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Rede und Beantwortung von Fragen des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, in einer Diskussion im Rahmen des Jugendbildungsforums, Seliger, 27. August 2014

1988-27-08-2014

Sehr geehrte Forumsteilnehmer!

Zunächst möchte ich mich bei den Organisatoren für die Einladung bedanken. Für mich ist das ein wirklich wichtiges Treffen, weil die Diplomatie unbedingt mit den Gesinnungen derer konfrontiert werden muss, die sich den Zweig der Gesellschaftskunde als Beruf gewählt haben und die um die Geschicke des Landes besorgt sind, sowie um dessen weitere Entwicklungswege durch die Herstellung eines gesamtnationalen Konsenses unter Ausnutzung der geistigen, intellektuellen und materiellen Ressourcen der Gesellschaft. Heute, wo die Globalisierung in alle Bereiche des menschlichen Lebens vorgedrungen ist, werden die Grenzen zwischen Außen- und Innenpolitik relativiert – diese überschneiden sich und beeinflussen sich gegenseitig.

Zum Beispiel die „Farbrevolutionen". Sie scheinen von innen auszugehen, werden jedoch auf aktivste Weise von außen angeheizt. Vielleicht gäbe es, wenn nicht diese Aufheizung wäre, meist auch keine „Farbrevolutionen". Sobald diese jedoch stattgefunden haben und innerhalb eines Staates gewisse Veränderungen erfolgt sind (großteils ist das ein Regimewechsel), üben diese Ereignisse eine besonders ernsthafte destabilisierende Wirkung auf die internationale Politik aus. So war es in Georgien und so geschieht es jetzt in der Ukraine. Da das starre bipolare „Korsett", das in den Jahren des Kalten Krieges existiert hat, verschwunden ist, sind die internationalen Beziehungen heute äußerst unvorhersehbar geworden und mit einer sehr großen Anzahl an Risiken verbunden. Das widerlegt die Vorhersagen von Ende der 1980er – Anfang der 1990er Jahre, dass „das Ende der Geschichte" stattgefunden habe, und dass sich überall die westlichen Standards und die entsprechende Gleichförmigkeit durchsetzen würden. Das hat sich als Illusion, als Phantasiegebilde und, wenn Sie so wollen, als Fehler erwiesen.

Das Wesen der heutigen Etappe der internationalen Beziehungen besteht im Übergang zu einem prinzipiell neuen Modell der Weltordnung – einem polyzentrischen Modell, das auf der Berücksichtigung des Faktors der Entstehung neuer Wirtschafts- und Finanzmachtzentren beruht. Und mit dem wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss geht auch der politische Einfluss einher. Der Übergang zu einem polyzentrischen System spiegelt den objektiven Trend dahingehend wider, dass sich die Weltordnung auf die kulturelle und zivilisatorische Vielfalt der modernen Welt stützt. Das ist die objektive Realität, vor der man die Augen nicht verschließen kann.

Die Probleme, die es heute zu lösen gilt, werden nicht weniger. Man sollte meinen, der internationale Terrorismus, Drogenhandel, illegale Migration, die Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Ernährungsprobleme, Epidemien und regionale Konflikte müssten die Weltgemeinschaft dazu bringen, solidarisch zu handeln, da die Gefahren für alle die gleichen sind. Indes steht in der internationalen Arena unseren kollektiven Schritten zur Eindämmung dieser Herausforderungen und Gefahren das Streben der USA und des Westens im Wege, ihre dominierende Stellung in der Welt, an die sie sich in mehreren Jahrhunderten gewöhnt haben, zu bewahren und die Bildung einer multipolaren polyzentrischen Welt, die, ich wiederhole, die objektiven Trends der Weltentwicklung widerspiegelt, künstlich aufzuhalten.

Man hat uns beschuldigt, die jüngsten Handlungen der Russischen Föderation hätten sozusagen die Grundlagen der Nachkriegs-Weltordnung untergraben. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein – wenn jemand ein schlechtes Beispiel für eine sehr schlechte Einstellung zu den Grundsätzen und Normen, die in der Charta der Vereinten Nationen, der Helsinki-Schlussakte und anderen OSZE-Dokumenten festgelegt sind, gegeben hat, so waren das unsere westlichen Partner. Ich erinnere daran, dass Ende der 1990er Jahre Undenkbares geschehen ist – einige OSZE-Mitgliedsländer haben einen Mitgliedsstaat der OSZE – Jugoslawien – bombardiert. Zuvor ist die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) zerfallen, was ebenfalls unter Verletzung vieler Normen und Grundsätze der OSZE geschah. Ich führe ein Beispiel an. Die erste „Flucht" aus der SFRJ war die Abtrennung Kroatiens. Damals zerbrach sich die Europäische Union lange den Kopf und arbeitete eine gemeinsame Position aus, doch Deutschland beschloss, nicht auf seine EU-Kollegen zu warten und anerkannte Kroatien im Alleingang, was dann bereits eine „Kettenreaktion" auslöste. Wie ich schon gesagt habe, folgten dann die Bombardierungen Jugoslawiens unter Verletzung aller denkbaren Normen und Verpflichtungen, die man im Rahmen der OSZE übernommen hatte. Des Weiteren gab es die Aggression im Irak und vor nicht allzu langer Zeit die Bombardierungen Libyens, unter Verletzung der Resolution des UN-Sicherheitsrats und vieles mehr.

Russland ist mehr als sonst jemand an einer Festigung des Völkerrechts interessiert und daran, dass es keine Doppelmoral gibt und dass die Vereinbarungen erfüllt werden, die im Rahmen von UNO und OSZE in den Beziehungen zwischen Russland und NATO, sowie zwischen Russland und EU verankert wurden, ebenso jene, die von internationalen Subjekten geschlossen werden. Das ist unsere grundlegende Haltung.

