechts.

Mit Russland – wie übrigens auch mit jedem anderen Land – in der Sprache von Ultimaten und Zwangsmaßnahmen zu sprechen, ist absolut inakzeptabel. Unsere Antwort auf die einseitigen Schritte der Vereinigten Staaten, der EU und einiger anderer Staaten ist ausgewogen und berücksichtigt die Rechte und Verpflichtungen Russlands in internationalen Verträgen, darunter auch im Rahmen der Welthandelsorganisation.

Frage: Mit Sanktionen wird jedoch weiterhin gedroht und sie werden auch schon angewandt. Wird Russland auf neue Sanktionen reagieren?

Lawrow: Das ist nicht unsere Wahl, aber es gibt keine Zweifel: Wir werden alles tun, was für den Schutz unserer legitimen Interessen notwendig ist, darunter auch der Interessen der nationalen Sicherheit in allen ihren Dimensionen. Gerade auf Grundlage dieses Verständnisses trafen wir die Entscheidung, für ein Jahr den Import von landwirtschaftlichen Produkten und Lebensmitteln aus einigen Ländern zu beschränken, welche gegenüber Russland sektorale Wirtschaftssanktionen verhängten.

Aber Russland möchte nicht den Weg einer Zunahme der Spannungen beschreiten. Wir hoffen, dass die USA, die Europäische Union und andere Länder die Stimme der Vernunft vernehmen und diesen sinnlosen Teufelskreis von Handlungen nach dem Prinzip „Auge um Auge" beenden werden, den sie selbst in Gang setzten.

Frage: Die Katastrophe mit dem Flugzeug der malaysischen Fluggesellschaft verlieh den Ereignissen in der Region noch größeren Schrecken. Wie ist die Einschätzung Russlands hinsichtlich des Untersuchungsverlaufs des Flugzeugabsturzes im Osten der Ukraine?

Lawrow: Der Absturz des malaysischen Flugzeugs ist eine schreckliche Tragödie. Seit 17. Juli, als dieser geschah, rufen wir zur Durchführung einer offenen und objektiven internationalen Untersuchung auf. Man kann die Gründe nicht erklären, warum die ukrainischen Behörden, welche die volle Verantwortung für die Sicherheit der internationalen Flüge über dem Territorium ihres Landes tragen, nicht den Luftraum über dem Gebiet der Kampfhandlungen sperrten.

Die vom UNO-Sicherheitsrat am 21. Juli verabschiedete Resolution 2166 sieht die Durchführung einer umfassenden, sorgfältigen und unabhängigen Untersuchung dieses Vorfalls in Entsprechung mit den Richtlinien der internationalen Zivilluftfahrt vor.

Leider sind wir von Beginn an Zeugen von Versuchen, Beweise verschwinden zu lassen und die Durchführung dieser Resolution zu verhindern. Die ukrainischen Machthaber ignorierten mehr als zehn Tage die Forderung nach einer Waffenruhe im Absturzgebiet und unser Vorschlag, zur völligen Einhaltung der Resolution 2166 aufzurufen, wurde im Sicherheitsrat von den USA, Großbritannien und Litauen blockiert. Zur gleichen Zeit begannen gerade diese und einige andere Länder, haltlose Anschuldigungen gegenüber Russland zu verbreiten.

Ich möchte noch einmal erklären, dass Russland im vollen Maße für eine internationale Untersuchung in völliger Übereinstimmung mit der Resolution 2166 eintritt. Wir wollen, dass die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) in dieser Frage eine aktivere Rolle spielt, und wir glauben, dass die UNO und die ICAO die internationalen Bemühungen koordinieren sollen, um die Untersuchung möglichst rasch zu beenden und um überzeugende Ergebnisse zu erhalten. Russland ist das einzige Land, welches der internationalen Gemeinschaft offiziell die Daten über die geschehene Tragödie zur Verfügung stellte, welche wir unter Nutzung unserer Möglichkeiten der Überwachung vom Weltraum aus erhielten. Wir warten, wann auch andere Länder die ihnen zur Verfügung stehenden Daten vorlegen werden.

Frage: Was denken Sie, wird es einen Zugang zu allen mit der Flugzeugkatastrophe im Zusammenhang stehenden Daten geben, damit die Untersuchungsexperten bestimmen können, was tatsächlich geschah?

Lawrow: Von uns wurden mehrere Fragen formuliert, die bis jetzt ohne Antwort blieben. Wo sind zum Beispiel die Gesprächsaufzeichnungen zwischen den Piloten des Flugs MH17 und der ukrainischen Flugsicherung und warum wurden sie nicht der internationalen Gemeinschaft zur Verfügung gestellt? Warum schickten die Fluglotsen das Flugzeug in die Zone des bewaffneten Konflikts? Was machte ein Flugzeug der ukrainischen Luftwaffe in unmittelbarer Nähe der malaysischen Boeing unmittelbar vor ihrem Absturz? Was geschieht mit den Trümmern des Flugzeugs am Absturzort und warum wurden diese bis jetzt noch nicht von den internationalen Organen sorgfältig untersucht, welche die Untersuchung durchführen? Wie sehr kann man eine Untersuchung für objektiv und unabhängig halten ohne sicheren und ungehinderten Zugang der Experten zum Absturzort des Flugzeugs, wo Kiew unter Verletzung der UNO-Sicherheitsratsresolution 2166 erhöhte militärische Aktivitäten ausübt? Und wo sind die dokumentarischen Beweise, welche die Erklärungen von US-Vertretern über die Absturzursachen des Flugzeugs bestätigen?

