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Antworten des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, auf Fragen der Informationsagentur “ITAR-TASS”, Moskau, 4. August 2014

1850-04-08-2014

Frage: Wie schätzen Sie die Ergebnisse des Treffens der Ukraine-Kontaktgruppe in Minsk ein und wie sehen die Perspektiven für ein neuerliches Treffen in diesem oder einem anderen Format aus? Kommentieren Sie bitte die Mitteilungen über einen massenhaften Wechsel ukrainischer Soldaten auf die russische Seite. Und was können Sie insgesamt zum Thema Ukraine sagen?

Sergej Lawrow: Eine Einschätzung des Treffens in Minsk hat bereits der Präsident Russlands, Vladimir Putin, abgegeben, unter anderem auch im Zuge seiner Kontakte zu ausländischen Staatsoberhäuptern. Wir begrüßen jedwede Schritte, die auf einen Dialog ausgerichtet sind, und nicht auf eine Fortsetzung der Kampfhandlungen. Um produktiv zu sein, muss der Dialog gleichberechtigt sein. Mit anderen Worten, die Vertreter des Südostens der Ukraine müssen als Partner in einer Situation betrachtet werden, die geregelt werden muss, damit sich alle, die in der Ukraine leben, als Ukrainer fühlen können, als Teil des Staates, damit sie direkten Anteil an der Durchführung von Reformen im Land nehmen können, die lange ausständig und sogar schon überreif sind. Davon haben im Übrigen auch die ukrainischen Vertreter gesprochen, als sie noch in der Opposition waren. Jetzt stehen sie an der Spitze des Staates und es wäre wünschenswert, dass sie jene Forderungen nach der Schaffung von Strukturen nicht vergessen, die es ermöglichen, die nationale Einheit zu stärken, und nach denen sie gerufen haben, als sie noch in der Opposition waren. Ansonsten sind sie nichts als Opportunisten und Günstlinge.

Es ist sehr wichtig, auch die anderen Vereinbarungen einzuhalten, die auf internationaler Ebene getroffen wurden. Insbesondere haben die Außenminister Russlands und der Ukraine im Beisein des Außenministers der USA und der Hohen Repräsentantin für Auswärtige Angelegenheiten und Sicherheitspolitik der Europäischen Union am 17. April in Genf eine Erklärung unterschrieben, die auf die Lösung dreier dringender Aufgaben ausgerichtet war.

Erstens – eine unverzügliche Einstellung der Gewaltanwendung, zweitens – eine unverzügliche Lösung der humanitären Probleme und drittens – die unverzügliche Durchführung einer Verfassungsreform in einem Format, das die Beteiligung aller Regionen der Ukraine vorsieht und das offen und der öffentlichen Meinung gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

Nicht eine der drei Forderungen, die der ukrainische Außenminister unterschrieben hat, wurde erfüllt, vor allem deshalb nicht, weil Kiew einen anderen Weg gewählt und versucht hat, die international abgestimmten Verpflichtungen auszutauschen gegen den so genannten „Friedensplan von Petro Poroschenko", der in die richtige Richtung gezeigt hat, indem er eine Waffenruhe vorschlug, doch der in den anderen Punkten verlangt hat, diese Waffenruhe dazu zu nutzen, dass alle Separatisten die Waffen niederlegen und sich „der Güte des Siegers" ergeben. Das steht in direktem Widerspruch zu den Verpflichtungen, die die Ukraine übernommen hat, und zwar die Aufnahme eines gleichberechtigten, ehrenvollen Dialogs mit allen Regionen darüber, wie der Staat derart aufgestellt werden kann, dass es allen darin gut geht, dass sich die Regionen als Teil eines Landes fühlen, das sie achten, das seine Führung selbst wählt, das bestimmte Rechte im Bereich der Wirtschaft, der Finanzen und der Steuereinhebung hat, und das die kulturell-humanitären Traditionen seiner Bevölkerung gewährleistet, einschließlich die Verwendung der Muttersprache. Ich wiederhole nochmals, dass das nicht gemacht wurde. Wir haben das Augenmerk der Partner beim Minsker Treffen darauf gerichtet, dass diese Kriterien von niemandem aufgehoben wurden. Sie wurden vereinbart und gebilligt, so auch von den Ukrainern im Beisein der USA und der EU. Zu versuchen, dies „unter den Teppich zu kehren", ist unehrenhaft und wir lassen nicht zu, dass so etwas gemacht wird.