Alles, was ich gesagt habe, betrifft unmittelbar die jetzige Position Russlands in Bezug auf die tiefe Krise in der Ukraine. Wir haben nicht wenig Mühe darauf verwendet, um im Frühstadium gewisse Schritte der Weltgemeinschaft zu koordinieren, die den Ukrainern erlaubt hätten, die Situation zu beruhigen, sich vom Rande des Bürgerkriegs wegzubewegen und sich untereinander zu verständigen. Bereits am 21. Februar d.J. wurde ein Abkommen zwischen dem ehemaligen Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, und den damaligen Oppositionsführern Arsenij Jazenjuk, Vitali Klitschko und Oleh Tjahnybok unterzeichnet, unter das die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens ihre Unterschrift gesetzt haben. Der erste Punkt dieses Abkommens war die Verpflichtung, eine nationale Einheitsregierung zu bilden, danach hätte sich dieses Organ mit der Vorbereitung einer Verfassungsreform befasst, mit der in der Ukraine allen gedient gewesen wäre. Auf der Grundlage der neuen Verfassung hätten allgemeine Wahlen stattfinden müssen. Ich betone, nicht Viktor Janukowitsch, sondern die Oppositionsführer bestanden darauf, dass eine nationale Einheitsregierung den Bemühungen um einen Ausweg aus der Krise zugrunde gelegt werde. Viktor Janukowitsch „verschwand", er wurde unter dem Vorwand, dass er außer Landes geflohen sei, abgesetzt, obwohl er nirgendwohin geflohen war, sondern sich auf ukrainischem Staatsgebiet befand. Das Abkommen vom 21. Februar wurde buchstäblich am zweiten Tag „zertreten". Anstatt der Verpflichtung zur Bildung einer nationalen Einheitsregierung nachzukommen, verkündete die damalige Opposition die Bildung einer „Regierung der Sieger". Das heißt, denjenigen, die mit dem Staatsstreich nicht einverstanden waren, wurde signalisiert, dass sie als Besiegte betrachtet werden. Danach folgte eine Reihe konfrontativer Schritte, einschließlich des misslungenen, jedoch lautstark verkündeten Versuchs, das Gesetz über die Sprachen aufzuheben, worin im Südosten der Ukraine zu Recht ein Angriff auf die Stellung der russischen Sprache gesehen wurde. Und dann begann das, mit dessen Folgen wir jetzt konfrontiert sind.

Russland hat seine Bemühungen nicht aufgegeben und sich aktiv an der internationalen Arbeit zur Suche nach einem Ausweg aus der Sackgasse eingebracht. Am 17. April fand in Genf ein Treffen der Außenminister Russlands, der USA und der Ukraine sowie der EU-Außenbeauftragten statt. Es wurde eine Erklärung verabschiedet, in der die Notwendigkeit der sofortigen Einstellung der Gewaltanwendung und des Beginns einer transparenten Verfassungsreform, die alle Regionen und alle politischen Kräfte des Landes umfassen und berichtspflichtig sein müsse, verankert wurden. Nichts dergleichen ist geschehen – es wurde kein Verfassungsprozess eingeleitet. Hinter verschlossenen Türen wurde im Geheimen eine Art Entwurf zur Änderung der ukrainischen Verfassung ausgearbeitet. Nicht einmal alle Abgeordneten der Werchowna Rada haben ihn gesehen. Bis jetzt wurde er nicht veröffentlicht und war nicht Gegenstand eines gesamtnationalen Dialogs, wozu sich die ukrainische Führung in der Genfer Erklärung verpflichtet hat. Seit dieser Zeit machen wir die ukrainische Seite und jene, die diese Dokumente unterzeichnet haben, auf die Notwendigkeit aufmerksam, doch ehrlich einzuhalten, was sie vereinbart haben und nicht zu versuchen, das für sich zu „kassieren", was in diesem Stadium „kassiert" werden konnte und dagegen das, was zu tun versprochen wurde, auf später oder gar auf immer zu verschieben.

Bedingt durch die Ausweitung der schrecklichen militärischen Konfrontation in der Südostukraine trat die Aufgabe einer sofortigen Feuereinstellung in den Vordergrund. Der nächste Versuch wurde unternommen, nachdem der russische Präsident Vladimir Putin gemeinsam mit den Präsidenten der Ukraine und Frankreichs und der deutschen Kanzlerin bei den Feiern in der Normandie anlässlich des 70. Jahrestages der Eröffnung der zweiten Front vereinbart hatte, in diesem Format zu arbeiten. Die Außenminister Russlands, der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands kamen am 2. Juli in Deutschland zusammen, wo eine Erklärung verabschiedet wurde, in der stand, dass die allererste Aufgabe eine sofortige und bedingungslose Feuereinstellung sei. Fast 2 Monate sind schon vergangen, doch nichts hat sich geändert – es hat keine Feuereinstellung stattgefunden.

Statt der Erfüllung ihrer Verpflichtung, das Feuer ohne jegliche Bedingungen einzustellen, stellt die ukrainische Seite vorherige Forderungen, die niemand abgemacht hat. Diese betreffen die Befreiung aller Geiseln, bevor ein Waffenstillstand verkündet wird und die Einführung einer dichteren Kontrolle an der Grenze. Wir haben nichts gegen Gespräche zu diesen Themen, doch kann der Waffenstillstand an sich nicht „Geisel" für solche Gespräche sein. Das Wichtigste ist jetzt – haltzumachen, damit alle aufhören zu schießen. Das Wichtigste ist, dass die ukrainische Seite, so wie sie sich in der Genfer Erklärung vom 17. April, die ich erwähnt habe, verpflichtet hat, alle Regionen des Landes, mitsamt natürlich dem Südosten, zum sofortigen Beginn eines gesamtnationalen Verfassungsdialogs einlädt, in dessen Rahmen die Seiten Änderungen am Grundgesetz des Landes ausarbeiten könnten, die eine problemlose, sichere und gleichberechtigte Koexistenz aller Nationalitäten, Minderheiten und Regionen im Rahmen des ukrainischen Staates unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Interessen gewährleisten würden. Ein nationaler Konsens ist nötig, der sich aber nur auf Basis eines Gleichgewichts der Interessen aller Regionen und politischen Kräfte des Landes erreichen lässt.

