Interview des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, für russische und ausländische Medien zu aktuellen Fragen der internationalen Tagesordnung am 12. November 2020 in Moskau
Sergej Lawrow: Guten Tag, liebe Kollegen.
Wir haben seit langem aus verständlichen Gründen nicht gesprochen, doch wir sind nicht allein auf die Pandemie angewiesen. Es gibt viele Ereignisse in ganz verschiedenen Regionen der Welt, darunter nahe den russischen Grenzen und in anderen Teilen der Welt, wo wir unsere legitimen Interessen haben. Deswegen reagierte ich gerne auf einen Vorschlag, heute in solchem Format zu sprechen. Ich stehe ihnen zur Verfügung. Maria Sacharowa wird diesen Prozess leiten.
Frage: Zur Bergkarabach-Regelung und der Rolle der Türkei in der Region. Erstens, wie werden im Beobachtungszentrum in Aserbaidschan die türkischen Beobachter arbeiten, und sind bereits die Grenzen ihrer Mobilität bestimmt? Zweitens, der Außenminister und der Verteidigungsminister der Türkei machten heute am morgen eine Erklärung, dass die Türken dieselbe Rolle in der Überwachung wie die Vertreter der russischen Seite spielen werden. Der Außenminister der Türkei Mevlüt Cavusoglu sagt bereits, dass vor Parlament eine Frage über die Entsendung der türkischen Militärs gestellt werden soll. Hat Ankara das Recht darauf und wie kann man solche Schritte der Türkei betrachten angesichts der Tatsache, dass das Wort die Türkei in einer gemeinsamen Erklärung zu Bergkarabach der Anführer Armeniens, Aserbaidschans und Russlands überhaupt nicht erwähnt wird?
Sergej Lawrow: Die Grenzen der Mobilität der türkischen Beobachter sind mit den geografischen Koordinaten begrenzt, die für die Stationierung des russisch-türkischen Überwachungszentrums im Teil Aserbaidschans, der nicht nahe Bergkarabach ist und zusätzlich zur Einrichtung eines gemeinsamen Überwachungszentrums abgestimmt wird, bestimmt werden sollen. Gestern wurde darüber ein Memorandum auf der Ebene der Verteidigungsminister Russlands und der Türkei unterzeichnet. Das Zentrum wird ausschließlich im Remote-Format funktionieren, wobei technische Mittel der objektiven Kontrolle darunter Drohnen und andere Technologien, die die Überwachung der Situation auf dem Boden in Bergkarabach, vor allem an der Kontaktlinie verfolgen und bestimmen lassen, welche Seite die Bedingungen der Waffenruhe und Einstellung der Kampfhandlungen einhält und welche Seite verletzt, genutzt werden. Damit werden die Grenzen der Mobilität der türkischen Beobachter mit diesen Räumen begrenzt, die auf dem aserbaidschanischen Territorium und nicht auf dem Territorium des ehemaligen Konfliktes bereitgestellt werden.
Ich habe die Erklärungen des Außenministers der Türkei Mevlüt Cavusoglu, Verteidigungsministers der Türkei Halusi Akar darüber gelesen, dass sie auf derselben Grundlage wie auch die Russen arbeiten werden. Es handelt sich ausschließlich um das Zentrum, das in Aserbaidschan stationär, ohne auswärtige Missionen aufgestellt wird. In diesem Zentrum werden russische und türkische Beobachter, Spezialisten auf gleicher Grundlage arbeiten. Es werden keine Friedenseinheiten der Türkei nach Bergkarabach gerichtet. Das ist in der von Ihnen erwähnten Erklärung der Anführer eindeutig festgelegt.
Jetzt gibt es viele Interessierte (übrigens auch bei uns), die erreichten Vereinbarungen verzerrt vorzustellen. Ich lese erstaunt einige solche Einschätzungen aus der Reihe der allwissenden Laien. In anderen Ländern der Welt gibt es auch viele Spekulationen, doch man soll sich danach richten, was auf Papier steht und das Ergebnis der anstrengenden Verhandlungen ist, die in der letzten Woche vor der Ausrufung der Waffenruhen verliefen.
Frage: Seit gestern sind in Armenien Aufrufe zur Auflösung des Abkommens, das zwischen Aserbaidschan und Armenien unter Vermittlung des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, erreicht wurde, zu hören, was als Provokation, die mit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen droht, wahrgenommen werden kann. Dabei versuchen einige Vertreter, die Präsenz der russischen Friedenssoldaten als ein Schild zu präsentieren. Wie würden Sie solche Erklärungen kommentieren? Wie gefährlich sind sie und welche Folgen können sie nach sich ziehen?
Sergej Lawrow: Die jetzige Etappe des Konfliktes begann, nachdem sich innerhalb einer ziemlich langen Periode äußerst emotionale, aggressive, konfrontative Erklärungen anhäuften. Wir würden bevorzugen, dass der ganze Konflikt seit langem auf Prinzipien geregelt ist, die von den Kovorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE entwickelt wurden. Darüber sprach in der letzten Zeit mehrmals der Präsident Aserbaidschans, Ilham Alijew, wobei seine Bereitschaft hervorgehoben wurde, auf Grundlage dieser Prinzipien das zu erfüllen, was von den Kovorsitzenden vorgeschlagen wurde. Wären wir diesen Weg gegangen, wäre das Ergebnis wohl fast gleich gewesen, was die Befreiung von fünf und danach zwei Gebieten betrifft. Doch erstens wäre das unblutig gemacht worden und zweitens wäre das in Verknüpfung mit einer endgültigen politischen Regelung gemacht worden.
Diese friedlichen Vorschläge und politisch-diplomatischen Schritte, die vorgeschlagen und auf einer Etappe von Allen ohne Ausnahme geteilt wurden, wurden in der letzten kurzen Zeit infrage gestellt. Es wurde gesagt, dass wenn man den Weg der Rückgabe von fünf und zwei Gebieten geht, wird das nicht die Sicherheit gewährleisten. Von beiden Seiten häuften sich ziemlich emotionale, harte, aggressive Aussagen an. Die Atmosphäre spitzte sich zu. Es gab Vorfälle an der Grenze Armeniens und Aserbaidschans. Sie wurden ziemlich schnell eingedämmt, doch dieser Wunsch der schnellstmöglichen Lösung „schwebte in der Luft“.
Es wurden Anstrengungen von den Kovorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE, die mit entsprechenden Aufrufen auftraten, unternommen, danach wurden Erklärungen auf der Ebene der Außenminister Russlands, Aserbaidschans und Armeniens, die anschließend in neuen Dokumenten, die schon von Franzosen und danach Amerikanern als unsere Kovorsitz-Kollegen initiiert wurden, gemacht. Nichts davon funktionierte und förderte einen realen Waffenstillstand, weil in allen diesen Fällen ein Mechanismus der Kontrolle des Waffenstillstandes, zu dem die Kovorsitzenden aufriefen, nicht geschaffen wurde.
Eine prinzipiell neue Qualität zu allen diesen Vereinbarungen wurde verliehen, als auf der Ebene der Präsidenten Russlands und Aserbaidschans und des Premierministers Armeniens in der letzten Woche intensive Verhandlungen liefen. Präsident Wladimir Putin sprach mit jedem von seinen Kollegen mehrmals pro Tag. Die größte Aufmerksamkeit wurde darauf konzentriert, eine Friedensoperation abzustimmen. Im Ergebnis wurde sie abgestimmt. Ihre Zusammensetzung wurde von der Russischen Föderation auf Bitte der Seiten – Bakus und Jerewans bestimmt. Die Mission wird bereits in Bergkarabach an der Kontaktlinie aufgestellt, wobei gleichzeitig der Latschin-Korridor für Verbindung zwischen Bergkarabach und der Republik Armenien versorgt wird.
Wir sehen die Proteste, die jetzt in Jerewan ausgebrochen sind. Wir sehen, wie die Opposition um diese Situation zu spekulieren versucht. Dort gibt es natürlich Menschen, die aufrichtig sind und denen es bitter ist, wie die aktuelle Phase zu Ende geht. Aber es darf keine Illusionen geben, dass die sieben Landkreise um Bergkarabach für immer und ewig in der Situation bleiben müssten, in die sie vor anderthalb oder zwei Monaten geraten sind.
Meines Erachtens hätten verantwortungsvolle Behörden der Bevölkerung erklären sollen, dass sie diese Regelung irgendwann vornehmen müssten, und zwar im Sinne der Prinzipien, die die Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe vorgeschlagen hatten. Diese Prinzipien liegen schon seit vielen Jahren auf dem Tisch. Sie eröffneten einen idealen Weg zur Konfliktregelung ohne jegliches Blutvergießen und ohne Gefahren für die Sicherheit der Menschen in dieser Region, vor allem der in Karabach lebenden Armenier und auch Vertreter anderer ethnischen Gruppen, wie auch der Länder der Region – Armeniens und Aserbaidschans.
Die Entsperrung aller Kommunikationen – im Verkehrs- und im Wirtschaftsbereich – sollte eine enorm positive Rolle für die Wiederbelebung dieser Region spielen, unter anderem für den Aufschwung der armenischen Wirtschaft, die mehr als alle anderen wegen der Unterbrechung der Handels- und Verkehrsverbindung durch Aserbaidschan und die Türkei leiden musste. Jetzt werden all diese Verbindungen im Sinne der in Kraft getretenen Vereinbarung wiederhergestellt. Die Wirtschaft wird jetzt frei aufatmen, es sollen wieder Verkehrsverbindungen mit den Partnern Armeniens entstehen. Ich bin überzeugt: Wenn wir all das, was vereinbart wurde, erfüllen, werden alle davon profitieren. Vorerst sehe ich keine Merkmale dafür, dass jemand versuchen würde, diese Vereinbarungen zum Scheitern zu bringen.
Wir kommunizieren mit unseren armenischen Kollegen. Gestern sprach Präsident Putin mit dem Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan. Heute vormittag sprach ich mit dem Außenminister Armeniens, Sograb Mnazakanjan. Ich bin überzeugt, dass die armenische Führung ihre Verantwortung voll und ganz begreift und die Vereinbarungen unterzeichnet hat, indem sie von den höchsten Interessen ihres Volkes ausging. Ich bin sicher, dass die Einheit dieses Abkommens aufrechterhalten wird, und dass es in die Tat umgesetzt wird. Jedenfalls sehe ich zahlreiche politische Kräfte in Armenien, die verstehen, was gerade vorgeht, und richtige Schlüsse daraus ziehen.
Frage: Was den vierten und den neunten Punkt der Erklärung über Waffenstillstand angeht: Laut dem vierten Punkt wird der Aufenthalt des russischen Friedenskontingents fünf Jahre dauern und automatisch um weitere fünf Jahre verlängert. Ist die Präsenz der russischen Friedensstifter eine provisorische oder die fristlose Garantie für die Sicherheit des Volkes Bergkarabachs?
Sergej Lawrow: Sie haben die Punkte zitiert, in denen die Antwort auf Ihre Frage enthalten ist. Es wurde die Frist von fünf Jahren festgelegt. Sie kann um weitere fünf Jahre verlängert werden, falls keine der Seiten sechs Monate vor Ablauf dieser Frist vorschlägt, die Anwendung dieser Bestimmung einzustellen. Dort steht alles geschrieben.
Meines Erachtens ist das eine durchaus vernünftige Formulierung. Sie bestimmt ein ausreichendes „Horizont“ dafür, dass die Situation nicht nur sich beruhigt, sondern auch sich irgendwie in Richtung Aufbau entwickelt – und in Bergkarabach muss nun einmal vieles aufgebaut werden. Ich sage einmal, dass alle mit dem Status verbundenen Fragen geregelt werden müssen, vor allem aus der Sicht der Einhaltung der Rechte der ethnischen bzw. konfessionellen Gruppen, die dort lebten und leben. Alle Flüchtlinge und Zwangsumsiedler sollen das Recht bekommen, nach Bergkarabach zurückzukehren, ihre kulturellen, zivilisatorischen und religiösen Wurzeln wiederherzustellen.
Es muss auch die Situation um die zahlreichen Kulturbauten – Kirchen, Moscheen – geregelt werden, von denen viele gerade verfallen sind. Das gilt auch für religiöse Objekte in anderen Teilen der Region. Die armenische Seite warf öfter die Frage vom Schicksal von christlichen Gotteshäusern in Nachitschewan auf. Ich bin überzeugt, dass jetzt, wenn wir uns mit friedlicher Regelung nach der Einstellung der Gefechte befassen, diesen Fragen des Kulturerbes der Armenier, Aserbaidschaner und anderer Gruppen, die auf dem Territorium dieser Länder leben, eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Das wird einer der wichtigsten Schritte sein, der die Wiederherstellung des Friedens und Einvernehmens zwischen Vertretern verschiedener Ethnien fördern wird. Im Allgemeinen muss vieles dafür getan werden, dass das Kulturerbe der Armenier und Aserbaidschaner, die historisch sehr eng mit Bergkarabach verbunden sind, ebenfalls zu einem Vereinigungsfaktor wird, was die Schritte angeht, die unternommen werden sollten.