Bezüglich der Lage mit den ukrainischen Soldaten. Laut Mitteilungen haben 438 Soldaten ersucht, sie auf russischem Territorium vor Kampfhandlungen schützen zu dürfen. Davon sind 164 Grenzsoldaten. Wir haben schon öfters den ukrainischen Militärs geholfen, wenn diese um Hilfe gebeten haben; wenn es um die Versorgung verwundeter Kameraden ging, haben wir medizinische Hilfe geleistet. All jenen, die zurückkehren wollten, haben wir ungehindert eine derartige Möglichkeit eröffnet, niemand wurde gewaltsam zurückgehalten. Es stimmt schon, dass diejenigen, die beschlossen haben, in die Ukraine zurück zu kehren, dann beschuldigt wurden, desertiert zu sein und vor ein Tribunal gestellt wurden. Ich rechne damit, dass die ukrainischen Machthaber trotz allem human agieren und die völlige Unannehmbarkeit der Lage verstehen werden, wenn Ukrainer gegen Ukrainer kämpfen, wenn sie gezwungen werden, gegen das eigene Volk die Waffe zu erheben, und wenn diejenigen, die sich weigern, das zu tun, zu Verrätern an der Heimat werden.

Es geht nicht darum, Befehle auszuführen, sondern darum, seinen Verpflichtungen nachzukommen, die die derzeitigen ukrainischen Machthaber übernommen haben. Ich habe bereits davon gesprochen. Sie haben sich in der internationalen Arena verpflichtet - sowohl unter Viktor Janukowitsch, als auch nachher, nachdem sie ihn durch einen bewaffneten Umsturz zu Fall gebracht hatten – einen gleichberechtigten Dialog mit allem Regionen und politischen Kräften des Landes aufzunehmen. Darin liegt die Hauptaufgabe. Wenn jetzt damit begonnen wird, dann erlaubt dies die Lösung sehr vieler Probleme. Die Separatisten können ihre Familien beruhigen und auch jene, die auf sie zählen, weil sie die Orte beschützen. Das würde es wahrscheinlich ermöglichen, diesen Wahnsinn zu stoppen, wo doch mit jedem Tag immer mehr Nachrichten eingehen, dass mit schweren Waffen und Raketenwerfern, einschließlich Granatwerfern auf Siedlungen geschossen wird. Darunter leiden Kinderheime, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten. Unsere Aufrufe, die wir nicht die erste Woche an internationale Organisationen, einschließlich der UNO, der OSZE, des Internationalen Roten Kreuzes und des Europarats richten, dass sie sich einmischen sollen - und wenn das zurzeit nicht möglich ist, die ukrainischen Machthaber dazu zu zwingen, eine Waffenruhe zu vereinbaren, - so sollten doch zumindest irgendwelche humanitäre Aktionen gesetzt und eine internationale humanitäre Mission organisiert werden. Über das Katastrophenministerium Russlands haben wir wiederholt versucht, eine Konvoi mit Hilfsgütern zu schicken: mit Nahrungsmitteln, medizinischen Geräten und Gütern des täglichen Bedarfs. Wie es sich gehört, haben wir die ukrainischen Machthaber ganz offiziell mittels Note ersucht, die Anlieferung dieser Hilfsgüter abzustimmen. Uns wurde empört, ich kann sagen, sogar in einem rowdyhaften Stil, geantwortet: „Wir brauchen keine Hilfe, löst das Problem mit der humanitären Katastrophe auf der Krim". Das ist eine offizielle Note des Außenministeriums der Ukraine. Es ist ganz einfach empörend, von welchem Gesichtspunkt aus man es auch betrachtet, es ist inhuman.