Ich werde einige Worte dazu sagen, wie gestern das Treffen in Minsk verlaufen ist. Es begann im multilateralen Format unter Teilnahme der Präsidenten der Länder der Zollunion – Russlands Vladimir Putin, Kasachstans Nursultan Nasarbajew und Weißrusslands Alexander Lukaschenko, sowie des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, des Vorsitzenden des Kollegiums der Eurasischen Wirtschaftskommission Viktor Christenko und dreier EU-Kommissare – der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, des EU-Kommissars für Handel Karel de Gucht und des EU-Energiekommissars Günther Oettinger. Die Diskussion wurde zu Fragen geführt, über die Vladimir Putin auf seiner Pressekonferenz berichtet hat. Vor allem geht es um die wirtschaftliche Komponente der jetzigen Situation im Zusammenhang mit den Absichten der Ukraine, sich dem Assoziierungsabkommen und der Freihandelszone mit der EU anzuschließen und damit, dass dieser Schritt eine ganze Reihe von Risiken für die Interessen jener Länder, die zusammen mit der Ukraine einer anderen Freihandelszone im Rahmen der GUS angehören, mit sich bringen würde. Die Verpflichtungen, die die Ukraine bei der GUS-Freihandelszone eingegangen ist, treten unserer tiefen Überzeugung nach, die durch eine Analyse, die gestern vorgestellt wurde, untermauert wird, in Widerspruch zu den Verpflichtungen, die die Ukraine durch den Beitritt zur Freihandelszone mit der Europäischen Union und der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU auf sich nehmen würde.

Die Diskussion war offen und sachlich. Es wurde vereinbart, dass die vor einiger Zeit diesbezüglich begonnenen Beratungen intensiviert werden sollen. Die Wirtschaftsminister und anderen Vertreter des Wirtschaftsblocks der jeweiligen Regierungen wurden beauftragt, an der Koordinierung der Behandlung jener Probleme, die auf Expertenebene gelöst werden können, zu arbeiten und zu versuchen, Kompromisse zu erreichen. Jene Probleme aber, zu denen sich die Experten nicht einigen können, sollen auf Ebene der Staatsoberhäupter in überschaubarer Frist, auf jeden Fall jedoch bis 12. September d.J., gelöst werden. Schade, meiner Meinung nach hätte man keine künstliche Fristen setzen sollen.

Beim Treffen der Führer Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs in der Normandie ging es um die Notwendigkeit, die Aufgabe einer Einigung auf gewisse Formen der Harmonisierung der Prozesse im Rahmen der Beziehungen der Ukraine zu den Ländern der GUS und der Zollunion einerseits und zu der Europäischen Union andererseits, an die erste Stelle zu setzen. Künstliche Fristen helfen hier nicht. Dennoch haben wir als Ausdruck unseres guten Willens zugestimmt, uns zu bemühen, alles bis 12. September fertig zu stellen, da, wie wir es verstanden haben, sich die ukrainische Führung bereits öffentlich dafür ausgesprochen hat, dass sie im September das Abkommen mit der EU ratifizieren werde. Der russische Präsident Vladimir Putin hat mehrfach und ehrlich darauf hingewiesen, dass, falls die Unterzeichnung ohne Absprache mit Russland und den Mitgliedern der Zollunion stattfinde, wir in voller Übereinstimmung mit den im GUS-Abkommen über die Freihandelszone verankerten Rechten aufhören werden, unseren Handelspartnern in der Ukraine bestimmte Begünstigungen zu gewähren und wir mit ihnen im Bereich Handel und Wirtschaft auf dieselben Formen der Zusammenarbeit übergehen würden, nach denen wir mit der EU kooperieren, d.h., dem Meistbegünstigungsprinzip, das für alle WTO-Mitglieder Standard ist – keine Diskriminierung oder Sanktionen, aber auch keine Privilegien und Begünstigungen.

Eigenartig, dass eine solche Entschlossenheit, das Abkommen mit der EU zu ratifizieren, unbedingt im September gezeigt werden muss und zu einem Zeitpunkt erklärt wird, wo die Auflösung der Werchowna Rada und die Durchführung vorgezogener Wahlen am 26. Oktober verkündet wurden. Die Idee dahinter ist, dass das Abkommen mit den Stimmen der Abgeordneten des alten Parlaments ratifiziert werden soll. Dabei wurde die Auflösung der Werchowna Rada damit begründet, dass sie nicht den Willen des Volkes widerspiegle. Wäre es da nicht besser, die Wahlen abzuwarten, wenn das Volk seine Vertreter gewählt haben wird, in vollem Bewusstsein dessen, was geschehen ist und was es in Zukunft sehen will? Die Europäische Union hat öffentlich die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Ukraine trotz der angekündigten vorgezogenen Wahlen die Ratifizierung nicht hinauszögern und das Abkommen im September unterzeichnen werde.