Ich hoffe, dass dieser fünfjährige Aufenthalt des russischen Friedenskontingents, mit der wir begonnen haben, mindestens erlauben wird, eine sehr feste Basis für weitere Fortschritte in dieser Richtung zu legen. Ich will jetzt nicht voreilig sein und darüber sprechen, was fünf Jahre später passieren könnte. Wir sind tief davon überzeugt, dass die Seiten am Aufenthalt der russischen Friedensstifter interessiert sind. Wir haben eine Möglichkeit für Außerkraftsetzung ihres Mandats vorgesehen, aber lassen Sie uns nicht über irgendwelche unrealistischen Projekte reden, lassen Sie uns jetzt keine Prognosen machen. Lassen Sie uns die russischen Friedensstifter bei der Erfüllung ihres sehr schwierigen Mandats unterstützen, damit in Karabach wieder friedliches Leben einkehrt, und zwar auf seinem ganzen Territorium.
Frage: Welchen Sinn hat es jetzt, die Verhandlungen über die Verlängerung des START-Vertrags wohl schon mit der scheidenden Administration Trumps (die uns maximal ein Jahr gab, und das mit Vorbedingungen) zu führen, wenn der künftige Präsident Joe Biden für Jahre ohne Vorbedingungen geben wird?
Sergej Lawrow: Die Frage „welchen Sinn hat es für uns, jetzt etwas zu machen“, sieht vor, dass wir daran interessiert sind. Wir haben unser Interesse gezeigt, indem gesagt wurde, dass auf dem Tisch Vorschläge liegen, die uns nicht mehr als Amerikanern notwendig sind.
Jetzt lese ich ziemlich hastige Kommentare aus Washington und vor allem aus der scheidenden Administration - Administration Donald Trumps. Dort hat man es noch nicht bestimmt wegen des Weggehens. Sie geht jedenfalls weg – auch wenn die Republikaner in das Weiße Haus ziehen, wird das eine neue Administration sein. Von der Administration Trumps hören wir ziemlich hastige Kommentare – Russland habe ja wenig Zeit, um darüber zu entscheiden, mit wem es den Vertrag unterzeichnen will – mit Donald Trump oder will es das alles Joe Biden schenken, oder will es jedoch Donald Trump Freude bereiten, damit er Joe Biden den außenpolitischen Triumph wegnimmt.
Das alles sind schon wieder Gespräche von Laien, die aus solcher Sicht geführt werden – „wer gewinnen wird – wer verlieren wird“. Wir sind daran nicht interessiert. Wir sind daran interessiert, dass alle gewinnen. In der jetzigen Situation, was den START-Vertrag betrifft, können alle ausschließlich im Falle seiner Verlängerung ohne jegliche Vorbedingungen gewinnen. Das haben wir bereits vor mehr als einem Monat vorgeschlagen, die Amerikaner begannen irgendwie, da die Merkmale unserer Schwäche, eines besonderen Interesses an einer obligatorischen Verlängerung dieses Vertrags um jeden Preis zu suchen, sie stellten unannehmbare Forderungen. In der letzten Zeit sagen sie, dass sie bereit sind, den Vertrag zu verlängern, doch man soll angeblich nicht einfach alle Atomgeschosse via politische Verpflichtungen einfrieren, sondern sie zählen und sehen, aus welcher Kategorie diese Geschosse stammen, sofort die Objekte, wo diese Geschosse hergestellt werden, unter Kontrolle nehmen.
Wir waren bereits in solcher Situation, als US-Inspekteure an den Eingängen unserer Rüstungsfabriken saßen. Das war in den 90er-Jahren. Es wird nie mehr eine Rückkehr zu diesem System geben. Danach wurde uns gesagt: „Wir sind bereit, zu verlängern, doch sie sollten neben der Vorstellung ihrer Geschosse auch unsere Inspekteure an den Eingängen der Fabriken setzen, wo diese Geschosse hergestellt werden, sie sollen noch ein paar neue Waffen liquidieren wie Poseidon, Burewestnik. Über die anderen kann man sprechen, und diese sollen einfach vernichtet werden“. Ich weiß nicht, was es hier mehr gibt – Interesse an einem realen Dialog über strategische Stabilität, um die Sicherheit des eigenen Landes, Verbündeten und der Menschheit im Ganzen zu gewährleisten oder doch PR, Versuche, den Preis zu erhöhen, zu zeigen, dass man geil ist.
Unter Bedingungen eines anstrengenden Situation in den USA während der andauernden Zählung der Stimmen, Gerichtsklagen und anderen Änderungen, sind weder von Menschen Donald Trumps, noch vom Team Joe Bidens irgendwelche klare Vorschläge zu erwarten, die real wären und nicht mit politischer Konjunktur innerhalb Amerikas gefüllt sind. Deswegen werden wir inzwischen warten, bis sich alles beruhigt.
Russlands Präsident Wladimir Putin sagte bereits, dass wir diesen Vertrag nicht mehr als die Amerikaner brauchen. Wir möchten ihn verlängern. Alles, was dazu gemacht werden kann, legten wir auf den Tisch. Die Antwort soll nun von Amerikanern erfolgen. Wenn die Antwort negativ ist, werden wir auch ohne diesen Vertrag leben. Wir haben alles, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Das wurde wieder überzeugend während der jüngsten Serie der Sitzungen, die von Russlands Präsident in Sotschi mit den Militärs und Vertretern des militärindustriellen Komplexes durchgeführt wurden, gezeigt.
Frage: US-Außenminister Mike Pompeo führte ebenfalls Treffen zu Karabach. Ohne Ergebnis. Kann Washington eine konstruktive Rolle in diesem Prozess der Konfliktregelung spielen, und erwarten Sie Änderungen in der Außenpolitik in diesem Zusammenhang in der Administration von Joe Biden?
Sergej Lawrow: Sie sagten, dass US-Außenminister Mike Pompeo ein Treffen ohne Ergebnisse durchführte. Ich würde nicht sagen, dass das Treffen ohne Ergebnisse war. Seit Beginn der Kampfhandlungen unternahmen die Kovorsitzenden Anstrengungen, darunter auf der höchsten Ebene. Es wurde eine Erklärung der Präsidenten Russlands, der USA und Frankreichs mit dem Aufruf an die Seiten, die Kampfhandlungen einzustellen und zur politischen Regelung auf Grundlage der Aspekte, die von den Kovorsitzenden in den letzten Jahren gefördert wurden, zu übergehen. Diese Erklärung funktionierte nicht, ihr wurde nicht zugehört. Danach gab es eine Erklärung der Außenminister Russlands, Aserbaidschans und Armeniens, die in Moskau erstellt wurde und ebenfalls ein Aufruf zur Waffenruhe war, zudem gab es die die Verpflichtung Jerewans und Bakus, die Kampfhandlungen zu stoppen und einen Kontrollmechanismus zu schaffen. Sie endete ebenfalls ohne Ergebnisse. Danach gab es eine Initiative des Präsidenten Frankreichs. Im Remote-Format wurde eine weitere Erklärung zur Unterstützung davon, was schon früher gemacht wurde, abgestimmt. Danach gab es die Initiative Washingtons, wo die Außenminister Aserbaidschans und Armeniens eingeladen wurden.
Das alles schuf eine kritische Masse, die in den letzten Tagen vor 10. November ermöglichte, auf der Ebene der Präsidenten Russlands, Aserbaidschans und des Premierministers Armeniens, diesen Willen der internationalen Gemeinschaft, die in zahlreichen Erklärungen der Kovorsitzenden festgelegt ist, jedoch in die Sprache der praktischen Handlungen zu bringen.
Ich telefonierte gestern mit meinem französischen Kollegen. Meine Mitarbeiter sprachen mit US-Partnern. Wir spürten da etwas wie Kränkung – „Wieso? Uns wurde nichts ausführlich erzählt“. Erstens unterstrichen wir immer öffentlich (der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin sprach darüber), dass wir an der Waffenruhe im Sinne der Positionen arbeiten, die von den Kovorsitzenden dargelegt wurden. Zweitens, was konkreteres und ausführlicheres Informieren betrifft – die Verhandlungen zur Vorbereitung der Erklärung von Moskau vom 9. November dieses Jahres verliefen innerhalb einiger Tage. 24 Stunden pro Tag, einige Telefongespräche pro Tag. Deswegen wenn es beim Wunsch nach Details um eine Einladung ging, nach jedem Gespräch, unsere amerikanischen und französischen Partnern zu benachrichtigen, war es einfach physisch unmöglich. Ich bin davon überzeugt, dass die Erklärungen, die wir letzten Endes gegeben haben, richtig wahrgenommen wurden. Ich spürte gestern nach dem Gespräch mit dem Außenminister Frankreichs, dass es solches Verständnis gibt.
Wir schlugen übrigens im UN-Sicherheitsrat vor, die erreichten Vereinbarungen über den Waffenstillstand zu begrüßen, indem betont wird, dass sie im Sinne der von den Kovorsitzenden gestarteten Initiativen gehen. Wir wollen uns auf keinen Fall von unseren amerikanischen und französischen Kollegen distanzieren. Zudem luden wir sie nach Moskau an, sie werden in den nächsten Tagen da für ein ausführliches Gespräch darüber eintreffen, wie sie die Erfüllung der erreichten Vereinbarungen fördern können, besonders was die Aufnahme des friedlichen Lebens in Karabach betrifft – die Koexistenz der ethnokonfessionellen Gruppen, Wiederbelebung der Kultur- und Kult-Objekte, Gewährleistung ihres sicheren und respektvollen Funktionierens. Eine enorm wichtige Rolle können bei diesem Punkt die Kovorsitzenden zusammen mit UN-Organisationen wie allen voran die UNESCO spielen.
Wir begannen bereits mit vorläufigen Gesprächen mit unseren Kollegen aus anderen spezialisierten UN-Einrichtungen, unter anderem das Büro des UN-Flüchtlingskommissars und der Internationale Komitee vom Roten Kreuz (das ist keine UN-Struktur, doch sie kooperiert eng mit allen Ländern bei der Lösung der internationalen humanitären Probleme). Der Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat seit langem Mandat für die Arbeit auch in Armenien und Aserbaidschan, darunter Karabach. Dieses Mandat gibt es seit vielen Jahren. Wir sprachen mit Vertretern der Führung dieser Organisation in Genf. Wir erwarten den Präsidenten des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, Peter. Maurer, in Moskau in der nächsten Woche. Wir werden darüber sprechen, wie das Rote Kreuz unter neuen Bedingungen seine Arbeit zur Unterstützung beim Austausch der Leichname der Verstorbenen, Rückkehr der Gefangenen, Geiseln und anderer festgehaltenen Personen wiederaufnehmen kann. Damit wird die Rolle der Kovorsitzenden beibehalten, sie wurde mir heute in vollem Maße vom Außenminister Armeniens, mit dem wir ein Telefongespräch hatten, bestätigt. Gestern telefonierte ich mit dem Außenminister Aserbaidschans, der ebenfalls das Interesse an der Fortsetzung der Kooperation der Kovorsitzenden bestätigte.
Frage: Erwarten Sie Änderungen in der Außenpolitik der Administration Joe Bidens nicht nur bezüglich des Karabach-Problems, sondern auch im Ganzen?
Sergej Lawrow: Wissen Sie, Diplomaten sollten natürlich jeweilige Erscheinungen, Änderungen in den Herangehensweisen ihrer Partner zu verschiedenen Problemen in der internationalen Arena prognostizieren. Doch Prognosen in dieser Etappe zu machen ist wohl keine gute Idee. Natürlich verfolgen wir das, was in den USA vor sich geht. Das ist eine große Macht, von ihr hängt weiterhin sehr vieles in der internationalen Arena, obwohl auch nicht alles. Wir können nur die Äußerungen, die Namen verfolgen, die als potentielle neue Teilnehmer der Prozesse in den USA, die mit der Außenpolitik verbunden sind, erwähnt werden. Die Namen werden ebenfalls in der Administration des Präsidenten Donald Trump genannt. Joe Biden erwähnt auch die Namen der Personen, die er in seinem Team sehen möchte.
Was die ersten Ankündigungen davon, wie die Außenpolitik im Falle der Amtseinführung Joe Bidens aussehen könnte, betrifft, würde sie wohl eher den Mustern entsprechen, die Barack Obama voran brachte, was auch logisch ist angesichts der Tatsache, dass Joe Biden dessen Vizepräsident war. Das betrifft vor allem das Klima, die Rückkehr zum Pariser Abkommen, das iranische Atomprogramm - obwohl da auch viele Fragen entstehen. Selbst wenn die Demokraten nach der Bildung der Administration beschließen, zum Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplan zurückzukehren, würde das zahlreichen Äußerungen zufolge nicht in reiner Form sein, sondern es wird versucht, die Vereinbarungen zum eigenen Gunsten zu ändern, um sie erwerblich und intrusiv gegenüber dem Iran zu gestalten. Ich weiß nicht, inwieweit das aussichtsreich sein wird, darüber werde ich nicht spekulieren. Ich bezeichne einfach die Dinge, mit denen man sich befassen soll, nachdem in den USA die Kampagne der Auszählung der Stimmen abgeschlossen ist.