Heute habe ich neuerlich ein offizielles Schreiben an die OSZE, den Europarat, das Internationale Rote Kreuz und die UNO gerichtet mit dem Aufruf, unter der Ägide des Internationalen Roten Kreuzes humanitäre Hilfe nach Lugansk und Donezk zu schicken, sowie auch in die kleineren Orte rund um diese Großstädte. In Lugansk gibt es kein Wasser und keinen Strom, die Infrastruktur muss unverzüglich in Ordnung gebracht werden.

Ich rechne damit, dass die internationale Gemeinschaft, die mit Enthusiasmus und Sorge auf derartige Fälle humanitärer Krisen reagiert, zum Beispiel im Gazastreifen, trotz allem auch dem Südosten der Ukraine ihr Augenmerk schenkt, wo die Bevölkerung nicht weniger leidet, als die Zivilbevölkerung in Gaza. Jedoch mit einem Unterschied: Israel wurde aus dem Gazastreifen mit Raketen beschossen, worauf es antworten musste, wenn auch unverhältnismäßig. Die russische Seite hat im Übrigen ihre Meinung kundgetan, dass alle maximale Zurückhaltung anwenden und zeigen müssen.

Im Südosten der Ukraine geht es um etwas ganz anderes – hier haben die Menschen zu den Waffen gegriffen, um sich vor der ukrainischen Armee zu schützen, vor der „Nationalgarde" und vor Gott weiß was sonst noch für speziell geschaffenen Bataillons, die von Privatpersonen bezahlt werden, die beschlossen haben, die gesetzlich legitime Auflehnung gegen jene, die von den neuen Machthabern unterstützt werden und die die russische Sprache und die Rechte der Regionen usw. beschneiden, mit Gewalt niederzuschlagen. Hier wird nicht mit Gewalt auf Gewalt geantwortet, sondern hier geht es um Gewaltanwendung gegen jene, die beschlossen haben, ihre gesetzlichen Rechte zu schützen: die sprachlichen, kulturellen und juristischen.

Ich rechne damit, dass die internationalen Organisationen auf die Krise im Gazastreifen reagieren werden, was absolut notwendig ist, damit solche Vorfälle aufhören, die völlig unschuldigen palästinensischen Bürgern Leid zufügen, aber es darf auch nicht auf die Aggression im Südosten der Ukraine vergessen werden, die man einstweilen noch versucht, vor der Öffentlichkeit links liegen zu lassen.

Frage: Die Krise in der Ukraine und im Gazastreifen haben die Lage in Syrien von den ersten Zeitungsseiten verdrängt. Seinerzeit hat die Initiative Russlands faktisch einen Schlag gegen Syrien verhindert, der mit der Vernichtung chemischer Waffen im Zusammenhang steht. Inzwischen haben dort Wahlen stattgefunden. Wie schätzen Sie heute die Lage in diesem Land ein? Inwieweit sind die Perspektiven für eine syrische Regelung näher gerückt?

Sergej Lawrow: Die Perspektiven rücken näher, aber leider nur deshalb, weil wegen des schrecklichen Konflikts, der bereits ganz offen einen grenzüberschreitenden Charakter annimmt, immer mehr Menschenleben zu beklagen sind. Die ehemalige Gruppierung „Islamischer Staat im Irak und in der Levante", die sich jetzt „Islamisches Kalifat" nennt, hat nicht nur einige Gebiete in Syrien besetzt, sondern sie gewinnt auch immer mehr Boden im Irak. Gemäß Pressemitteilungen befindet sich der Staudamm eines Wasserkraftwerks in der Stadt Mosul in den Händen dieser Terrorgruppe. Es sind dieselben Terroristen, die – als sie auf syrischem Territorium agierten, von unseren westlichen Partnern (allen voran von Washington) als Kräfte betrachtet wurden, die zwar nicht den „hohen westlichen Wertvorstellungen" entsprachen, aber dennoch gegen des „blutige Regime" kämpften. Als wir auf die Gefahr aufmerksam machten, derartigen Gruppierungen gegenüber allzu nachsichtig zu sein, war die Essenz der Reaktionen unserer engen amerikanischen Partner die, dass die Terroristen zuerst einmal zusammen mit allen anderen Kräften Präsident Baschar Assad stürzen müssten, und dann würde man sich mit ihnen auseinandersetzen".