Bei den Verhandlungen gestern haben alle die Situation im Südosten als humanitäre Katastrophe bezeichnet und die Wichtigkeit der humanitären Hilfeleistung anerkannt. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew und der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko haben die initiative Rolle Russlands besonders hervorgehoben. Bekanntlich haben wir bereits einen ersten Konvoi mit Hilfsgütern in die Ukraine geschickt und der ukrainischen Seite offiziell unsere Absicht mitgeteilt, in den nächsten Tagen einen zweiten solchen Konvoi zu schicken. Gestern haben die Präsidenten Russlands und der Ukraine diese Frage bei einem Treffen unter vier Augen erörtert. Parallel dazu habe ich mit dem ukrainischen Außenminister Pawel Klimkin gesprochen. Wir haben Grund zur Annahme, dass wir konstruktive technische und logistische Lösungen finden werden, damit der zweite Hilfskonvoi in allernächster Zeit in Richtung Südosten aufbrechen kann. Ich bin sicher, es wird nicht der letzte sein, da dort in sehr großem Ausmaß Hilfe benötigt wird. Kasachstan und Belarus haben ihre Bereitschaft erklärt, sich unserer Aktion anzuschließen und parallel Hilfsgüter in den Südosten zu schicken. Auch EU-Vertreter haben sich dahingehend geäußert. Wir werden die gesamte Weltgemeinschaft zu einer maximal verantwortungsbewussten Einstellung gegenüber den Nöten, die derzeit etwa 4 Mio. Bürger im Südosten erleiden, auffordern. Über 1 Mio. Menschen ist bereits von dort geflüchtet, der überwiegende Teil davon in die Russische Föderation. Falls Interesse besteht, kann ich genauer darüber berichten.

Im Kontext der Wirtschaftsbeziehungen wurde die Aufgabe zur Wiederaufnahme der Gasverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine erwähnt. Daran ist aus verständlichen Gründen die EU-Kommission interessiert. Niemanden freuen die periodisch aus Kiew ertönenden Warnungen oder Drohungen, dass sie den Transit sperren würden. Der EU-Kommissar für Energie, Günther Oettinger, gab gestern seiner Zuversicht, wenn nicht Hoffnung Ausdruck, dass die ukrainischen Behörden den Transit von Energieträgern aus der Russischen Föderation in die Länder der Europäischen Union nicht unterbrechen werden.

Außer den wirtschaftlichen und humanitären Fragen ist im heutigen Stadium ein dritter und wichtiger Block die Beendigung des Blutvergießens und die Suche nach Wegen zur Anbahnung eines echten gesamtnationalen Dialogs. Vereinbart wurde eine Wiederaufnahme der Arbeit der Kontaktgruppe, die mehrere Male unter Teilnahme von Vertretern Russlands, der ukrainischen Führung, der OSZE und einer Delegation aus Lugansk und Donezk einberufen wurde. Man ist der Auffassung, dass (als erster Schritt) dieser Mechanismus aktiver eingesetzt werden müsse. Ein entsprechender Appell ist gestern in Minsk ergangen. Unsere weißrussischen Freunde haben ihre Hauptstadt als ständige Plattform für diese Kontakte vorgeschlagen. Im Hinblick darauf, dass es in den Gebieten Lugansk und Donezk weiterhin zu blutigen Zusammenstößen kommt und es für die Landwehr nicht angenehm wäre, nach Kiew zu fahren (viele würden sie dort verhaften wollen), ist wahrscheinlich Minsk ein optimaler Ort für die Durchführung solcher Treffen. Wir haben das aktiv unterstützt.

Wir sind nicht an einer Konfrontation oder Eskalation der Sanktionsspirale interessiert. Lange vor den Ereignissen in der Ukraine begannen die Angriffe auf Russland einen absolut unangemessenen Charakter anzunehmen. Alles fing viel früher als im heurigen Frühling an. Erinnern wir uns nur daran, wie man uns mit diversen Worten qualifizierte, bezugnehmend darauf, dass wir angeblich eine „demokratische Revolution" in Syrien verhindern und den „Diktator" Baschar Assad unterstützen. Jetzt ist es interessant, denjenigen zuzuhören, die damals gesagt haben, dass sie mit Baschar Assad nichts mehr zu tun haben wollen. Heute stellt sich heraus, dass man wohl oder übel mit ihm zusammenarbeiten wird müssen, wenn wir die Terroristen des „Islamischen Staats" besiegen wollen.

Auch wegen weniger bedeutender Dinge hat man uns Vorwürfe gemacht, zum Beispiel im „Fall Sergei Magnitski". Ich habe ihn weniger bedeutend genannt, doch geht es um das Leben eines Menschen, und eine menschliche Tragödie wurde für politische Spekulationen und Provokationen verwendet. Denken Sie daran, wie wegen Edward Snowden der Besuch des US-Präsidenten Barack Obama in Moskau vor dem Gipfel der „Gruppe der Zwanzig" in Sankt Petersburg abgesagt wurde. Erinnern Sie sich an die Anschwärzung Russlands in allen möglichen Formen, nur weil wir die Olympischen Spiele in Sotschi durchgeführt haben, usw.

Wäre die Ukraine nicht, würde diese Linie trotzdem fortgesetzt werden. Zu unserem großen Bedauern hat diese Einstellung in den führenden Kreisen einer ganzen Reihe von Ländern, vor allem in den USA, tiefe Wurzeln geschlagen. Nach einer lang anhaltenden historischen Dominanz in der Weltwirtschaft und Weltpolitik versuchen diese Staaten, ihre Stellungen künstlich zu erhalten, wobei ihnen klar ist, dass sie in der Wirtschaft bei weitem nicht mehr die sind, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg waren, als Amerika über die Hälfte des weltweiten BIP produzierte, sie sich jedoch Mühe geben, die ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeuge (militärische, politische, soziale Netzwerke, Verfahren von Regimewechseln u.a.) einzusetzen, um den objektiven Prozess der Bildung eines gleichberechtigten demokratischen internationalen Systems künstlich hinauszuzögern. Die Erkenntnis, dass man nicht gegen einen objektiven historischen Prozess anlaufen kann, hat noch nicht alle erfasst. Wir rechnen stark damit, dass das kommen wird, sonst werden illegale einseitige Sanktionen gegen uns verhängt, und wir werden angemessen darauf reagieren, was wir auch versuchen werden zu tun. Doch das, ich wiederhole, ist nicht unsere Wahl, wir wollen keine Konfrontation. Die die westlichen Medien überschwemmende Rhetorik bedarf einer Umbesinnung, da sie nicht von der öffentlichen Meinung angeheizt und stimuliert wird, sondern von der politischen Führung der westlichen Länder, die ihre Öffentlichkeit auf entsprechende Weise trimmen und sich dann darauf berufen, dass die Öffentlichkeit sie zwinge, in antirussischer Art und Weise zu handeln. Auch russische Politologen stellen die Frage, wer Russlands Verbündeter ist, wobei sie als Beispiel die NATO anführen, die immer und überall als einheitlicher Block stimmt. Wir haben viele Verbündete – die Mitglieder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), die Partner in den eurasischen Integrationsprojekten, die Teilnehmer der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), die BRICS-Staaten und die überwiegende Mehrheit der Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.