Ich hoffe, dass das Verhalten zu WTO in den USA bei jedem Ausgang der Wahlen jedoch konstruktiver sein wird und Washington die WTO-Arbeit nicht blockiert wird und man nicht versucht, sie zu zerschlagen, zu ersetzen, indem sie mit situationsbedingten bilateralen Abkommen in verschiedenen Teilen der Welt mit ihren Partnern substituiert wird, die keine andere Logik haben, als möglichst große Vorteile für die USA selbst zu bekommen. Im Ganzen erwarten die Europäer mehr Multilateralität bei Herangehensweisen Washingtons, nachdem die ganze Geschichte sich beruhigt. Mal schauen.
In der russischen Richtung erwarten unsere Politologen keine revolutionären Änderungen, ich stimme ihnen im Ganzen zu. Amerika ist tief gespalten, wir sehen das an den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen. Es ist klar, dass verantwortungsvolle Politiker nach Punkten suchen sollen, um diese Spaltung zu überwinden und irgendwelche vereinigende Ideen zu fördern, die das US-Volk zusammenschließen sollen. Doch auch hier setzen viele Beobachter bei der Analyse davon, was zwischen den beiden politischen Kräften – Republikanern und Demokraten - gemeinsam sein kann, um sich irgendwie zusammenzuschließen und gemeinsame Aufgaben zu lösen, auf den ersten Platz das Verhalten zur Russischen Föderation. In den letzten vier Jahren, beginnend mit den letzten Monaten der Präsidentschaft Barack Obamas herrschte in der US-Gesellschaft so starker Russenhass, dass dies jetzt schon ein Teil der politischen Kultur wurde. Es wird bedauerlich sein, wenn man versucht, die USA als Nation auf solcher russlandfeindlichen Grundlage zusammenzuschließen.
Frage: In Belarus halten die Proteste seit mehreren Monaten an. Über die Verfassungsreform ist nicht viel zu hören. Objektiv betrachtet ist es sehr schwierig, über die Situation zu berichten angesichts der Tatsache, dass das weißrussische Außenministerium bislang keine neue Akkreditierungen für jene, die sie beantragt haben, ausgestellt hat. Wird Russlands Außenministerium die russischen Journalisten bei dieser Frage unterstützen?
Sergej Lawrow: Wir werden natürlich unseren Journalisten Unterstützung leisten. Wir planen in diesem Monat die Sitzung eines gemeinsamen Kollegiums der Außenministerien der Russischen Föderation und der Republik Belarus. Wir werden dieses Thema da unbedingt ansprechen. Doch auch ohne auf das Kollegium zu warten, stellen wir diese Fragen an unsere Partner. Ehrlich gesagt, habe ich nicht gehört, dass jemand von russischen Journalisten in der letzten Zeit Schwierigkeiten damit hatte. Die Direktorin der Presse- und Informationsstelle des Außenministeriums Russlands, Maria Sacharowa, weiß sicher darüber Bescheid, sie wird mir etwas dazu sagen können. Wenn notwendig, werde ich sicherlich eine Lösung folgen lassen. Ich sehe keine Gründe, weshalb russische Journalisten keine rechtzeitige Akkreditierung und auch die überwiegende Mehrheit anderer Journalisten, die in Belarus arbeiten wollen - außer jenen, die sich direkt mit der Destabilisierung der politischen Lage in der Hauptstadt und anderen Städten in Belarus befassen - ausgestellt werden sollte. Wir haben solche Beispiele, die weißrussischen Behörden sprechen auch darüber.
Wenn man die Situation im Ganzen betrachtet, sind wir natürlich darüber besorgt, dass verschiedene Unruhen fortgesetzt werden, obwohl wir auch zufrieden sind, dass die Proteste nachlassen. Die Zahl der Teilnehmer der nicht genehmigten Aktionen geht zurück. Am letzten Sonntag gab es einige Tausend – 3000 bis 5000. Das sind nicht die Zahlen, die es früher gab, als mehr als 100.000 Menschen auf die Straße kamen. Dieser Rückgang der Massenaktivität widerspiegelt offensichtlich das Verständnis von den Menschen, die aufrichtig auf die Straßen kamen und gehört werden wollten, dass die Situation beruhigt werden soll, man soll zum konstruktiven Dialog übergehen, zudem gab es seitens der Behörden verständliche Vorschläge. Sie bleiben auf dem Tisch der Verhandlungen, ich meine auch die Verfassungsreform. Doch der Rückgang der Massenproteste wegen der Aufrichtigkeit der Menschen, die ein besseres Leben und einen Dialog mit den Behörden wollten, gehört werden wollten, wird durch die Aggressivität jener ausgeglichen, die jetzt auf die Straßen kommen. Das sind eindeutig die Menschen aus einer anderen Kategorie – jene, die die Rechtsschutzorgane für Gewaltanwendung provozieren wollen. Junge Menschen, unter denen es viele kriminelle Elemente mit Steinen, Stahleinlagen und Molotow-Cocktails gibt. Sie sind eindeutig auf aggressive Handlungen gestimmt.
Das ist eine Provokation, der Versuch, der Situation nicht in Richtung eines politischen Dialogs entwickeln zu lassen, wozu der Präsident von Belarus Alexander Lukaschenko aufruft, wenn er die Initiative einer Verfassungsreform durchsetzt. Soweit ich verstehe, wird sie jetzt aktiv besprochen. Ich kann nicht sagen, dass dies irgendwie unterbrochen worden ist. Es gibt einen eindeutigen Terminplan, Inhalt, der der Bevölkerung erklärt wird – die Beschränkung der Vollmachten des Präsidenten von Belarus, die Umverteilung eines Teils der Verpflichtungen des Staatschefs zwischen dem gesetzgebenden Machtorgan, der Regierung und regionalen Strukturen. Es wird die Möglichkeit der Parlamentsreform besprochen, damit es mit einer Kammer ist und nur durch ein gemischtes System bzw. proportional gewählt wird. Die Fristen wurden schon bestimmt – nächster Monat bzw. Januar, sowie ich verstehe, wonach der Entwurf einer neuen Verfassung auf ein Volksreferendum gestellt wird.
Wir unterstützen umfassend diesen Prozess und gehen davon aus, dass zur Ausarbeitung der Verfassungsänderungen, Entwicklung dieser neuen Verfassung maximal breite Bevölkerungsgruppen, Gewerkschaften, Arbeitsgruppen, Studenten, Jugendorganisationen, Nichtregierungsvereinigungen, politische Parteien einbezogen werden sollten. Das alles soll auch für gesunde Oppositionskräfte offen sein.
Leider hat die Opposition, die jetzt aus dem Ausland, Vilnius und Warschau, arbeitet, eine andere Position. Sie will keinen Dialog, sie hat kein konstruktives Gegenprogramm außer Sturz des Präsidenten von Belarus, Alexander Lukaschenko, Forderungen seines Rücktritts und neuer Präsidentschaftswahlen. Mit welchem Programm diese Oppositionellen auf diese hypothetischen geforderten Wahlen gehen wollen, ist schwer zu sagen. Wenn man nur nach ihren Mottos urteilt, wollen sie anscheinend zu der Periode ihrer Geschichte zurückkehren, als Belarus nicht ein unabhängiges Land, eine unabhängige Republik war, sondern als es ein Teil anderer Staaten war. Anscheinend soll das weißrussische Volk selbst bestimmen, wie es sich dazu verhält, dass man will, sein Schicksal auf diese Weise im Voraus zu bestimmen.
Wie sie wissen, wurde in Vilnius ein Koordinierungsrat, in Warschau – die nationale Antikrisenverwaltung gebildet. Sie werden in europäischen Hauptstädten, in europäischen Parlamentsstrukturen aufgenommen. Ich denke nicht, dass unsere westlichen Kollegen nicht verstehen, was sie machen. Obwohl sie an jeder Ecke sagen, dass es nicht ein Versuch ist, in Belarus die Macht zu wechseln, nicht ein Versuch, einen Keil zwischen Belarus und der Russischen Föderation zu treiben, doch alle diesen Zusicherungen werden nicht durch praktischen Handlungen bestätigt. Die weißrussische Opposition wird aktiv finanziert und dazu bewegt, gerade solchen kompromisslosen Kurs auf Forderung des Machtwechsels, unbefristeten Streiks, die scheiterten, und vieles andere, was von außen zur Unterstützung dieser konfrontativen Atmosphäre gemacht wird, einzunehmen.
Die USA, Kanada und die EU führten personelle Sanktionen gegen Präsident der Republik Belarus, Alexander Lukaschenko und engste Mitarbeiter seiner Administration ein. Wir wissen, dass es nicht einfach Geldströme zur Finanzierung dieser Proteste, einschließlich jener, die unter Teilnahme der Hooligans aus der Zahl der kriminellen Elemente mit Versuchen der gewaltsamen Provokationen fließen. Auch aus Warschau und Vilnius werden via soziale Netzwerke Anweisungen verbreitet, wir haben sie gesehen. Die Anweisungen, wie man Brandmischungen und Sprengstoffe herstellt – Molotow-Cocktails u.a. Deswegen ist unsere Position sehr einfach – man soll damit aufhören, sich in die inneren Angelegenheiten von Belarus einzumischen, man soll alle Weißrussen, darunter die Opposition, zur Teilnahme an der politischen Regelung via den Prozess der Verfassungsreform bewegen. Die Ideen, auf internationalen Plattformen eine konfrontative weißrussische Karte zu spielen, sind ziemlich schädlich.
Wie sie wissen, wurde in der OSZE der so genannte Moskauer Mechanismus eingesetzt, der bereits 1990 in der Periode der Euphorie geschaffen wurde, der unter jenen existierte, die sich den Zerfall der Sowjetunion wünschten. Dieser Moskauer Mechanismus wurde jetzt dazu eingesetzt, um einen ferngesteuerten Bericht (er wurde auch von EU-Parlament behandelt) vorzubereiten, auf dessen Grundlage eine Resolution gebilligt wurde, die eine allseitige Unterstützung der weißrussischen Opposition erklärt und zur Bildung eines Hilfsfonds aufruft, der dem Volk von Belarus übergeben wird, sobald das jetzige Regime gestürzt wird. Das ist eine sehr zweifelhafte Idee.
Im UN-Menschenrechtsrat gibt es übrigens ein solches Verfahren wie die universelle periodische Übersicht der Lage in jedem Mitgliedsland des Menschenrechtsrats – wie dort die Lage mit diesen Rechten ist. Es ist so, dass gerade vor einer Woche Belarus an der Reihe war, diese universelle periodische Übersicht, die rund anderthalb Jahre vorbereitet wurde, zu machen. Die Ergebnisse der Übersicht der weißrussischen Anstrengungen zur Festigung der Menschenrechte wurden im Rat in diesen anderthalb bzw. zwei Jahren positiv eingeschätzt. Ich sage nicht, dass da alles in Ordnung ist. In keinem Land gibt es volle Ordnung mit Menschenrechten. Doch nicht ein schwarz-weißes Bild, es ist viel schwieriger. Ein vernünftiger Politiker, der will, dass alle Völker gemäß ihren Wünschen wohnen, dass sie selbstständig über ihre Schicksäle entscheiden, soll dabei helfen, Bedingungen dazu zu schaffen. Und jene, die geopolitische Spiele spielen wollen, werden natürlich Oppositionelle großziehen, sie zu Stützpunkten im Ausland einladen, wo sie versuchen werden, die Prozesse in ihrem Land zu steuern. Die Erfahrung von Belarus ist ziemlich bedrückend. Ich denke, dass selbst jene, die den weißrussischen Protest unter ihre Schirmherrschaft nehmen wollen, den Unsinn dieser Idee verstehen, aber leider damit nicht aufhören können.
Frage: 2016 hatte der damalige scheidende US-Präsident Barack Obama zum Abschluss seiner Amtszeit neue Sanktionen gegen Russland verhängt und russische Diplomaten ausgewiesen. Erwartet Moskau, dass auch Donald Trump versuchen wird, ähnlich zu handeln und die Perspektiven der Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Moskau und Washington zu durchkreuzen? Und was könnte das sein: neue Sanktionen gegen Russland bzw. das Projekt Nord Stream 2, weitere Schritte zur Behinderung von künftigen Vereinbarungen im Bereich der strategischen Stabilität oder noch etwas?