Einstweilen setzt sich diese Gruppierung leider mit dem Irak auseinander. Die Amerikaner sind in Aufregung geraten. Das zeigt zum wiederholten Male, dass die Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Region keinerlei durchdachte Strategie verfolgen und dass all unsere Versuche, noch im frühen Stadium der Syrienkrise ein hörbares Gespräch anzuknüpfen, leider zu nichts geführt haben. Unsere Vorschläge waren ganz einfach: man darf das Vorgehen in der internationalen Arena nicht immer der eigenen inneren Konjunktur unterstellen, genauso wenig wie die Außenpolitik - der persönlichen Sympathie oder Antipathie. So war das in Libyen, als man – wie Sie sich erinnern können – auf Muammar Gaddafi „böse wurde", dem man die Schuld für alles Unglück in der Region gab. Muammar Gaddafi wurde mit Hilfe radikaler Gruppierungen gestürzt, die unter anderem Waffen aus Frankreich und einer Reihe von Golf-Staaten erhielten, ungeachtet der Tatsache, dass es zu jener Zeit ein Embargo auf Waffenlieferungen an wen auch immer in Libyen gab. Nichts desto trotz wurden sie geliefert, und aus Paris und aus einigen Staaten im Persischen Golf hörte man Erklärungen wie: „ja, wir machen das, weil Muammar Gaddafi gestürzt werden muss". Später haben dann dieselben Franzosen in Mali gegen jene „Burschen" gekämpft, die sie für den Sturz von Muammar Gaddafi bewaffnet haben. Das ist eine Tatsache. Bis heute wurde diesen Gruppierungen „nicht der Todesstoß versetzt", sie machen große Probleme und schmieden Intrigen. In Mali wird es jetzt anscheinend etwas ruhiger, obwohl das Problem nicht endgültig gelöst ist, so wie auch in der Zentralafrikanischen Republik, im Tschad und in vielen anderen afrikanischen Regionen.

Jetzt wird dieser Fehler im Irak wiederholt, wo nach dem Sturz von Saddam Hussein ein amerikanischer General im Prinzip alle Strukturen auseinandergejagt hat, in denen Vertreter von Sunniten waren (das waren die Armee, die Sicherheitsstrukturen und die Polizei). Jetzt sind die Sunniten dabei, Revanche zu nehmen, obwohl von Anfang an klar war, dass man das Problem eines so komplizierten Landes wie des Irak nur durch nationales Einvernehmen lösen kann.

Russland hat anstelle derartiger Aktionen, die ausschließlich von persönlichen Beziehungen zu dem einen oder anderen Staatsführer diktiert werden, vorgeschlagen, einzelne wesentliche Kriterien auszuwählen, insbesondere den Kampf gegen den Terrorismus. Wenn dieses Kriterium als gemeinsamer Nenner für die Handlungen Russlands, der USA, Europas, der Länder des Persischen Golfs und des Nahen Ostens, sowie anderer Staaten ausgewählt worden wäre, dann hätte sich vieles geklärt. Aber dafür muss man eine ehrliche Wahl treffen und auf eine Zusammenarbeit mit jenen verzichten, die heute dein situativer Helfer beim Sturz irgendeines Despoten sein können, der dir persönlich unsympathisch geworden ist, und dann entscheiden, was man mit ihnen macht, wenn sie zur Last geworden sind. Wenn wir keine Wahl treffen und keine eindeutige, klare Herangehensweise haben, und wenn wir uns insbesondere nicht konsolidieren auf der Antiterror-Plattform, dann werden wir immer wieder auf derartige Probleme stoßen. Der Preis für einen derartigen Zickzack-Kurs sind hunderte, ja tausende Menschenleben, wie wir das in Libyen sehen, wo der Staat zerstört wurde.