Wenn von Bündnissen die Rede ist, nicht im alten Sinne des Wortes, nicht im Sinn von starrer Blockdisziplin, als die NATO gegen den Warschauer Pakt auftrat und alle wussten, dass dieser Teil des Verhandlungstisches einmütig die Hand heben und der andere Teil sich dagegen aussprechen werde, so ist eine „Disziplin, wo der Stock regiert" heute schon erniedrigend für Staaten, die Demokratie, Meinungspluralismus usw. predigen. Heute sind flexible, vernetzte Allianzen weit mehr gefragt. Wenn uns gesagt wird, dass unsere Bündnispartner in der OVKS nicht immer im Einklang mit Russland abstimmen – wir stimmen, sagen wir, dagegen, und diese enthalten sich zum Beispiel der Stimme oder nehmen an der Abstimmung überhaupt nicht teil, dann machen wir daraus keine Tragödie, im Gegensatz zur NATO, wo jeder Schritt zur Seite und die Bezeigung von Andersdenken strafbar sind. Wir wissen das, ebenso wie die Tatsache, wie schnell Emissäre in die Hauptstädte jener Länder entsandt werden, die es gewagt haben, eine gewisse Selbständigkeit an den Tag zu legen, und wie daraus „organisatorische Maßnahmen" (wie wir früher gesagt haben) gemacht werden. Wir achten unsere Partner und ihr Recht auf Nuancen, wenn man so will. Wir wissen, dass sie in der Hauptsache immer mit uns sind und nichts Schlimmes daran ist, wenn unsere Positionen in manchen Fragen nicht hundertprozentig konform gehen. Im Gegenteil, ich denke, dass das unsere Beziehungen bereichert und nicht ärmer macht. Russland wird vor allem deshalb angegriffen, weil wir, mehr als irgendjemand anderer, uns trauen, offen von unseren Interessen zu sprechen, unseren Standpunkt darzulegen, ohne ihn als endgültige Wahrheit auszugeben, unter Wahrung voller Offenheit, um den anderen zuzuhören und sie zu hören und dabei auf Gegenseitigkeit zählen und darauf, dass unsere Selbständigkeit nicht Gegenstand irgendwelcher Bestrafungen sein wird, was für eine moderne zivilisierte Welt etwas am Rande von Gut und Böse ist. Wie der russische Präsident Vladimir Putin mehrmals betont hat, betrachten wir unsere außenpolitische Selbständigkeit und Souveränität als wichtigste fundamentale Werte. So wird es auch künftig sein.

Wenn man unsere Einstellung hernimmt - nicht zu Edward Snowden oder den Menschen, die in der Ukraine den Staatsstreich verübt haben, sondern dazu, wie wir die Weltordnung sehen, so muss sie gerecht und demokratisch sein und auf der Achtung des Völkerrechts beruhen sowie aller in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Grundsätze in deren Gesamtheit, ohne Doppelmoral und irgendjemandes Recht auf Exklusivität. Und von dieser Perspektive aus gehört der überwiegende Teil der Staaten der Welt zu unseren Verbündeten.

Frage: Ihr Besuch beim „Seliger" Forum ist eine große Ehre für uns.

Die Russische Föderation hat Gegenmaßnahmen gegen die Sanktionen des Westens ergriffen. Wie wirkt sich das auf die weitere internationale Zusammenarbeit Russlands aus, einschließlich der Institutionen des UN-Systems in Rom, auf die Zusammenarbeit im Bereich der Ernährungssicherheit und die Lösung der globalen Herausforderungen auf diesem Gebiet? Auf welche Weise müssen wir das russische Komplexprogramm im Bereich der Landwirtschaft, der Fisch- und anderen Lebensmittelbranchen, die an internationale Zusammenarbeit gebunden sind, revidieren? Wie können wir, die junge Generation, Agrarrechtler und Völkerrechtler inbegriffen, bei diesem Prozess helfen?

Sergei Lawrow: Die Ernährungssicherheit ist untrennbarer Bestandteil der allgemeinen Sicherheit eines jeden ernstzunehmenden Staates. Wenn Sie sich mit diesem Fach beschäftigen, dann wissen Sie, dass sich die Aufgabe, sich im höchstmöglichen Grad mit Nahrungsmitteln einzudecken, lange vor Eintritt der Ereignisse, die Sie erwähnt haben, gestellt hat. Ein Land wie Russland muss autark sein, zumal wir alle Möglichkeiten haben, um die Bevölkerung mit hochwertigen Lebensmitteln zu annehmbaren Preisen zu versorgen. Das ist ein Postulat, das von nichts abhängt.