Sergej Lawrow: Von der Administration Donald Trumps muss man nicht den Ablauf ihrer Vollmachten erwarten, bis sie neue Sanktionen gegen Russland verhängen. Wir führten unlängst die statistischen Angaben zur Amtszeit Donald Trumps in Washington an. Die Sanktionen gegen Russland wurden 46 Mal erneuert – sektorale, gegen juristische und natürliche Personen der Russischen Föderation. Das ist der absolute Rekord nach der Intensität der antirussischen Sanktionen binnen einer vierjährigen Frist. Ich weiß nicht, warum man ein Ende der Kadenz erwarten sollte. Jedenfalls hatte die Trump-Administration keine Schwierigkeiten damit, solche Sanktionen ohne jeden Anlass zu verhängen. Das ist nicht unsere Frage. Wir haben uns schon daran gewöhnt, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können.
Es gibt einen solchen Begriff: Importersatz. Er wird manchmal viel zu eng interpretiert und dafür kritisiert, dass es nicht immer gut klappt, jeweilige Importprodukte zu ersetzen. Manchmal nimmt es viel Zeit in Anspruch, manchmal ist es bequemer, auf ein ausländisches Analog zu hoffen, das besser ist. Manchmal hat man keine Lust darauf, etwas selbst zu entwickeln. Aber solcher Importersatz ist auch in einem umfassenderen, im globalen, geopolitischen Sinne nötig.
Wir können nicht mehr unsere Politik, unseren Handel, unsere Energiewirtschaft und die Beziehungen mit der Außenwelt generell planen, indem wir davon ausgehen, dass alle Vereinbarungen mit unseren westlichen Partnern von ihnen bedingungslos respektiert und eingehalten werden. Der Westen hat ja seine mangelnde Verhandlungsbereitschaft und Verlässlichkeit gezeigt. Er hat gezeigt, dass er der Versuchung nicht widerstehen kann, geopolitische Spiele zu spielen und Politik über Wirtschaft zu stellen, indem er eine faire Entwicklung der Situation ignoriert, was auf der Krim nach dem Staatsstreich in der Ukraine der Fall war, als die dort lebenden ethnischen Russen seine Ergebnisse nicht akzeptieren wollten. Ich sprach bereits darüber. Das war der Grund, warum der Westen seine Sanktionen ausrief. Der Westen demonstrierte seine absolute Hilflosigkeit, als er diesen Staatsstreich nicht verhindern konnte, obwohl dadurch die von der EU vorbereitete Vereinbarung zerstört wurde. Es gab bzw. gibt ja etliche Beispiele dafür, dass der Westen uns für seine eigenen gröbsten politischen Fehler schuldig machte. Wir müssen uns daran gewöhnen.
Jetzt sehen wir die „Causa Skripal“, die „Causa Nawalny“ – diese Geschichten sind einfach unerhört. Meines Erachtens verhalten sich unsere deutschen und auch andere westliche Partner völlig inakzeptabel. Das ist ein Thema für ein spezielles Gespräch. Wir sehen, dass sie unter jedem Vorwand auf die „Sanktionskeule“ zurückgreifen, wenn den Grund unserer Kontroversen die Weigerung unserer westlichen Partner ausmacht, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Ob in der Ukraine, wo sie bei ihrer Mission im Februar 2014 total scheiterten, oder im Kontext unserer Forderung an sie in den Situationen um die Skripals und um Nawalny. Dasselbe gilt auch für viele andere Vorwürfe gegen uns. Wir müssen uns daran gewöhnen, Importwaren zu ersetzen, und zwar nicht nur Käsen, Trüffeln und Agrarprodukte, sondern auch alles, was wir für eine nachhaltige, sichere, zuverlässige Entwicklung auf absolut allen Gebieten brauchen.
Frage: Seit dem Beginn der Gefechte in Bergkarabach beteiligte sich die Türkei an diplomatischen Initiativen zur Konfliktregelung. Welchen Beitrag hat die Türkei aus Ihrer Sicht zur Umsetzung der Vereinbarung zwischen Aserbaidschan und Armenien geleistet, die das Ende der Gefechte in Karabach bedeutete?
Sergej Lawrow: Diesbezüglich wurden bereits Einschätzungen geäußert. Präsident Putin sprach öfter mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan während unserer Bemühungen um Feuereinstellung, um die Unterbringung unserer Friedenskräfte, aber auch schon nach dem Abkommen. Präsident Erdogan befürwortete Russlands Handlungen.
Wir haben mit unseren türkischen Kollegen die Einrichtung eines Beobachtungszentrums vereinbart, das auf dem aserbaidschanischen Territorium liegen wird, das an den Konfliktraum nicht grenzt. Dann kann es mithilfe von technischen Mitteln die Situation aus der Ferne überwachen, vor allem in der Luft, aber auch vor Ort in Bergkarabach. Notfalls könnten die Russische Föderation und die Türkei die Seiten beeinflussen, damit mögliche Verletzungen beseitigt werden (hoffentlich wird es solche aber nicht geben). Wie gesagt: Die Arbeit wird auf dem Territorium geführt, auf dem dieses gemeinsame Zentrum liegen wird. Sie wird nicht mit konkreten Aktionen zwecks Friedensförderung unmittelbar im Konfliktraum verbunden sein – das muss man begreifen. Ich höre, wie verschiedene Wünsche zum Ausdruck gebracht werden. aber sie sollten wohl zur Seite geschoben werden, so dass man sich mit konkreten Sachen beschäftigt, und zwar im Sinne der Vereinbarung, die gestern von den Verteidigungsministern Russlands und der Türkei unterzeichnet wurde und die Arbeit in den Räumlichkeiten des Beobachtungszentrums betrifft.
Es werden aktuell viele nahezu euphorische, aber auch viele nahezu hysterische Einschätzungen geäußert: Russland hätte den Kaukasus verloren, die nächste Niederlage würde auf der Krim erfolgen. Bei uns und auch in der Türkei und in anderen Ländern gibt es ja viele solche „Amateuranalysten“. In türkischen Zeitungen wimmelt es von Vorwürfen, Ankara hätte sich ausspielen lassen, wobei die russische Seite alle in der Welt gewonnen hätte. Denn in der Türkei habe man damit gerechnet, die Aserbaidschan geleistete Hilfe viel effizienter zu kapitalisieren, und die Türken würden immer auf dem Schlachtfeld und die Russen am Verhandlungstisch gewinnen. Ich habe solche Kommentare türkischer Medien gelesen. Sie kennen sie bestimmt auch.
Und, wie gesagt, kam es auch bei uns zu einer ganzen Welle von Vorwürfen seitens der liberalen Medien und auch in sozialen Netzwerken, Russland sei ein Verräter (man wirft uns ja alles Mögliche vor). Das sind aber alles so genannte „Couch-Analysten“, und auf sie sollte man möglichst wenig achten.
Bei uns gibt es jetzt den Trend zu anatomischen Vergleichen mit der Politik. Was Armenien angeht, so beantwortete einst, zu Sowjetzeiten, das „Armenische Radio“ Fragen, und eine von ihnen lautete: „Wir ist der Unterschied zwischen manchen Teilen des menschlichen Organismus und dem Leben?“ Die Antwort des „Armenischen Radios“ war so: „Das Leben ist härter“. Dieses ganze Gerede davon, wer was verloren hat, wer hätte ein größeres Stück Kuchen bekommen können – das ist alles durchaus typisch dafür, dass die ganze Politik, alle Ereignisse in der Welt aus der Sicht des Nullsummenspiels wahrgenommen werden: „Ich habe dich bezwungen, und damit bin ich der coole Typ; ich habe dich erniedrigt, oder du hast mich erniedrigt, und das lasse ich nicht auf mir sitzen“. Das ist nicht unsere Politik.
Wir sind daran interessiert, dass die Situation überall in der Welt, aber vor allem an unseren Grenzen ruhig bleibt, dass es keine „schwelenden“ Konflikte gibt. Man behauptete, Russland wäre „vor allem daran interessiert, dass der Konflikt in Bergkarabach nicht geregelt wird“, und deshalb hätte Russland all diese Jahre „gezögert“. Das sind aber alles freche Lügen. Russland spielte immer die Führungsrolle im Kontext der Konfliktregelung in Bergkarabach. Ein Beweis dafür ist das allgemein bekannte Dokument von Kasan. Dank ihm wurden dieselben Ergebnisse erzielt, wie sie jetzt vor Ort zu sehen sind, aber ohne jegliches Blutvergießen. Leider war das unmöglich, und zwar nicht wegen unserer Schuld. Dann bemühten wir uns um die Zwei-Phasen-Vorgehensweise, was am Anfang mit Enthusiasmus wahrgenommen wurde. Dann wurden, wie ich heute schon sagte, verschiedene Zweifel geäußert: „Wieso denn: fünf Landkreise, zwei Landkreise? Wie wird die Sicherheit gewährleistet werden?“ Das scheiterte am Ende auch, und die Regelung wurde fristlos verschoben – und nicht wegen unserer Schuld.
Wir hatten immer jede Menge gute Absichten und auch konkrete Initiativen. Jetzt wurde die Vereinbarung zur Regelung getroffen (leider musste dafür zu einem Gewaltausbruch mit vielen Opfern auf beiden Seiten kommen), die Russland vorangetrieben hatte. Aus der Geschichte zieht man bekanntlich leider keine Lehren. Aber es ist immerhin sehr traurig, dass die Ergebnisse, die jetzt mit vergossenem Blut bezahlt wurden, hätten auch ohne Blutvergießen erreicht werden.
Russland ist keineswegs daran interessiert, dass in Karabach, Transnistrien oder sonst wo im postsowjetischen Raum „eingefrorene Konflikte“ bleiben. Wer so etwas behauptet, geht meines Erachtens völlig schmutzig vor. Das lässt sich unter anderem auch darauf zurückführen, dass solche Kräfte keine konkreten Kenntnisse besitzen und auch nicht begreifen wollen, wie eigentlich die Position der Russischen Föderation ist und welche Initiativen wir voranbringen.
Wir haben mit der Türkei gemeinsame Aufgaben, wie ich schon sagte: vom aserbaidschanischen Territorium mithilfe von technischen Mitteln zur objektiven Kontrolle die Situation im Raum der Friedensoperation zu beobachten, für die ausschließlich die Kräfte des Kontingents der russischen Streitkräfte zuständig sind. Da gibt es überhaupt keinen Doppelsinn. Unsere türkischen Partner verstehen das sehr gut. Wir werden mit ihnen auch weiter zusammenwirken, auch in anderen Richtungen der Weltpolitik, vor allem in Syrien.
Frage: Ich habe eine Frage zu den USA bzw. zur Auswertung der Stimmzettel, die in diesem Land gerade läuft. Viele Spitzenpolitiker der Welt haben bereits Joe Biden zum Gewinn der Präsidentschaftswahl gratuliert. Präsident Putin hat mit Amerika zu diesem Zweck, soweit bekannt, noch nicht telefoniert. Ist man in Russland über die Berichte nicht besorgt, dass die Abstimmung in Amerika mit Verletzungen und ohne internationale Beobachter verlief? Es ist ja leicht vorstellbar, dass das US-Außenministerium in einer ähnlichen Situation in jedem anderen Land der Welt die Wahlergebnisse als illegitim erklären würde. Will Russland in diesem Stil auftreten und die vollständige Auswertung der Wahlzettel verlangen, möglicherweise sogar eine neue Auswertung?
Sergej Lawrow: Sie haben möglicherweise die Erklärung des US-Außenministers Mike Pompeo gehört: Das Außenministerium hat die Wahl in den USA auch noch nicht als legitim anerkannt.
Was unsere Vorgehensweise angeht, so sagten wir schon öfter, dass wir das Recht des amerikanischen Volkes respektieren, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Das amerikanische Wahlsystem ist wohl das archaische in allen mehr oder weniger wichtigen Ländern der Welt. Ich verwies schon oft genug darauf, wenn wir mit meinen Kollegen, den Vorgängern bzw. Vorgängerinnen Mike Pompeos, kameradschaftlich sprachen. Ich weiß noch, wie wir mit Condoleezza Rice die Wahlergebnisse besprachen. Sie äußerte gewisse Einwände gegen unsere Wahlen und unser Wahlsystem. Dann sagte ich ihr, dass in den USA gewisse Präsidenten weniger Wählerstimmen bekommen hatten, aber dank dem komplizierten System, bei dem die Stimmen der Wahlleute zählen, doch ins Weiße Haus einzogen. Sie erwiderte, dass man in den USA diesen Mangel ihres Wahlsystems kenne und dass dies ein großes Problem sei, das man auch lösen wolle. Und wir sollten uns „bitte keine Sorgen machen“. Ich möchte sehr, dass die Amerikaner keine Sorgen um unsere Probleme machen, die sie bei uns angeblich sehen. Und am besten sollten sie sich keine Sorgen um ähnliche Probleme auch in anderen Ländern machen.
In jedem Land gibt es eigene Traditionen. Falls die Amerikaner bereit sind, mit einer Tradition zu leben, die die Willensäußerung der Bevölkerung stark beeinflussen kann, dann ist das ihr gutes Recht. Wenn sie mit allem zufrieden sind und bei ihnen alles in Ordnung ist (es stellt sich jedoch heraus, dass nicht alles), dann wie können wir denn ihnen etwas empfehlen? Dann sollen sie sich damit selbst auseinandersetzen.