Dasselbe passiert im Irak, der auch schon „aus allen Nähten platzt". Wir versuchen ein derartiges Szenario zu verhindern, weil dann das Kurdenproblem explodiert, und das wäre schrecklich. Wir sehen das auch in Syrien, wo versucht wird, dasselbe zu tun, nur um eine einzige Person zu stürzen. Wenn wir uns mit unseren westlichen Partnern unterhalten, dann sagen die uns schon seit eineinhalb oder zwei Jahren immer dasselbe: „Uns ist allen klar, dass die Gefahr des Terrorismus, der in Syrien gesiegt hat, um ein Vielfaches schlimmer ist, als Präsident Baschar Assad an der Macht zu lassen. Sie sagen das ganz offen. Wir schlagen vor, davon auszugehen und gegen den Terrorismus zu kämpfen. Als Antwort flüstern sie, dass das stimme, aber dass der US-Präsident und die Führer einer Reihe europäischer Staaten bereits gesagt haben, dass Baschar Assad keine Handschlagqualitäten habe. Und das ist alles. Wie man so sagt: „Ein Wort ist kein Spatz", aber wenn man sich in diesem Fall von diesem russischen Sprichwort leiten lässt, dann führt das zu nichts Gutem.

Frage: Es nähert sich das denkwürdige Datum des 20-jährigen Abzugs der Truppen aus Europa. Dieses Datum ist vielleicht nicht so laut, aber doch bezeichnend für die russisch-europäische Ecke. Wie schätzen sie dieses Datum ein und wie sehen sie die Lage 20 Jahre danach?

Sergej Lawrow: Das ist eine schwierige Frage. Ich möchte nicht in die Geschichte eintauchen. Ich sage nur, dass viele die Eile kritisiert haben, mit der das gemacht wurde. Es wurde auch die Situation kritisiert, dass Russland im Austausch dafür praktisch nichts erhalten hat, schon allein dazu, um die Offiziere und Soldaten, die Europa verlassen haben, würdig umsiedeln zu können. Sie wurden mit ihren Familien in Zelten irgendwo auf dem Feld untergebracht. Für mich ist klar, dass diese Eile nicht von der Notwendigkeit diktiert war. Als die sowjetische Führung dem Zeitplan zustimmte und ihn sogar selbst erstellte, waren die westlichen Partner ernsthaft und angenehm überrascht. Sie hatten mit ganz anderen Fristen und finanziellen Bedingungen gerechnet.

Aber trotzdem muss Folgendem Rechnung getragen werden: Es war nicht so, dass damals eine Euphorie geherrscht hätte, aber neben der konjunkturellen Berechnung, in die Geschichte eingehen zu können, hatten die Führer jener Zeit wahrscheinlich auch den aufrichtigen Wunsch, ein neues Leben zu beginnen und in Europa einen Partner zu finden in der Hoffnung, dass sowohl Europa, als auch der gesamte Westen uns nun ebenfalls als Partner betrachten würden. In der Hoffnung darauf, dass alles gleichberechtigt, freundschaftlich und ehrlich ablaufen würde. Darauf, dass, wenn es keinen Warschauer Pakt und keine Sowjetunion mehr gibt, und wenn die Truppen abgezogen seine, auch die NATO überflüssig wäre und überhaupt alle Attribute, die zur Epoche des „Kalten Krieges" gehören. Diese Hoffnungen wurden nicht erfüllt. Die NATO hat – wie Sie wissen – nicht aufgehört, sich zu vergrößern und betreibt das weiter. Der Nordatlantikpakt sucht einen Sinn für seine weitere Existenz. Eine gewisse Zeit lang hat Afghanistan geholfen. Jetzt haben alle verstanden, dass Afghanistan eine Sache ist, die die Solidarität der NATO ins „Bodenlose" zieht. Es ist aussichtslos, irgendetwas davon zu tun, was der Nordatlantikpakt gemacht hat: die Lage mit der Drogengefahr und der Drogenindustrie hat sich verschärft, zumindest um einen Grad, wenn nicht sogar um einige Grade.