Was die eingeführten Sanktionen betrifft, so war das eine notgedrungene Maßnahme und das wurde auch gesagt. Dieser Bereich wurde gewählt als Antwort auf die inakzeptablen, einseitigen, gegen die WTO-Regeln verstoßenden Handlungen der Europäischen Union, der USA und einiger anderer Länder, ausgehend von einer ganzen Reihe von Überlegungen, worüber der russische Präsident Vladimir Putin mehrmals gesprochen hat, und unter Berücksichtigung unseres Interesses, den russischen Erzeuger zu unterstützen. Unter den Sanktionen, die unsere westlichen Partner eingeführt haben, waren auch Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit der Rosselchosbank, den Zugang zu Ressourcen im Ausland zu erhalten. Das bedeutet, dass die Bank, die dazu bestimmt ist, die landwirtschaftlichen Produzenten zu subventionieren und zu finanzieren, einen bestimmten Teil ihres Potenzials eingebüßt hat, während jene Agrarproduzenten, die ihre Produkte aus Europa in die Russische Föderation exportieren und deren Banken keinerlei Einschränkungen ausgesetzt sind, unlautere Wettbewerbsvorteile erhalten. Das ist der erste Faktor.

Ein anderer Faktor sind Erwägungen der nationalen Sicherheit, ein Kriterium, das in den WTO-Regeln festgelegt ist und durch die Mitglieder dieser Organisation zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen eingesetzt werden kann. Die Führung des Landes ist verpflichtet darüber nachzudenken, ob es gerechtfertigt ist, die Abhängigkeit eines wesentlichen Anteils der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus Ländern, die gegen uns einseitige illegitime Sanktionen verhängt haben und uns nicht Partner, sondern Gegner, wenn nicht noch schärfer, Feinde, nennen, aufrechtzuerhalten.

Was die Motive für diesen Schritt betrifft, so denke ich, sind die beiden erwähnten Faktoren überaus wichtig. Das berührt in keinerlei Weise unsere Einstellung bei der Zusammenarbeit mit dem Welternährungsprogramm, mit der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) oder mit dem Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung, dem wir vor nicht allzu langer Zeit beigetreten sind. Wir sind dafür, dass diese Zusammenarbeit fortgesetzt wird. Ich wiederhole, diese Maßnahmen stehen in keinerlei Zusammenhang mit unserer Teilnahme und bedeuten keine Einschränkung für unsere aktive Arbeit im Rahmen der Projekte, die über diese Organisationen laufen.

Bezüglich dessen, wie unsere Juristen, die im Bereich der agroindustriellen Produktion arbeiten, einen Beitrag zur Ernährungssicherung leisten könnten, verlasse ich mich auf Sie, Sie haben Interesse daran, Sie haben die entsprechende Ausbildung erhalten und Sie arbeiten, wie ich sehe, eingehend daran. Ich wünsche viel Erfolg.

Frage: Ich möchte sagen, dass ich stolz darauf bin, dass das russische Volk drei so wunderbare Eigenschaften besitzt wie Geduld, die Fähigkeit zu helfen und die Fähigkeit zu vergeben. Unter anderem haben wir vor kurzem Kuba einen Großteil seiner Schulden erlassen. Was bekommt Russland als Gegenleistung dafür, dass es einigen Staaten einen Teil ihrer Schulden erlässt? Ist es vergleichbar mit dem, was wir im Gegenzug erhalten?

Sergei Lawrow: Nicht alles lässt sich in Scheinen messen. Aber Sie haben von drei Eigenschaften unseres Volkes gesprochen: der Geduld, der Fähigkeit zu helfen und der Fähigkeit zu vergeben. Im Falle der Streichung eines Großteils der kubanischen Schulden haben wir uns lange geduldet, wollten letztendlich helfen und haben die Schulden erlassen. Ich versichere Ihnen jedoch, dass jener Teil der Schulden, der nicht gestrichen wurde (wenn ich mich nicht irre, ca. 3,5 Mrd. USD), gemäß einer Vereinbarung der Seiten in Investitionen in die kubanische Wirtschaft unter Beteiligung russischer Firmen gehen wird.

Uns ist klar, dass die Beziehungen der UdSSR zu Kuba spezifisch waren und dass der Kurs des Rubels gegenüber dem US-Dollar in jenen Jahren überaus bedingt war. Das ist auch ein Teil des Problems. 60 Kopeken für einen Dollar – so war das Kursverhältnis der Währungen. Dass Kuba die Schulden nicht zahlen konnte, ist für alle offensichtlich. Aber dass wir eine Formel gefunden haben, die es ermöglichte, die Budgetsituation dieses Landes zu erleichtern, die Schulden zu streichen und das Schuldenproblem mit der Russischen Föderation zu regeln, das erweitert Kubas Möglichkeiten, auf den Auslandsmärkten Geld zu leihen, da der ungeregelte Zustand mit den Schulden für Kuba ein Hemmfaktor war. Der verbleibende Betrag geht nicht in irgendwelche abstrakten Dinge, sondern in reale Investitionen in die kubanische Wirtschaft, von der russische Firmen und natürlich auch die Kubaner selbst profitieren werden. Der Nutzen ist hier beidseitig. Wir hätten uns unendlich lang gedulden können, und keiner hätte von dieser Geduld etwas gehabt. Als der Wunsch zu helfen und zu vergeben, mehr noch, zu verstehen und zu vergeben, die Oberhand gewann, ging dann alles über die Bühne.

Frage: Vor dem Hintergrund der Widersprüchlichkeit der jüngsten geopolitischen Ereignisse wird die Position Russlands in den Medien und bei den internationalen Treffen in der Regel vom russischen Präsidenten, von Ihnen und vom Ständigen Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, Vitali Tschurkin, dargelegt. Warum ist die russische Elite wenig aktiv und wenig eingebunden in den Prozess, ein positives Bild von unserem Land zu erstellen und der Weltöffentlichkeit unsere Position zu erklären?