Was Glückwünsche angeht, so muss ich mich darüber wundern, dass darauf so viel geachtet wird. Glückwünsche werden üblicherweise ausgerichtet, wenn die Wahlergebnisse offiziell bekanntgegeben worden sind. In den USA ist das nicht passiert. Dort gibt es die Verwaltung für allgemeine Dienste, die bevollmächtigt ist, solche Erklärungen offiziell zu machen. Vorerst hat sie noch keine gemacht. Alle bisherigen Gratulationen stützten sich bekanntlich auf die Auswertung der Wahlergebnisse seitens von CNN, NBC, von sozialen Netzwerken und vor allem von führenden US-Massenmedien. Wenn gewisse Staaten eine solche Tradition haben, jemandem zum Wahlsieg aus solchem Grund zu gratulieren, dann können wir damit nichts tun. Unsere Vorgehensweise ist etwas anders. Glückwünsche werden noch vor der offiziellen Veröffentlichung der Wahlergebnisse geschickt, wenn es keine Streitigkeiten gibt, wenn die zweite Seite den Sieg des Gegners anerkennt. So war das übrigens 2016, als Hillary Clinton den Sieg Donald Trumps akzeptierte. Damals hatte niemand Fragen. Und jetzt bleiben noch solche Fragen. Man muss die offizielle Verkündung der Wahlergebnisse abwarten. Zumal das entsprechende Verfahren meines Wissens klar und deutlich ist. Am 14. Dezember soll eine Sitzung des Electoral College stattfinden. Diese Sitzung findet nicht im allgemeinen Saal statt, sondern separat in den Hauptstädten aller Bundesstaaten. In manchen Fällen sind die Wahlleute absolut verpflichtet, für den Kandidaten zu stimmen, den die meisten Einwohner im jeweiligen Wahlbezirk unterstützt haben. In anderen Bundesstaaten dürfen die Wahlleute in den Wahlzettel jeden Namen hineinschreiben, und zwar nicht unbedingt den Namen einer von den Personen, die für den Präsidentenposten in dieser konkreten Region der USA kandidierten. Am 6. Januar 2021 wird sich der US-Kongress versammeln, den die Wahlleute über die Ergebnisse ihrer Arbeit zu informieren haben. Sollte es bei der Billigung der Stimmen der Wahlleute in jedem Bundesstaat irgendwelche Zweifel geben, gerät die Wahl des Präsidenten und des Vizepräsidenten in eine andere Dimension. Der Präsident wird vom Kongress gewählt, und zwar nicht mit den individuellen Stimmen der Mitglieder des Repräsentantenhauses. Jeder Bundesstaat hat zu diesem Zweck eine Stimme im Kongress – dort gibt es also insgesamt 50 Stimmen. Wie sie verteilt werden, ist eine große Frage, denn die Stimmenverteilung je nach den Staaten (wo die Demokraten und wo die Republikaner stärker sind) entspricht nicht ganz der Mehrheit, die die Demokraten im Repräsentantenhaus haben. Dort wird der Präsident gewählt. Der Vizepräsident wird im Senat gewählt.
Ich schildere gerade all diese Schritte, die unternommen werden müssten, falls es im Wahlkollegium, im Kongress usw. keine Klarheit geben sollte. Jedenfalls soll die Amtseinführung am 21. Januar 2021 stattfinden. Bis dahin werden wir schon etwas erfahren.
Lassen Sie mich noch erwähnen (da wir gerade über die Glückwünsche sprechen), dass nicht nur Russland und China, sondern auch Mexiko vorerst keine Gratulation geschickt hat. Der mexikanische Präsident hat klar und deutlich erklärt, dass er sich an den offiziellen Ergebnissen orientieren wird.
Ich würde jetzt lieber nicht über Verschwörungstheorien reden. Aus meiner Sicht ist das eine ganz normale höfliche Praxis. Wer es für möglich hält, seine Glückwünsche noch vor der Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse zu schicken, dann ist es sein gutes Recht. Wir wissen, dass viele europäische Spitzenpolitiker 2016 der Kandidatin, die die Wahl verloren hatte, gratulierten, dann aber ihre Gratulationen zurückrufen mussten. Ich sehe da keinen Anlass für Spekulationen.
Frage: Ist Russland bereit, sich gemeinsam mit der Türkei um die möglichst effiziente Umsetzung des Abkommens über Feuereinstellung in Libyen zu kümmern, unter anderem in der Frage des Abzugs ausländischer Söldner aus Sirte und Al-Dschufra? Und wir korreliert die Situation „vor Ort“ in Libyen aus Ihrer Sicht mit den dortigen Wahlen? Wären sie in absehbarer Zeit möglich?
Aktuell stocken die Libyer ihre Ölförderung auf. Es gab Berichte, dass wir zur Entsperrung der libyschen Ölindustrie beigetragen hätten. Ist man in Russland über den unkontrollierten Anstieg der Ölförderung in Libyen besorgt?
Sergej Lawrow: Wir dürfen die Gnoseologie der Libyen-Krise nicht vergessen. Das war eine äußerst grobe Aggression der Nato, die Libyen zerbombt und die libysche Staatlichkeit vernichtet hat. Das löste den Terroristenzufluss, den Waffen- und Drogenschmuggel nach Afrika, in den Norden und Süden, den Zufluss von illegalen Migranten aus, mit dem Europa kaum noch zurecht kommt. Und obwohl dieses Problem nicht auf unsere Schuld entstanden ist, sind wir natürlich daran interessiert, dass es nicht für immer und ewig akut bleibt, dass es sich nicht in eine permanente „Eiterbeule“ verwandelt. Deshalb arbeiteten wir von Anfang an, als die Nato-Aggression erst zu Ende gegangen war, als sich Libyen in mehrere Teile spaltete, und als schon die Zweifel aufkamen, dass dieses einst durchaus wohlständige und gedeihende Land noch wiedervereinigt werden könnte – schon seit dieser Zeit arbeiteten wir an Bedingungen für eine Wiederaufnahme des libysch-libyschen Dialogs. Und wir arbeiteten dabei mit absolut allen politischen Kräften Libyens zusammen. Wir waren damals die einzigen, die sich damit beschäftigten, denn alle anderen äußeren Akteure fanden sich diese oder jene „Schützlinge“, die sie dann betreuten. Manche von ihnen betreuten die Regierung in Tripolis, die anderen arbeiteten nur mit Tobruk und Bengasi, wo die Libysche Nationale Armee stationiert war, noch jemand pflegte Kontakte zu kleineren, aber ziemlich aggressiven Kämpfergruppen, die diese oder jene kleineren Territorien unter ihre Kontrolle behielten und sich dort wie zu Hause fühlten.
Libyen befand sich in einer wirklich schlechten Lage. 2015 konnte das so genannte Abkommen von Skhirat abgeschlossen werden, das zum ersten Mal seit der Nato-Aggression eine Balance festlegte, und es sollten die Regierung in Tripolis und das Parlament - das Repräsentantenhaus in Tobruk anerkannt werden. Es wurde ein harmonisches Schema festgelegt: Die Regierung sollte unter Mitwirkung des Parlaments arbeiten. Leider funktionierte es nur kurz, denn die Kontroversen zwischen den zwei Lagern spielten ihre Rolle. Dann wurden Gefechte wiederaufgenommen; es gab viele Versuche zu verschiedenen Treffen; die Franzosen organisierten vor einigen Jahren eine Konferenz, auf der sogar ein konkretes Datum der gesamtlibyschen Wahlen genannt wurde. Eine solche Veranstaltung organisierten auch die Italiener in Palermo; auch in den VAE fanden entsprechende Treffen statt. Das alles sah wie Versuche aus, „eine gute Miene zu einem bösen Spiel zu machen“, denn die Versuche zur Bestimmung von konkreten Wahlterminen wurden durch nichts bekräftigt. In letzter Zeit, insbesondere dank der aktiven Teilnahme Russlands und der Türkei und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass unsere Länder besondere Beziehungen pflegten (Ankara mit der Regierung der nationalen Einheit in Tripolis und wir sowohl mit Tripolis als auch mit Tobruk und auch mit anderen Akteuren auf dem libyschen Feld), versuchten wir, unseren ganzen Einfluss einzusetzen, um die Konfliktseiten zur Suche nach Kompromissen zu zwingen. Besonders wichtig wurde die Berliner Konferenz im Januar dieses Jahres, nach der eine Resolution des UN-Sicherheitsrats verabschiedet wurde.
Wir haben den entscheidenden Beitrag zur Einladung die libyschen Seiten zur Berliner Konferenz geleistet – ursprünglich hatten die Deutschen so etwas gar nicht geplant. Sie wollten wieder eine Sitzung der äußeren Akteure organisieren und in diesem engen Kreis irgendwelche Prinzipien besprechen – und dann die Libyer vor die Tatsache stellen. Mehr noch: Sie wollten nicht einmal die Nachbarn Libyens einladen. Wir bestanden aber während der Vorbereitung darauf, dass nach Berlin auch die libyschen Seiten (Fayiz as-Sarradsch und Chalifa Haftar) gerufen werden, wie auch Libyens Nachbarn, was die Deutschen ursprünglich gar nicht tun wollten. Selbst unter Beteiligung der Libyer und ihrer Nachbarn wurde auf der Konferenz zwar ein Dokument vereinbart, aber es gab Zweifel hinsichtlich der Wahrnehmung dieser Dokumente „vor Ort“. Es war ja kein Zufall, dass der Libyen-Beauftragte des UN-Generalsekretärs, Ghassan Salamé, gleich nach der Berliner Konferenz zurücktrat. Er hat wohl begriffen, dass es falsch war, den libyschen Seiten solche Entscheidungen von außen aufzuzwingen, ohne ihnen selbst zuzuhören. Und jetzt sehen wir eine Vorgehensweise, die Russland von Anfang an vorangetrieben hatte: In Tunesien haben sich unter Mitwirkung der UNO 75 Personen versammelt, die drei historische Gebiete Libyens vertreten: Tripolitanien, Kyrenaika und Fezzan. Das sind je 25 Personen aus jeder Region. Sie sollen einen „Fahrplan“ zur endgültigen politischen Regelung entwickeln, zur Sicherung einer nachhaltigen politischen Ordnung in ihrem Land: Vorbereitung einer neuen Verfassung, Bildung eines Präsidentenrats, in dem drei Gebiete gleichermaßen vertreten wären, Bildung einer neuen Regierung und Parlamentswahl. Also ist der ganze politische Prozess, den sie gerade besprechen, für die nächsten anderthalb oder zwei Jahre geplant. Wir hoffen sehr, dass diese Arbeit Erfolg haben wird und (das ist das wichtigste) dass die Ergebnisse dieser Arbeit umgesetzt werden und nicht nur auf dem Papier bleiben.
Zum Thema Öl: Wir haben im September tatsächlich die libyschen Seiten nach Moskau eingeladen, um ihnen bei der Vereinbarung zur Wiederaufnahme des Ölabsatzes zu helfen. Diese Vereinbarung wurde getroffen. Je nach der Wiederaufnahme dieses Exports müssen noch einzelne rechtliche und eigentümliche Details geregelt werden. Damit beschäftigen sich gerade die Libysche Ölkorporation, die Regierung und das Parlament Libyens. Was den Einfluss dieses Prozesses auf die internationalen Ölmärkte, auf den Preis für Energieträger angeht, so gibt es wohl diesen Einfluss tatsächlich. Jetzt lässt sich ein Erhöhungstrend auf dem Ölmarkt beobachten. Jedenfalls meinen wir im Kontext der Notwendigkeit der Regelung des Ölmarktes nicht, dass dies durch Diskriminierung dieser oder jener Produzenten von Kohlenwasserstoffen erfolgen sollte.
Frage: Herr Lawrow, ich bitte Sie, wieder zum Thema Bergkarabach zurückzukehren und den Status der unter Kontrolle der armenischen Seite bleibenden Territorien von Stepanakert usw. zu erläutern. Wann und in welchem Format wird der Status dieser Gebiete besprochen, und wird es diese Besprechung überhaupt geben, wenn man bedenkt, dass Aserbaidschan sagt, die Karabach-Frage wäre „gelöst“?
Sergej Lawrow: Ich habe darüber bereits gesprochen. Jetzt sind die Fragen um den Status Bergkarabachs wohl das Hauptthema des politischen Prozesses, denn die Wiederherstellung der aserbaidschanischen Kontrolle über die fünf (und dann noch die weiteren zwei) Landkreise läuft schon von selbst. Baku bildet dort provisorische Verwaltungsorgane und wird sich um friedliches Leben dort bemühen. Wir sollten auch nicht vergessen, dass noch die Fragen um die Heimkehr der Flüchtlinge und Zwangsumsiedler nach Bergkarabach und in die nebenan liegenden Kreise geregelt werden müssen, woher sie während und nach dem Krieg geflüchtet sind.