Auf der Suche nach einem Sinn hat sich die NATO Russland zugewandt. Ich versichere Ihnen, wenn es die Ukraine nicht gäbe, dann wäre irgendein anderer Aspekt der russischen Innen- oder Außenpolitik hergenommen worden. Wir beobachten das. Erstens gibt es Meinungsverschiedenheit mit dem Westen bezüglich Syriens, von denen ich bereits gesprochen habe. Als der Westen erklärt hat, dass der syrische Präsident Baschir Assad kein Partner mehr sein kann, ist die russische Seite davon ausgegangen, dass man das Regime nicht stürzen darf, sondern dass man sich einigen muss. In der Syrienfrage wurde Russland die Schuld an allem zugeschoben, was dort vor sich geht. Dann ist der ehemalige Mitarbeiter des CIA und der Agentur für Nationale Sicherheit der USA; Edward Snowden, aufgetaucht. Wegen ihm ist es ebenfalls zu einer großen Verstimmung und zu „Angriffen" auf die russische Politik gekommen. Dann – die Olympiade. Der Grund ist völlig unklar. Vielleicht deshalb, weil die Olympiade überhaupt stattgefunden hat, vielleicht deshalb, weil dem Westen schien, dass wir sie uns „allzu viel haben kosten lassen". Wieder andere meinten, dass sie zu erfolgreich war und Russland gesiegt habe. Ich weiß es nicht. Diese voreingenommene Stimmung war schon lange vor den Ereignissen in der Ukraine spürbar.

Trotz all der guten Absichten, derer uns die westlichen Partner in Europa und Amerika versichert haben, gibt es leider doch die Trägheit des „Kalten Krieges" und die Unfähigkeit, sich den fortlaufenden Versuchen zu widersetzen, alle Europäer unter das „NATO-Dach" zu jagen und von dort aus mit uns „mit resoluter Stimme" zu sprechen. All das ruft großes Bedauern hervor, weil das keine Politik der Weitsicht ist. Sie gründet auf dem Wunsch, die eigene Ordnung um jeden Preis zu verteidigen, und gegen jene, die damit nicht einverstanden sind, Sanktionen zu verhängen und sich an ihnen auf jedwede Weise zu rächen (anders kann ich das nicht nennen) wegen ihrer Selbständigkeit und der Weigerung, bei der unipolaren Welt an der Leine zu gehen.

Frage: Ich möchte Sie wegen der bevorstehenden Ankunft des neuen amerikanischen Botschafters, John Tefft, in Moskau befragen. Auf uns und unsere Kollegen macht er den Eindruck eines „Grafen Cagliostro" oder eines Gogol´schen „Revisors". Um seine Persönlichkeit gibt es schon so viel Gerede, obwohl ein durchaus professioneller Diplomat kommt. Hatten Sie schon Kontakt zu John Tefft? Was erwarten Sie von ihm? Ist beim Ausbau der russisch-amerikanischen Beziehungen ein „Licht am Ende des Tunnels" zu sehen?