Sergei Lawrow: Immer, wenn ich die Dokumente anschaue, die das russische Außenministerium mit Vorschlägen für die Führung des Landes herausgibt, und wenn ich den Ausdruck „zur Bildung eines positiven Bildes von Russland in der internationalen Arena beitragen" sehe, tausche ich das Wort „positiv" durch „objektiv" aus. Wir brauchen kein künstliches Positivbild, wir wollen, dass uns alle so kennen, wie wir sind – wir brauchen uns für nichts zu genieren. Sogar in jenen Fällen, wo wir in einer klaren Minderheit sind, sind wir bereit, ehrlich zu erklären, warum wir den einen oder anderen Standpunkt beziehen. Fälle, wo wir in der Minderzahl sind, und das kommt vor (keiner leugnet das), sind meist damit verbunden, dass der Großteil davon künstlich „geschmiedet" wird – durch Reisen rund um den Globus, Händeringen oder Versprechungen verschiedener Vorteile. Alle wissen das. Und dann sagen sie uns im Flüsterton, „entschuldigt, wir waren gezwungen so handeln, man erpresst uns sozusagen". Wir nehmen das als etwas auf, was leider in diesem Leben immer noch existiert. Aber wir machen keinerlei Skandal oder Tragödie daraus.

Von uns wird vieles unternommen. Und das ist nicht nur Aufgabe der Elite, sondern auch der Massenmedien. Was ist unter Elite zu verstehen? Ich glaube, dass auch hier eine Elite versammelt ist, die daran interessiert ist, sich baldigst direkt an der Leitung des Landes, der Lösung der sozioökonomischen Aufgaben und der humanitären und nationalen Probleme zu beteiligen. Aber das alles lässt sich nicht machen, ohne den Außenfaktor, von dem ich bereits gesprochen habe, zu berücksichtigen.

Heute ist auf der Welt alles miteinander verbunden. Ich bringe ein solches Beispiel. Der Fernsehsender „Russia Today" ist ein wirklich gelungenes Projekt, ein sehr effizientes Massenmedium, das einen alternativen Standpunkt bringt. Seiner Popularität nach ist dieser Kanal mit CNN, BBC und vielen anderen führenden TV-Sendern in den USA und Europa vergleichbar. Bei uns wird jetzt auf aktive Weise die humanitäre Diplomatie forciert und die Tätigkeit von Rossotrudnitschestwo neu belebt. Die russischen Wissenschafts- und Kulturzentren im Ausland sollen eine zusätzliche Finanzierung erhalten – diesbezüglich gibt es eine Anweisung des Präsidenten, die durch einen Beschluss des Sicherheitsrats der Russischen Föderation bekräftigt wurde, damit für diejenigen, die sich für Russland, die russische Sprache und unsere Kultur interessieren, möglichst viele Maßnahmen durchgeführt werden können.

Überhaupt sind Kultur, Information und Bildung ihrer Wirkung nach kolossale Komponenten von „Soft Power". Ich wiederhole, wir beschäftigen uns jetzt äußerst aktiv damit und erhalten Unterstützung von der Landesführung. Ein qualitativ neues Niveau erreicht die Arbeit mit unseren Landsleuten. Es gibt Programme für deren Unterstützung und es wurde ein Fonds zur Unterstützung der Landsleute im Ausland angelegt. Wir fördern Nichtregierungsorganisationen, die sich für internationale Angelegenheiten interessieren und auf externen Plattformen über die Geschehnisse in Russland berichten wollen. Zur Unterstützung solcher Organisationen wurde der Gortschakow-Fonds für öffentliche Diplomatie gegründet, und der NGO werden Beihilfen für die Teilnahme an internationalen Veranstaltungen der OSZE, der UNO, des Europarats usw. zur Verfügung gestellt. Das sind nur einige Beispiele.

Erhöht wird die Anzahl der Stipendien, die wir Abiturienten aus dem Ausland gewähren, damit sie in der Russischen Föderation studieren können. Dabei sind wir bemüht, die Stipendien zweckmäßig zu verteilen, indem wir vielversprechende junge Leute auswählen, die nicht einfach irgendwo eine Ausbildung bekommen wollen, sondern den Wunsch haben, gerade in Russland zu studieren und danach die Beziehungen ihres Landes zur Russischen Föderation voranzutreiben. Wesentlich größer wird auch die Zahl der ausländischen jungen Leute, die jedes Jahr zu Kennenlernreisen zu ihren russischen Altersgenossen nach Russland eingeladen werden. Das ist eine sehr zukunftsträchtige Form.

Ich denke, die Elite muss natürlich darüber berichten, was wir tun und muss erklären, warum wir meinen, dass in dem einen Fall so und im nächsten Fall anders vorzugehen ist. Es ist jedoch notwendig, die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Ich glaube, dass die Zivilgesellschaft, vertreten durch solch interessierte Menschen, die russische Elite im wahrsten Sinne dieses Wortes ist.

Frage: Wurde die Situation rund um das ukrainische Atomkraftwerk sowjetischer Ausführung besprochen, und dass es im Eilverfahren, ohne ordnungsgemäße Prüfungen, auf US-Brennstäbe umgestellt wird, die ihren Abmessungen nach nicht für uns geeignet sind? Besteht eine reelle ökologische Bedrohung für die Ukraine?

Sergei Lawrow: Das ist eine sehr interessante Frage. Gestern wurde sie nicht besprochen, doch laufen diesbezüglich Diskussionen auf der Ebene der Energieministerien Russlands und der Ukraine, sowie auf der Ebene von Rosatom und der entsprechenden ukrainischen Behörde. Natürlich behandeln wir diese Frage auch mit der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA). Es ist kein Geheimnis, dass die US-Gesellschaft „Westinghouse" aktiv danach strebt, sich einen Platz auf dem europäischen Markt zu erobern. Sie haben solche Versuche nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Ländern unternommen.