Der Status Bergkarabachs bleibt unbestimmt. Davon sprach der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew. Wir gehen davon aus, dass dieser Status jetzt abhängig davon bestimmt werden soll, was wir alle unternehmen müssen, um die Verständigung zwischen Vertretern verschiedener Ethnien und Konfessionen in Bergkarabach wiederherzustellen, wie das jahrelang vor dem Krieg war, der kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion begann und sehr traurige Folgen hatte, mit denen wir jetzt konfrontiert wurden. Der Status kann nur dann bestimmt werden, wenn klar wird, welche Rechte alle Menschen bekommen werden, die in Bergkarabach lebten und das Recht auf Heimkehr haben, und natürlich diejenigen, die die ganze Zeit auf diesem Territorium blieben. Das gilt sowohl für Aserbaidschaner als auch für Armenier.
Ich sprach schon vom Kulturerbe, von Kulturobjekten, davon, dass das Vertrauen und der Frieden zwischen verschiedenen Ethnien und Konfessionen wiederhergestellt werden muss. Zu diesem Zweck müssen Kirchen und Moscheen wiederaufgebaut werden und das alltägliche Leben in die Wege leiten, damit es so wird, wie es war, als dort Vertreter aller Nationalitäten und Religionen gemeinsam lebten. Das zu tun, ist gar nicht einfach. Deshalb bestimmten wir da keine künstlichen Fristen. Wir sehen, dass aserbaidschanische Flüchtlinge die Möglichkeit haben werden, in den Süden Bergkarabachs zurückzukehren, insbesondere nach Schuscha. Unsere Friedensstifter werden auch in diesem Kreis für Ruhe sorgen. Daran sind sowohl die aserbaidschanischen als auch die armenischen Kollegen interessiert. Natürlich werden wir die UNESCO heranziehen, damit diese Symbole des Kulturerbes wiederaufgebaut werden und damit man respektvoll mit ihnen umgeht. Wir werden auch das internationale Komitee des Roten Kreuzes, die Verwaltung des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge heranziehen, um den Menschen bei der Heimkehr und bei der Normalisierung ihres Lebens zu helfen. Wenn das alles passiert, habe ich keine Zweifel, dass die Frage vom Status nicht mehr so scharf sein wird, und dann könnte sie schnell und reibungslos geregelt werden.
Frage: Meine Kollegen haben bereits diese Frage von der Rolle der Minsker Gruppe und zusätzlich von der Rolle der Türkei erwähnt. Sie haben erklärt, warum die Minsker Gruppe immer noch eine Rolle bei der künftigen Konfliktregelung spielt. Und denken Sie, dass Ankara sozusagen zu einem zusätzlichen Co-Vorsitzenden der Gruppe wird?
Sergej Lawrow: Nein, es wird nicht zum zusätzlichen Co-Vorsitzenden der Gruppe. Sie haben richtig gesagt, dass die Minsker OSZE-Gruppe ihre Arbeit fortsetzt. Die Minsker Gruppe besteht aus etwa zehn Ländern (die Türkei gehört dazu). Sie beschäftigt sich mit Bergkarabach, hört sich ab und zu die Berichte ihrer Co-Vorsitzenden an, und jedes Mitglied darf seine Meinung äußern und gewisse Vorschläge machen. Die Co-Vorsitzenden, wie das auch für jede andere Struktur typisch ist, haben die Position der Mitglieder der Gruppe, die ihnen entsprechende Vollmachten überlassen hat, zu berücksichtigen. Es gibt keine Pläne zur Erweiterung des Dreigespanns der Co-Vorsitzenden (Russland, USA, Frankreich). Ich sprach gestern mit dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian, meine Mitarbeiter bleiben in Kontakt mit US-amerikanischen Vertretern, die für den Co-Vorsitz im Karabach-Kontext zuständig sind. In der kommenden Woche erwarten wir den französischen und den amerikanischen Co-Vorsitzenden in Moskau, und wir werden sie ausführlich darüber informieren, wie wir unsere Friedenskräfte stationieren. Und wir werden wohl mit ihnen das absprechen, was ich eben gesagt habe: wie wir das friedliche Leben unter Berücksichtigung der Rechte aller ethnischen und konfessionellen Gemeinden in bzw. um Bergkarabach fördern könnten.
Frage: Berlin ist mit dem Zusammenwirken im Kontext des Mordes in Tiergarten unzufrieden, Moskau ist mit dem Zusammenwirken im Kontext der „Causa Nawalny“ unzufrieden. Inwieweit beeinflusst die Konfrontation zwischen Russland und der Bundesrepublik Deutschland die politischen Prozesse, die Situation in der Ukraine (Organisation eines neuen Gipfels im „Normandie-Format“) und andere Fragen, insbesondere die Eröffnung der Grenzen zwischen Russland und der Europäischen Union?
Sergej Lawrow: Was Tiergarten angeht, so weiß ich nicht, womit die Deutschen unzufrieden sind. Es geht der entsprechende Gerichtsprozess weiter. Meines Wissens beschäftigen sich Anwälte damit, die inzwischen Augenzeugen befragen. Wir wollen verstehen, ob es sie dort überhaupt tatsächlich gibt, ob sie das mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Vorerst haben wir keine entsprechenden Beweise. Also gibt es eigentlich etliche Fragen an die deutsche Ermittlung. Ich sehe keine Einwände seitens der Deutschen, denn wir tun alles, was von uns abhängt. Es gibt einen Angeklagten, und es gibt keine Beweise für seine Verbindung mit dem russischen Staat. Es gab einige unbegründete Vorwürfe, aber diese sollten diejenigen begründen, die damit auftreten, und nicht wir. Diese natürliche Person hat ihre Rechtsanwälte, die entsprechende Fragen gestellt haben (unter anderem darüber, was genau die Augenzeugen gesehen bzw. nicht gesehen haben), bisher aber keine Antwort bekommen.
Was Nawalny angeht, so gibt es da tatsächlich Gründe für sehr große Verständnislücken. Die Gründe dafür, das Vorgehen unserer deutschen Kollegen für absolut unannehmbar und widersprechend ihren internationalen Verpflichtungen zu erklären. Ich will ist nicht ausführlich über diese Geschichte sprechen – sie wurde intensiv genug auf Pressebriefings des Außenministeriums und auch in Massenmedien beleuchtet und ist allgemein bekannt. Besonders harte Fakten, auf die unsere deutschen Kollegen reagieren sollten, bestehen darin, dass der Patient Nawalny wieder das ganze Gerede und Gestöhne der deutschen Seite weniger als binnen von zwei Tagen überlassen wurde: Sobald seine Ärzte ihn in einen Zustand versetzt hatten, der es ihnen erlaubte, das Dokument zu unterschreiben, laut dem er nach Deutschland befördert werden konnte. Das deutsche Flugzeug durfte sofort durchgelassen, um ihn zu evakuieren. Es stellen sich Fragen, welche Personen neben den Ärzten an Bord waren. Es wäre interessant, auch darüber zu sprechen, aber dabei ginge es nicht mehr um medizinische Fragen, sondern um Fragen, die damit verbunden wären, wer mit dieser Geschichte außerhalb der unmittelbaren ärztlichen Kreise zu tun haben könnte. Nawalny wurde unverzüglich in die Klinik Charité eingeliefert. Dort, wie auch in Omsk, wurden in seinem Organismus keine Kampfgiftstoffe entdeckt – diese wurden schon in einer Bundeswehr-Klinik aufgefunden.
Als wir nach den Ergebnissen der Analysen fragten, sagte man uns, man würde uns nichts zur Verfügung stellen, weil wir dann gewisse „Geheimnisse“ erfahren könnten, dank denen die Deutschen das Vorhandensein der Kampfgiftstoffe in den Materialien finden konnten. Kann man so etwas als ernsthaftes Gespräch bezeichnen? Ich will das nicht einen „Kindergarten“ nennen, denn die Deutschen sind ja viel fortgeschrittener. Das bedeutet, dass dies ihre bedachte provokante Position war – sie wollten uns nichts geben. Auf fünf Anfragen der russischen Generalstaatsanwaltschaft im Sinne der Europäischen Konvention über gegenseitige rechtliche Hilfe bei der Ermittlung von Strafverfahren, der zufolge die Deutschen hätten uns antworten müssen, was sie in Nawalnys Proben entdeckt haben, erklärten sie, sie könnten es „sich überlegen“, ob sie uns diese Stoffe überlassen oder nicht – unter der Bedingung, dass ein Strafverfahren eingeleitet wird. Sie würden sie uns nicht überlassen, sondern nur es „sich überlegen“, wohlgemerkt. Bei uns kann ein Strafverfahren eingeleitet werden, nur wenn wir etwas finden, was in Omsk nicht gefunden wurde. Es ist aus meiner Sicht unanständig, mit russischen Gesetzen respektlos umzugehen, und von uns zu verlangen, sie bei gleichzeitiger Verletzung zu erfüllen – egal ob für die Deutschen oder für jedes andere Land, egal was es selbst denkt und sich einbildet.
Unsere deutschen Kollegen glauben, dass sie selbst völlig sündenfrei wären, und man sollte ihnen aufs Wort glauben – und sie werden keine Fakten vorlegen. Sie sagten, die „Causa Nawalny“ sei inzwischen keine bilaterale Frage der russisch-deutschen Beziehungen, sondern eine Frage der internationalen Sicherheit. Deshalb habe sich Deutschland an die OPCW gewandt. In dieser Organisation wollte man uns lange nicht die Wahrheit sagen. Zunächst bestritt man das, dann räumte man ein, dass sich die Deutschen an die Organisation gewandt hatten. Am Ende stellte sich heraus, dass OPCW-Vertreter selbst nach Berlin gereist waren, die Analysen genommen, ihre Arbeit erledigt und einen Bericht vorbereitet hatten. Auf unsere Bitte, uns diesen Bericht zu zeigen, sagte man, die Deutschen hätten ihn „bestellt“, also sollten wir uns an Berlin wenden. Berlin sagt seinerseits, wir sollten uns an Den Haag wenden, und Den Haag schickt uns wiederum nach Berlin. Was soll das alles? Ist das jetzt diplomatische oder menschliche Anständigkeit? Aus meiner Sicht ist das gerade umgekehrt. Am Ende wurde der von der OPCW vorbereitete Bericht veröffentlicht, doch alle chemischen Formeln, um die es eigentlich geht, wurden darin schwarz ausgeblendet und waren unlesbar.
Am 5. November rief mich der deutsche Bundesaußenminister Heiko Maas an. Ich sagte ihm, dass Berlins Vorgehen völlig inakzeptabel ist, indem es sich weigert, seine Ermittlungen zu erläutern, und gleichzeitig uns alle Todsünden vorwirft. Deutschland wurde neben Frankreich zum Initiator der Besprechung von Sanktionen gegen Russland in der EU und der Nato, wobei es um einen Fall geht, der von niemandem bewiesen werden konnte und sich auf dem Territorium der Russischen Föderation ereignete. Wir haben allen Grund zu glauben, dass das, was mit Nawalny aus der Sicht des Eindringens von Kampfgiftstoffen in seinen Organismus passiert ist, in Deutschland bzw. im Flugzeug passieren konnte, mit dem er in die Charité-Klinik transportiert wurde. Ein Kampfgiftstoff ist tödlich. Und dieser Mann fühlt sich anscheinend durchaus gut (genauso wie die Skripals), obwohl ihn niemand gesehen hat – den konsularischen Zugang zu ihm haben die Deutschen verboten.
Sie können sich wohl noch an die Versionen erinnern, die es von Anfang an gab, als Nawalny erst nach Omsk befördert wurde. Damals redete die ganze Welt davon, dass er am Flughafen von Tomsk einen vergifteten Tee getrunken hätte. Es wurden unverzüglich alle Menschen überprüft, die neben ihm in der Bar gesessen hatten, die ihm den Tee eingegossen und überreicht hatten – und dabei wurde nichts entdeckt. Dann wurde sofort die Version von der Flasche ins Leben gerufen, die seine Mitarbeiter (die jetzt übrigens jeglichen Kontakten mit der Ermittlung ausweichen) aus seinem Hotelzimmer entwendet hatten, das sie illegal betreten hatten – wider alle möglichen Aufenthaltsregeln in Hotels. Diese Flasche wurde nach Deutschland gebracht, ohne dass sie uns gezeigt wurde. Dabei erklärte man, auf dieser Flasche wären „absolut überzeugende Beweise“ gefunden, und wir müssten uns dafür „verantworten“. Und erst vor einigen Tagen erklärte Nawalny selbst plötzlich, es gehe nicht um den Tee und nicht um die Flasche, sondern um die Kleidung, durch die er vergiftet worden wäre. Wenn er sich jetzt in der Charité-Klinik befindet, ist das jetzt aus meiner Sicht inzwischen ein Chapiteau-Zirkus. Ich kann die wahren Motive unserer deutschen Partner kaum verstehen.