Sergej Lawrow: Ich kenne John Tefft nicht, obwohl wir Kollegen sind, aber einige meiner Stellvertreter kennen ihn. Er ist wirklich vom Fach, ein Karrierediplomat. In diesem Sinne stimme ich Ihnen vollkommen zu, dass man um die Ankunft des neuen Leiters der diplomatischen Mission in Moskau keinen Lärm machen muss. Er ist ein Karrierediplomat und in diesem Sinne wird es wahrscheinlich einfacher sein, da ein solcher Diplomat das ausführt, was ihm aufgetragen wird. Die Entscheidungen werden in Washington getroffen. Als er Botschafter in Georgien und in der Ukraine war, hat er nicht „sein eigenes Spiel" gespielt. John Tefft ist ein Mann von Disziplin, er hat sein ganzen Leben lang im US-Außenministerium gearbeitet, daher hat er das gemacht, was ihm befohlen wurde, im Unterschied zu seinem Vorgänger, der bekannter Weise ein „freier Künstler" war, eine politische Ernennung, er konnte sich Freiheiten erlauben, was er auch tat. Das erschwerte anfangs das Verständnis: ist das nun Selbständigkeit, oder die von Washington vorgegebene Linie. Im Falle von John Tefft wird es keinerlei derartige Zweifel geben. All seine Handlungen werden die Linie Washingtons darstellen und für uns wird es leichter sein zu verstehen, was die USA wollen.

Was das „Licht am Ende des Tunnels" betrifft, so haben wir unsererseits nie einen Tunnel errichtet und kein Mauerwerk aus Ziegeln hochgezogen, auf unserer Seite ist er offen. Was auf amerikanischer Seite deren Panzerzug tut, ob der auf dem Abstellgleis steht oder ob er die Zivilbevölkerung symbolisiert, das weiß ich nicht. Die reale Sicht Washingtons auf unsere Beziehungen ist schwer zu verstehen. Die Präsidenten Russlands und der USA haben Kontakt zueinander und sie unterhalten sich regelmäßig. Es gab erst vor kurzem ein Telefongespräch. Sie haben ein normales persönliches Verhältnis. Ich kann dasselbe über meine Beziehung zum amerikanischen Außenminister, John Kerry, sagen, mit dem ich buchstäblich von einigen Tagen gesprochen habe. Wir haben vereinbart, darüber nachzudenken, ob wir uns nicht in absehbarer Zeit irgendwo treffen könnten. Die Signale, die in Richtung derartiger Kontakte gehen, sind äußerst positiv. Unsere Partner versteifen sich natürlich auf die Ukraine, sie sagen, dass sie unsere Sichtweise nicht teilen können, aber sie seien selbst ausschließlich an einem schnellstmöglichen Frieden interessiert, irgendeine geheime Tagesordnung für die Ukraine gebe es nicht und könnte es gar nicht geben. Sie schlagen ständig vor, irgendwelche Kontakte aufzunehmen, die Erörterungen auf unserer Linie fortzusetzen, mit den Europäern und mit den Ukrainern. Wir sind bereit dazu.

Ich habe bereits auf die Genfer Erklärung verwiesen, die am 17. April d.J. von Russland, der USA, der EU und der Ukraine angenommen wurde. Es hat auch eine Veranstaltung in Berlin gegeben, bei der Russland, Frankreich, Deutschland und die Ukraine am 2. Juli d.J. die Berliner Deklaration verfasst haben. Wir sind bereit, auf verschiedenen Ebenen zu arbeiten (unter Beteiligung der OSZE, wie beim Minsker Treffen), die dazu beitragen können, den Dialog zwischen den Machthabern in Kiew und den Regionen, insbesondere dem Südosten, voranzutreiben. Es werden uns russisch-amerikanische oder russisch-europäische Konsultationen vorgeschlagen, zu denen zum Beispiel auch die Machthaber in Kiew eingeladen werden, um zu sehen, was man machen kann. Ich weise nochmals darauf hin, dass wir mit jedem beliebigen Format einverstanden sind, aber wir werden wohl kaum etwas erreichen, solange diejenigen, die die Interessen der Gebiete Donezk und Lugansk sowie des Südostens vertreten, nicht einen Platz am Verhandlungstisch erhalten und solange man sich ihnen gegenüber nicht so verhält, wie gegenüber Personen, die riesige Territorien der Ukraine und der darin lebenden Menschen repräsentieren, solange sich die Sichtweise auf sie nicht ändert, solange sie bei jeder beliebigen Gelegenheit Terroristen und Separatisten genannt werden, wobei man einfach nicht versteht, dass das die gesamt Situation entstellt, und solange versucht wird, der übrigen Bevölkerung des Landes einzuhämmern, dass sie eben Separatisten und Kirchenspalter sind.