Wir hoffen, Antworten zu erhalten auf diese und andere Fragen sowohl von den Staaten, die eine führende Rolle bei der Durchführung der internationalen Untersuchung spielen, als auch von jenen, welche mit haltlosen öffentlichen Erklärungen an die Öffentlichkeit traten. Die Wahrheit muss festgestellt werden. Das ist unsere entschlossene Forderung, die wir auf der jüngsten Sitzung des UNO-Sicherheitsrats erhoben, wobei wir berücksichtigten, dass einige Mitgliedsländer keinen besonderen Enthusiasmus für die Durchführung einer transparenten und berichtspflichtigen Untersuchung an den Tag legen.

Wir dürfen nicht erlauben, dass die Untersuchung der Ursachen für die Katastrophe des Flugs MH17 verschleppt wird, wie das schon mit den Untersuchungen vieler anderer ukrainischer Tragödien geschah, wie etwa die Tötung durch Scharfschützen von Zivilisten in Kiew im Februar, die Blutbäder in Odessa und Mariupol im Mai und so weiter. Wir werden entschlossen darauf beharren, dass diejenigen, welche für diese Verbrechen schuldig sind, zur Verantwortung gezogen werden.

Frage: Die Zahl der durch diesen Konflikt Umgekommenen ist schon sehr hoch. Zehntausende Menschen sind gezwungen, wegen des Beschusses ihre Häuser zu verlassen. Was denken sie über die humanitäre Lage in der Ukraine?

Lawrow: Die humanitäre Lage in den Gebieten Lugansk und Donezk ist katastrophal und verschlechtert sich weiterhin. Das ist übrigens nicht nur unsere Meinung. Eine solche Einschätzung wird weitgehend geteilt von der UNO, darunter auch vom UNO-Büro für die Koordinierung humanitärer Fragen, vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und vom Europarat.

Mehr als 2.000 Menschen wurden getötet und mehr als 5.000 verletzt, darunter auch viele Kinder. Es herrscht ein akuter Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten, die Gefahr des Ausbruchs von Infektionskrankheiten wächst. Mehr als 200.000 Bewohner von Lugansk haben keinen Strom, kein Trinkwasser und auch keine Telefonverbindung.

Das Konfliktgebiet hat eine große Anzahl von Menschen verlassen. Seit 1. April kamen aus der Ukraine auf russisches Territorium mehr als 775.000 Bürger der Ukraine und 190.000 Ukrainer stellten ein Ansuchen um Zuerkennung des Flüchtlingsstatus in Russland. In unserem Land wurden behelfsmäßige Unterkünfte für die Unterbringung von zehntausenden Flüchtlingen geschaffen.

Unter diesen Bedingungen ist es äußerst wichtig, die unverzügliche Lieferung von humanitärer Hilfe an die Bewohner der Südostukraine sicherzustellen. Die humanitären Probleme müssen alle Menschen guten Willens vereinigen, welche sich um die Linderung der Leiden der höchst bedürftigen Menschen bemühen, besonders von Frauen, Kindern und alten Menschen.

Frage: Aber Russland erweist eine solche Hilfe. Was geschah mit dem humanitären Konvoi?

Lawrow: Russland schickte in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz einen humanitären Konvoi, der aus etwa 300 LKWs bestand, die 2.000 Tonnen medizinische Utensilien, Lebensmittel, Schlafsäcke, Elektrogeneratoren und andere Gegenstände des alltäglichen Bedarfs lieferten. Der Konvoi war bereits am 17. August bereit, an den Bestimmungsort aufzubrechen, wurde jedoch aufgehalten, wobei diese Verzögerung in erster Linie durch die Verschleppungsmanöver der Kiewer Behörden bedingt waren. Diese griffen zu einer solchen Taktik, obwohl sie diese Fracht als humanitäre Hilfe des Roten Kreuzes anerkannten und sie ukrainische Grenz- und Zollbeamte zur Kontrolle mit allen Prozeduren zum russischen Grenzübergang „Donezk" entsandten.

Wir appellieren eindringlich an die ukrainische Regierung, die eigenen Versprechungen zu halten und die sichere und ungehinderte Durchfahrt von zukünftigen Konvois mit humanitärer Hilfe zu unterstützen. Wir hoffen auch, dass unsere Partner im Westen und in den internationalen Organisationen das Ausmaß der Katastrophe im vollen Maß erkennen und einen praktischen Beitrag leisten werden zur Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse der Zivilbevölkerung in der Südostukraine.

Die Hauptaufgabe bei den Bemühungen zur Beendigung der Leiden der Zivilbevölkerung in der Ukraine bleibt jedoch weiterhin eine Waffenruhe. Jeden Tag sterben Menschen und wird zivile Infrastruktur zerstört. Wir sind fest davon überzeugt, dass eine Waffenruhe bedingungslos sein und den Weg zu einem ernsthaften politischen Dialog und einem Verfassungsreformprozess unter Teilnahme aller Regionen und politischer Formierungen der Ukraine eröffnen muss, in Entsprechung mit dem Abkommen, welches von der EU, Russland, der Ukraine und den USA in der Genfer Erklärung vom 17. April 2014 ausformuliert wurde.


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