Ich kann wiederholen, was ich Heiko Maas gesagt habe – ich denke, das ist inzwischen allgemein bekannt. Wir sehen, dass Deutschland die Führungsrolle bei dieser neuen Eskalation der Beziehungen mit Russland übernommen hat. Wir sind darüber beunruhigt, unter anderem angesichts der globalen Rolle, die Deutschland in Europa spielte, jetzt spielt und voraussichtlich auch weiter spielen will.
Im „ukrainischen“ Kontext haben wir kolossale Einwände gegen unsere deutschen und französischen Kollegen. Ihre Versuche, sich hinter den fünf EU-Prinzipien zu verstecken, denen zufolge „mit Russland alles gut sein wird, sobald es die Minsker Vereinbarungen erfüllt hat“, sehen diplomatisch und politisch fast unanständig aus. Auf die Erklärungen der ukrainischen Behörden sollten Paris und Berlin als Co-Autoren der Minsker Vereinbarungen im „Normandie-Format“ mindestens irgendwie reagieren. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenski erklärte, die Ukraine sollte zunächst die Grenze unter Kontrolle nehmen, und dann würden sie sich schon selbst auseinandersetzen – ohne die Minsker Vereinbarungen. Er und sein Vizepremier Alexej Resnikow behaupten, die Minsker Vereinbarungen wären veraltet und schon längst verjährt, und deshalb sollten sie neu formuliert werden.
Leonid Krawtschuk, der zum ukrainischen Chefunterhändler in der Kontaktgruppe ernannt wurde (dort sollen alle Fragen geregelt werden), trat unlängst mit einer neuen Initiative auf. Unsere Unterhändler haben sie bereits gesagt, dass auch sie die Minsker Vereinbarungen total zerstört und ein einziges Ziel verfolgt: um jeden Preis nichts zu tun, aber zu einem neuen Gipfel im „Normandie-Format“ zusammenzukommen. Wladimir Selenski macht es offensichtlich Spaß, sich mit internationalen Spitzenpolitikern zu treffen und seine Wähler (und möglicherweise auch seine Anhänger im Westen) denken zu lassen, er wäre zu etwas fähig. Aber es wird dabei der Kern der Sache durch äußere Effekte ersetzt. Das haben wir schon gehabt – unter Pjotr Poroschenko, und jetzt sehen wir dasselbe auch unter Wladimir Selenski. Dabei sehen wir leider keine Veränderungen. Bevor man dieser Vorgehensweise zwecks Zerstörung der Minsker Vereinbarungen nachgibt, sollten sich Berlin und Paris melden und den ukrainischen Präsidenten und dessen Team auffordern, das zu respektieren, was bei dem „Normandie-Gipfel“ in Paris im Dezember 2019 gesagt wurde: Für die Minsker Vereinbarungen gibt es keine Alternative. Solange das nicht getan worden ist, werden wir denken, dass Deutschland und Frankreich die Zerstörung davon, was sie mit ihren eigenen Händen errichtet haben, akzeptieren.
Das wäre schon der zweite Präzedenzfall des Verrats an eigenen Vereinbarungen. Der erste ereignete sich im Februar 2014, als Berlin, Paris und Warschau das Protokoll zur Regelung zwischen Viktor Janukowitsch und der Opposition unterzeichnet hatten. Aber schon am nächsten Morgen spuckte die Opposition ihnen ins Gesicht und löste die Vereinbarungen auf, und die EU-Vertreter duldeten das und erkannten die illegitime Machtübernahme nach dem verfassungswidrigen Staatsstreich an. Das war ja nicht einmal ein Fehler, sondern vielmehr ein Verbrechen gegen die Gerechtigkeit, gegen das Völkerrecht, das unsere deutschen und französischen Partner begangen haben. Und den zweiten solchen Verrat an eigenen Vereinbarungen beobachten wir jetzt – im Kontext der Minsker Vereinbarungen. Zunächst das Abkommen vom Februar 2014, dann das vom Februar 2015. Einmal im Jahr unternahmen unsere Kollegen aus Berlin und Paris solche Handlungen, die sie dann später zu begraben versuchten.
Sie haben über die Grenze zwischen Russland und der EU gefragt. Ich weiß nicht, worum es dabei geht. Wir hatten Verhandlungen über den Übergang zur Visafreiheit. Sie dauerten ziemlich lange und bestanden aus mehreren Phasen. Die letzte Phase, die wir ungefähr 2012 bzw. 2013 erreichten, betraf eine wesentliche Erleichterung der gegenseitigen Reiseordnung, unter anderem Visafreiheit für viele Kategorien von Bürgern, die an Jugend-, Kultur-, Sport- und Bildungsaustauschprogrammen teilnehmen. Leider trat dieses Dokument nie in Kraft, denn die EU-Kommission und Jose Barroso hatten ihre eigene Meinung. Sie stellten die Bedingung, dass dieses Abkommen nur für Besitzer von biometrischen Reisepässen gelten sollten. Wir stimmten zu. Dann sinnierten sie darüber, dass vor dem Inkrafttreten dieses Abkommens ein Rückführungsprotokoll unterzeichnet werden sollte, damit alle Straftäter unverzüglich legitim ausgewiesen werden könnten. Wir akzeptierten auch das, doch es nützte nichts. Es ist offensichtlich, dass man mit uns keine neuen Vereinbarungen unterzeichnen will, um die Grenzen durchsichtig und transparent – und möglichst durchdringlich – zu machen.
Am Ende fanden wir heraus, dass es nicht um die Besorgnisse der EU darüber ging, wie das Rückführungsabkommen funktionieren würde, und auch nicht um biometrische Reisepässe. Irgendwann sagte man uns ehrlich (das passierte lange vor dem Ausbruch der Ukraine-Krise), dass die EU die politische Entscheidung getroffen hatte, dass die Abschaffung der Visapflicht mit Russland unannehmbar wäre, bevor die Visapflicht gegenüber der Ukraine, Georgien und Moldawien abgeschafft wird. Man hat uns das offen und ehrlich gesagt, obwohl damals weder die Ukraine noch Georgien, noch Moldawien solche fortgeschrittene Vereinbarungen mit der EU hinsichtlich der Visafreiheit hatten wie Russland. So viel wert sind in Wahrheit die damaligen Behauptungen von der strategischen Partnerschaft und die Beteuerungen, das EU-Programm „Ost-Partnerschaft“, an dem die Ukraine, Georgien und Moldawien teilnehmen, keinen antirussischen Hintergrund hätte. Es stellte sich heraus, dass es diesen Hintergrund doch gibt: Alles, was man für die Entwicklung der Beziehungen im Interesse der Kontakte zwischen den Zivilgesellschaften sowie anderer Kontakte tun könnte, wird die EU vor allem mit diesen Ländern tun, und Russland könnte aus ihrer Sicht warten, obwohl es dazu wesentlich besser bereit ist als diese „Kundschaft“.
Frage: Wird es Antworten auf die Sanktionen der EU und Deutschlands geben?
Sergej Lawrow: Die Antworten wird es natürlich geben. Zur „Lokomotive“ der EU-Sanktionen wegen der „Causa Nawalny“ wurde Deutschland. Da sie leitende Beamte des russischen Präsidialamtes treffen, werden wir unsere Gegensanktionen nach dem Spiegelprinzip verhängen. Sie wurden bereits beschlossen, und wir werden demnächst unsere deutschen und französischen Kollegen darüber informieren. Die Sanktionen werden leitende Beamte der Apparate der Spitzenpolitiker Deutschlands und Frankreichs treffen.
Frage: Sie haben bereits mehrere Fragen zur jüngsten Wahl in den USA beantwortet. Danke, dass Sie dabei aufrichtig waren. Ich möchte das Thema strategische Beziehungen aufwerfen. Welche Fragen lassen sich mit der aktuellen US-Administration besprechen und lösen?
Sergej Lawrow: Wir hatten viele Vorschläge. Denn als Präsident Donald Trump ins Weiße Haus zog, reagierten wir aufrichtig darauf, dass er mehrmals öffentlich über den Wunsch sagte, gute Beziehungen zur Russischen Föderation aufzunehmen.
Ich war zweimal im Weißen Haus. Ich wurde von Präsident Donald Trump 2016 und vor kurzem Ende 2019 empfangen. Jedes Mal spürte ich seinen aufrichtigen Wunsch, mit Russland unter Bedingungen der gegenseitigen Vorteile, Gewährleistung der nationalen Interessen der USA in Ankopplung an Gewährleistung der russischen Interessen zu arbeiten. Wir begrüßen diese Stimmung, doch in der Tat bestimmte er nicht die praktische Arbeit der US-Administration. Wie ich bereits sagte, wurden Sanktionen fast 50 Mal eingeführt, was unter keiner anderen Administration der Fall war, deren Leiter deutlich weniger positiv in ihren öffentlichen Aussagen über die Russische Föderation waren.
Allerdings wissen wir, dass man „auf Beleidigten Wasser tragen soll“. Wir nehmen das nicht übel. Wir betrachten solche Situationen, die Beziehungen zu einem der führenden Staaten der Welt aus der Sicht des Pragmatismus, Realpolitik. Und Pragmatismus und Realpolitik erfordern, dass wir mit Amerikanern jedoch versuchen, einen Dialog zu den Problemen beizubehalten, vor allem im Bereich der strategischen Stabilität. Das ist am wichtigsten. Und den Dialog so aufrechterhalten, um alle Mechanismen nicht zu zerstören, die diese strategische Stabilität mehr oder weniger im Laufe von Jahrzehnten zum Wohle der Völker der Russischen Föderation und der USA und Erleichterung aller anderen Völker der Welt gewährleisteten. Das kann man ohne Übertreibung sagen. In der letzten Zeit bemühten wir uns, auf jeden potentiellen Reizfaktor, der in der Regel immer in Washington entstand, konstruktiv zu antworten.
Als Präsident Barack Obama das Thema der russischen Einmischung in die US-Wahlen 2016 ausdachte, schlugen wir unverzüglich vor, einen geschlossenen Sonderkanal zu nutzen, den wir zwischen den Zentren zur Reduzierung der Atomgefahr für den Fall der Atomvorfällen, Verdächtigungen hatten. Dort gibt es eine sehr gute geschlossene Kommunikationslinie. Als die USA uns vorwarfen, dass wir via „unsere Hacker“ sich in den Cyberraum der USA einmischen, um „die Abstimmung zu manipulieren“, den „Server der Demokratischen Partei zu hacken“, schlugen wir sofort vor, diesen geschlossenen Kommunikationskanal zu nutzen, damit die Amerikaner über diesen Kanal alle ihren Ansprüche übergeben, ohne ihre Offenlegung zu befürchten. Und wir werden auf alle ihren Apelle und Besorgnisse antworten.
Wir schickten einige Male solche Anfragen, jedes Mal gab es Ablehnung. Als bereits unter Donald Trump das Thema auftauchte, dass sich Russland in die „Wahlen einmischte“, „nicht auf US-Besorgnisse reagierte“, schlugen wir ihnen ehrlich vor, die ganze Korrespondenz offenzulegen, die wir vom Oktober 2016 bis Januar 2017 hatten und wo wir den Amerikanern vorschlugen, einen fairen Dialog aufzunehmen, damit sie uns konkrete Besorgnisse vorlegen und wir darauf reagieren. Sie weigerten sich kategorisch, wollten sie nicht offenlegen. Doch über den Fakt unserer Vorschläge haben wir gesagt.
Danach entstanden Probleme bereits mit den Abrüstungsvereinbarungen – zum Beispiel mit dem INF-Vertrag. Die USA warfen uns unter einem absolut ausgeklügelten Vorwand die Entwicklung einer Rakete vor, die angeblich in der verbotenen Reichweite getestet wurde, kündigten den Austritt aus dem Vertrag an. Unsere Einladung zur Inspizierung dieser Rakete wurde arrogant abgelehnt. Nicht nur die Amerikaner haben ihre Spezialisten nicht zugeschickt, sondern sie verboten allen Nato-Ländern, auf unsere Einladung zu reagieren, weil wir sie zu dieser Inspektion ebenfalls eingeladen haben. „Nicht gehorsam“ waren nur die Griechen, Türken und Bulgaren. Sie schickten ihre Militärattachés, die innerhalb einiger Stunden die Rakete besichtigten, Fragen an unsere Spezialisten stellten und Antworten bekamen. Die Türkei, Griechenland und Bulgarien – das sind die Länder, wo es wohl keine solchen Spezialisten wie in den USA gibt, die professionellere Fragen über die Eigenschaften der Kurz- und Mittelstreckenraketen stellen könnten. Doch Washington lehnte selbst solchen Besuch ab, kündigte den Austritt aus dem Vertrag an. Sehr bald wurde klar, warum sie das machten. Denn sie wollten bereits die vom Vertrag verbotenen Raketen schon lange vor seinem Außerkrafttreten aufstellen. Jetzt sehen Sie, dass sich diese Raketen nach Japan, Südkorea bewegen. Zugleich werden die Raketenabwehranlagen, die sich unter anderem in Rumänien und danach in Polen (MK-41) befinden, operativ zum Start der Marschflugkörper genutzt, wie wir das ahnten.