Frage: Vor kurzem wurde bekannt gegeben, dass in Sotschi ein Treffen zwischen den Präsidenten von Armenien und Aserbaidschan stattfinden wird. Dabei hat sich die Lage in Bergkarabach verschärft, dort, wo der aserbaidschanische und der armenische Teil zusammentreffen. Was erwarten Sie von diesem Treffen? Kann irgendein Durchbruch erwartet werden oder ist das nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Lösung des Bergkarabach-Problems?

Sergej Lawrow: Für Ende der Woche sind in Sotschi getrennte Treffen zwischen dem Präsidenten Russlands, Vladimir Putin, und dem armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan und anschließend mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev geplant. Wenn sie alle zur selben Zeit am selben Ort sind, dann werden Verhandlungen über Bergkarabach wahrscheinlich unvermeidlich sein. Wie das organisiert wird, hängt von den Staatsoberhäuptern selbst ab.

Wir sind zweifelsohne darüber besorgt, was an der so genannten „Berührungslinie" vor sich geht. Die Seiten beschuldigen einander, provokante Handlungen zu setzen. So etwas hat es auch früher schon gegeben, und wir verfolgen leider bereits einige Jahre das periodische Aufflammen dieses Konflikts. Dieses Mal wird jedoch alles besonders ernst dargestellt und aufgenommen. Es sind zahlreiche Personen umgekommen. Wir haben die Seiten zusammen mit anderen Ländern, so auch mit den Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe zur Beilegung des Bergkarabach-Konflikts (neben Russland sind das die USA und Frankreich) eindringlich aufgerufen, maximale Zurückhaltung an den Tag zu legen und keinerlei Handlungen zu setzen, die zu einem neuerlichen Ausbruch der Gewalt betragen könnten. Wir werden mit unseren Partnern in Aserbaidschan und Armenien darüber sprechen, wie man unsererseits und seitens der Minsker OSZE-Gruppe (in ersten Linie seitens der Co-Vorsitzenden) zu einer Stärkung des Vertrauens und einer Minderung des Konfrontationsrisikos beitragen kann.

Vor einiger Zeit wurde anlässlich eines Treffens der Präsidenten von Russland, Aserbaidschan und Armenien eine ziemlich bescheidene Erklärung verfasst, in der vereinbart wurde, dass es erforderlich sei, die vertrauensbildenden Maßnahmen zu intensivieren, wenn es zu irgendwelchen Schießereien kommt. Damals hätten Leichen von Gefallenen sowie Gefangene ausgetauscht und zusätzliche Schritte vereinbart werden sollen, die die Lage an der „Berührungslinie" beruhigt hätten.

Der Konflikt wird von beiden Seiten ziemlich emotional aufgenommen. Wir unternehmen als eines der Co-Vorsitzländer zusammen mit unseren amerikanischen und französischen Partnern nicht unbedeutende Anstrengungen, um zu helfen, einige Fragen abzustimmen, die der Unterzeichnung eines Dokumentes hinderlich sind, in dem die politischen Prinzipien der Streitbeilegung dargelegt sind, damit die Seiten ein für sie annehmbares Paket zusammenstellen können. Die Unterzeichnung einer derartigen erweiterten politischen Erklärung, in der jene Prinzipien enthalten sind, von denen man sich bei der Lösung des Konflikts leiten lassen wird, würde sicherlich zur Normalisierung der Atmosphäre beitragen. Das ist nicht einfach. Diesbezüglich wurden bereits viele Versuche unternommen, und jedes Mal schien es, als ob eine wichtige Marke zur Erzielung einer Einigung in die Nähe rücke, aber immer wieder hat irgendetwas gestört. Deshalb werde ich keine Prognosen abgeben. Ich glaube, dass man den Armeniern und den Aserbaidschanern auch weiterhin beharrlich und stur helfen muss, solche Formulierungen zu finden, mit denen beide Seiten leben können.


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