Als wir viele Jahre darüber sagten, dass das uns beunruhigt, sagten die Amerikaner, dass es sich bei der MK-41 ausschließlich um Raketenabwehr handelt, und sie werden Gegenraketen starten. Doch sie werden von der Korporation Lockheed Martin hergestellt. Auf deren Webseite ist Werbung platziert, wo es heißt, dass die MK-41-Anlage ein Doppelzweck-Erzeugnis ist – sie kann sowohl Gegenraketen, als auch Marschflugkörper abfeuern. Das ist schon die bodengestützte Stationierung der Kurz- und Mittelstreckenraketen, was durch den Vertrag verboten war.
Zwei Monate nach der Auflösung des INF-Vertrags auf US-Initiative wurde diese Anlage mit dem Marschflugkörper getestet. Als uns vorgeworfen war, dass wir den Vertrag verletzen und die Amerikaner gerade deswegen aus diesem Vertrag aussteigen sollen, stimmt das nicht. Sie wollten aussteigen, sie brauchten diese Waffen in Europa und insbesondere in Asien.
Was die jetzige Situation mit diesen Raketen, dieser Waffenkategorie betrifft, richtete Russlands Präsident Wladimir Putin bereits vor einem Jahr an alle seinen Partner, darunter alle Nato-Länder, Vorschläge darüber, wie man jedoch die mit dem Zerfall des INF-Vertrags verbundene Krise überwunden soll. Er bestätigte, dass wir ein Moratorium für die Stationierung der bodengestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen erklären, solange in einer Region der Welt keine entsprechenden US-Systeme auftauchen. Er schlug vor, dieses Moratorium gegenseitig zu machen, wobei hervorgehoben wird, dass wir bereit sein werden, entsprechende Verifikationsmaßnahmen zu besprechen. Das wurde von allen Ländern außer Frankreich ignoriert. Die Franzosen zeigten Interesse daran, wie solches Moratorium verifiziert werden könnte. Das ist der Schlüssel dazu, dass es gegenseitiges Vertrauen geben soll. Alle anderen sagten „Nein“. Russland verfüge angeblich bereits über diese Rakete, es verletze alles und wolle nicht, dass sie auch so etwas bekommen, weshalb es solches Moratorium vorschlägt.
Wir lassen die Arme nicht sinken und meinen weiter, dass die wiederholte Stationierung der Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa und Asien (doch vor allem in Europa) eine kolossale Bedrohung sein wird. Obwohl sie aus Asien auch einen bedeutenden Teil unseres Territoriums erreichen können, auch wenn sie, wie gesagt, zur Abschreckung Chinas gestartet werden. Doch wir brachten eine neue Initiative auf, das machte Präsident Wladimir Putin. Bezüglich der Kurz- und Mittelstreckenraketen schlug er vor, zu einem gemeinsamen gegenseitigen Moratorium bei einer konkreten Regelung der Vertrauensfragen via Verifizierung zurückzukehren. Da die Nato, die Amerikaner über die Mk-41-Anlagen in Rumänien und Polen verfügen, die bodengestützte Marschflugkörper abfeuern können, und wir die 9M729-Rakete haben, die von ihnen wegen Verletzung der Reichweite verdächtigt wird, wollen wir gegenseitige Inspektionen organisieren. Sie würden uns ihre Anlagen und wir ihnen – unsere Raketen zeigen. Zudem wären wir bereit (auch wenn wir sie nicht davon überzeugen, dass die Rakete 9M729 eine geringere Reichweite als 500 km hat), sie aus dem Gebiet Kaliningrad und überhaupt aus dem europäischen Teil der Russischen Föderation abzuziehen. Ist es nicht ein fairer Vorschlag? Bislang gab es keine klare Reaktion. Das überzeugt uns erneut davon, dass die Amerikaner gar nicht die Rüstungskontrolle brauchen. Sie brauchen die unkontrollierbare Stationierung der Waffen, die sie wollen und für die Abschreckung Chinas, Russlands und noch jemanden brauchen.
Ein weiterer Vorschlag. Ich erwähnte bereits Cyber-Angelegenheiten. In den USA begann vor kurzem wieder Hysterie wegen Einmischung via Cyberraum. Wir fördern in der UNO seit langem Initiativen über die Notwendigkeit, die internationale Informationssicherheit zu gewährleisten, und zwar so, dass der Cyberraum bzw. Internet nicht einzeln, sondern gemeinsam kontrolliert wird und alle Länder verstehen, wie Internet funktioniert, dass es so funktioniert, um nicht die nationale Sicherheit von jemandem zu verletzen. Wir setzen diese Arbeit in der UNO fort. Sie gefällt nicht allen – die Amerikaner versuchen, sie zu bremsen. Doch die vor einigen Tagen getroffenen Beschlüsse der UN-Generalversammlung sehen die Fortsetzung dieser Arbeit zur Abstimmung der Regeln eines verantwortungsvollen Verhaltens aller Staaten im Cyberraum vor.
Zugleich schlugen wir den Amerikanern vor (wie sie wissen, wurde im September die Initiative des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin erläutert), die bilaterale Arbeit für Cybersicherheit zu intensivieren, die von ihnen eingestellte Tätigkeit der Arbeitsgruppe, die existierte und ziemlich erfolgreich funktionierte, wiederaufzunehmen mehrere andere Maßnahmen zu treffen, die die Senkung der Spannung im Cyberbereich via Gewährleistung der Transparenz von Dialog und Verzicht auf unbegründete Vorwürfe, die mit Verzicht auf jede Gespräche begleitet werden, ermöglichen werden.
Wir haben viele Initiativen, die darauf gerichtet sind, um zusammen mit den USA die Fragen der globalen Sicherheit zu lösen, die immer mehr auf den Prüfstein gelegt wird.
Die USA steigen jetzt aus dem Vertrag über den Offenen Himmel aus. Im Vertrag heißt es, dass die Angaben, die während der Flüge im Rahmen des offenen Himmels erhalten werden, allen anderen Teilnehmern dieses Vertrags bereitgestellt werden sollen, also sie dürfen nicht den Nicht-Teilnehmern bereitgestellt werden. Wir wissen, dass die Amerikaner jetzt aktiv die Nato, alle ihren Partner „bearbeiten“, die im Vertrag bleiben. Washington fordert von ihnen die Unterzeichnung der Papiere – wenn sie schon ohne die USA im Vertrag bleiben werden, sollten sie die bei Flügen über die Russische Föderation erhaltenen Angaben den USA übergeben. Ist das anständig? Gar nicht anständig. Die USA wollen niemandem etwas zeigen und werden selbst via ihre Verbündeten illegal Informationen bekommen, die sie laut Vertrag den Amerikanern nicht bereitstellen dürfen. Gleichzeitig zwingen sie ihre Verbündeten – wenn Russland die Flüge über Europa und anderen westlichen Ländern beantragen wird, die Flüge über US-Militärobjekte in diesem Ländern zu verbieten. Das ist auch eine grobe Verletzung des Vertrags. Doch die Amerikaner – wir wissen das – zwingen ihre Partner dazu, solche Forderungen gegenüber uns zu stellen.
Natürlich können wir uns damit nicht abfinden. Wenn man den Vertrag in Kraft lassen will, und wenn wir da bleiben wollen, werden wir von unseren Partnern schriftlich fordern, juridisch zu bestätigen, dass sie erstens die Flüge über einem Teil seines Territoriums nicht verbieten werden unabhängig davon, ob es dort US-Stützpunkte gibt oder nicht. Das ist ihr Territorium – Territorium der westlichen Länder, die im Vertrag bleiben. Zweitens, dass sie sich kategorisch verpflichten, die Angaben über die Flüge über der Russischen Föderation den USA nicht zu übergeben.
Zurück zum New START-Vertrag. Wenn er ausläuft, werden wir keinen einzigen Vertrag haben, der zumindest die Waffen kontrolliert und transparente Bedingungen für die Aufrechterhaltung der strategischen Stabilität gewährleistet. Wir sind bereit, ein Gespräch zu allen neuen Waffentypen zu beginnen, einschließlich jener, die von Präsident Wladimir Putin angekündigt wurden, und jetzt aktiv entwickelt werden, bereits der Armee übergeben werden. Wir sagten direkt, dass sie Systeme Sarmat und Avangard dem START-Vertrag zugehören. Wir sind bereit, diese Waffen im Vertrag zu berücksichtigen. Alles andere – Poseidon, Burewestnik und eine Reihe anderer Waffen – gehören diesem Vertrag nicht. Deswegen, um diese Waffen zu besprechen, brauchen wir neue Verhandlungen, neue Rahmen. Wir schlagen vor, solches Gespräch aufzunehmen, jedoch nicht einfach die Zahl der Sprengköpfe besprechen, wie die Amerikaner es vorschlagen, damit sie endgültig erfahren, wie es bei uns mit den taktischen Atomwaffen ist (das interessiert sie). Sprengköpfe – das ist zweitrangig. Vorrangig sind die Mittel, die diese Sprengköpfe tragen können.
Wir schlagen den Amerikanern vor, sich zu setzen und ihre neue Situation anzusehen, unsere neuen Waffen, US-Waffen, die geplant werden, zu inventarisieren, und am wichtigsten – die Doktrinen zu analysieren, die in unseren Ländern ausgearbeitet wurden und die Anwendung von Atomwaffen vorsehen, dazu Bedingungen bestimmen.
Die USA senkten in ihren Doktrinen stark die Grenze der Anwendung der Atomwaffen. Es werden Sprengköpfe einer geringen Kapazität in der Hoffnung geschaffen, dass sie präventiv wie Waffen des Schlachtfelds genutzt werden. Das ist eine äußert gefährliche Entwicklung. In den USA sind der Weltraum und Cyberraum in Doktrinen als Arena der Kampfhandlungen definiert. Das alles soll ebenfalls besprochen werden. Das ist viel wichtiger als die Zahl der taktischen Sprengköpfe. Der Sprengkopf an sich hat keine Bedeutung. Er ist von Bedeutung, wenn es der Träger und Doktrinen gibt, die diesen Träger in Bewegung bringen. Das ist, worüber wir sprechen wollen.
Wenn die USA diese Gespräche ehrlich betrachten und nicht erneut in ein Tor spielen wollen, sollten sie dem zustimmen. Wir hoffen sehr, dass unabhängig davon, welche Administration ins Weiße Haus kommt, wird sie ihre Verantwortung für die strategische Stabilität, darunter angesichts dieser sehr unangenehmen Tendenzen verstehen – die Zerschlagung von all, was es gab, und die Unfähigkeit, etwas Neues zu schaffen, was ebenso umfassend werden könnte.
Das Letzte. Zur Zusammensetzung der Teilnehmer dieser Verhandlungen. Wir alle wissen die Besessenheit der USA von der Einbeziehung Chinas in die Verhandlungen. Wir sind nicht gegen die Erweiterung der Verhandlungen vom bilateralen zum multilateralen Format. Doch wir respektieren die Position Chinas, das sagte, dass es nicht an jeglichen Verhandlungen teilnehmen wird. Obwohl, sowie ich verstehe, sie irgendwelche Konsultationen mit Amerikanern führen. Doch auch wir führen Konsultationen mit allen zu verschiedenen Fragen. Wenn es um Verhandlungen gehen wird, und Washington so sicher ist, dass es ohne Peking unmöglich ist, etwas Neues zu sagen, mögen die USA China davon überzeugen. Wir werden nicht dagegen sein. Doch wir haben nicht vor, China zu überzeugen, indem wir seine Position sehr gut verstehen und respektiert. Wenn die Verhandlungen multilateral sein sollten, sollten da auch Großbritannien und Frankreich sein. Als wir das den Amerikanern sagten, antworteten sie, dass es eine ganz andere Sache sei, das seien ihre Verbündeten und China sei unsere gemeinsame Bedrohung. Was ist das für eine Logik? Ja, das sind die Verbündeten der USA, doch desto wichtiger ist es, auch ihr Atompotential zu berücksichtigen. Jetzt testen Franzosen ein neues U-Boot, neue Raketen. Sie sind Verbündeten der USA, sind durch den Artikel 5 des Washingtoner Vertrags verbunden. Wie kann man sagen – „da sie unsere Freunde sind, werden wir sie außer Rahmen lassen“? Das ist unhöflich. Solches Herangehen wird natürlich nicht funktionieren.
Ich sprach so lange, weil, wie sie sehen können, wir viele konkrete konstruktive Vorschläge haben, auf die wir eine Antwort von jeder Administration erwarten, die ins Weiße Haus am 20. Januar 2021 ziehen wird.