Sie haben absolut recht damit, dass aufgrund der Unterschiede im Brennstoff die Versuche, amerikanische Brennstäbe in Reaktoren sowjetischer und russischer Erzeugung zu verwenden, durchaus nicht ungefährlich sind. Als unter dem Druck der USA „Westinghouse" vor einigen Jahren begann, einen Reaktor in Tschechien zu beladen, der noch von der Sowjetunion gebaut worden war, kam es dort zu ernsthaften Problemen. Es entstand eine richtige Bürgerbewegung für einen Stopp solcher Experimente, da sie zu gefährlich sind.

In der Ukraine wurden noch unter der vorigen Regierung solche experimentellen Schritte, wie sie genannt wurden, unternommen – einige Dutzend Brennstäbe in unsere Reaktoren einzusetzen. Das Ganze verlief ziemlich beängstigend. Soweit ich weiß, sind derartige Versuche jetzt abgestellt. Wir fordern, dass Russland als Erzeugerland der Reaktoren über geplante Schritte unbedingt in Kenntnis zu setzen ist, damit wir zu Rate gezogen werden – wir haben ja die Sicherheit des Reaktors garantiert, als er gestartet wurde, und wir halten uns nach wie vor an diese Verpflichtungen. Ich bin überzeugt, dass solche Experimente schlecht enden könnten, besonders in der Ukraine, wo Tschernobyl noch frisch im Gedächtnis ist.

Frage: In Ihren einleitenden Worten haben Sie gesagt, dass Verhandlungen zwischen den Machthabern der Ukraine und den Vertretern von Donezk und Lugansk geplant sind, um den Konflikt mit Hilfe irgendwelcher Verfassungsreformen und einer neuen Verfassung zu lösen. Die Landwehr hat in ihren Erklärungen jedoch wiederholt behauptet, dass sie die Ukraine nicht als ihr Land betrachte, dass sie sich längst abgespalten habe und dass ihr Land nun Neurussland hieße. Sie würde mit der Ukraine keinerlei Verfassungsprojekte mehr erörtern. Was wird Russland tun, falls sich die Landwehr tatsächlich weigert, die Verfassung der Ukraine zu erörtern? Ist eine derartige Variante der Entwicklung der Ereignisse möglich?

Sergei Lawrow: Die Machthaber in Kiew sagen auch, dass sie keinerlei Volksrepublik Lugansk, Volksrepublik Donezk und Neurussland kennen würden und dass das alles „Terroristen und Separatisten" seien. Die ukrainische Führung wir diese extreme Haltung nicht ewig einnehmen können. Wir gehen davon aus, dass es in den Gebieten Lugansk und Donezk zu Referenden kommen wird, deren Ausgang wir mit Achtung gegenüberstehen werden. Wir haben das bereits gesagt. Wir haben unterstrichen, dass Russland für die praktische Umsetzung der Ergebnisse der Referenden in den Gebieten Lugansk und Donezk eintritt, die über einen Verhandlungsprozess mit Kiew ablaufen würde. Wir sind davon überzeugt, dass die Möglichkeiten, dass alle ukrainischen Regionen eine Einigung finden, bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Das Wichtigste ist, dass der Wunsch da ist, die entsprechenden Verpflichtungen zu erfüllen. Wir rechnen in der derzeitigen Etappe nicht damit, dass gleich eine Verfassung mit den Rechten und Pflichten der Regionen diskutiert wird, eine Dezentralisierung, Föderalisierung oder ähnliches. In der derzeitigen Etappe ist folgender Mechanismus wichtig: Kiewer Machthaber, Vertreter aus Lugansk und Donezk, Russland und die OSZE – damit das Wichtigste erreicht wird: ein Waffenstillstand und die Vereinbarung einer beständigen Feuereinstellung. Ohne Aufnahme eines politischen Dialogs unter Beteiligung aller Regionen werden wir nie verstehen, ob es real ist, dass sich die Ukrainer einigen. Wenn die derzeitigen Kiewer Machthaber sagen, dass „wir erst dann einen Dialog aufnehmen, wenn Donezk und Lugansk die Waffen niederlegen, und wenn sie sie nicht niederlegen, dann werden wir unsere Ziele mit Waffengewalt erreichen" – dann ist das eine absolut verantwortungslose Herangehensweise. Wenn den Vertretern von Donezk und Lugansk gesagt wird: „Zuerst ergebt ihr euch, und dann werden wir sehen, was wir mit euch machen werden", so führt das zu einer Kettenreaktion: „Ihr wollt uns militärisch besiegen, ihr wollt nicht mit uns reden – dann werden wir auch auf kriegerische Mittel setzen, damit ihr uns anhört und versteht, dass es sinnlos ist, einander weiterhin zu töten".

Die Menschen haben verschiedene Einstellungen. Ich bin davon überzeugt, dass die Eroberungen, die in den Gebieten von Donezk und Lugansk bereits gemacht wurden, diese Regionen im Kampf um das Wichtigste konsolidieren werden: dass alle in dieser Gegend so leben können, wie ihre Väter und Vorväter gelebt haben, dass sie so leben können, wie sie es wollen, dass sie russisch sprechen und ihre Kinder auf Russisch unterrichten können, dass sie ihre Gouverneure und die gesetzgebenden Versammlungen wählen können und dass sie die Möglichkeit haben, aus der wirtschaftlichen Tätigkeit auf ihrem Territorium Gewinn zu erzielen und dass sie mit ihren Verwandten und Freunden in der Russischen Föderation und in anderen Ländern einen wirtschaftlichen, humanitären und ganz einfach menschlichen Austausch pflegen können. Das ist das Wichtigste. Alles Übrige wird bei Vorhandensein eines politischen Willens passieren. Wir sind davon überzeugt, dass man jetzt alles tun muss, damit sie sich an den Verhandlungstisch setzen und ausgehend von einer umgehenden Feuereinstellung damit beginnen, sich darauf hinzubewegen, dass sie einander zuhören. Solange sie nicht mit Verhandlungen beginnen, werden wir nicht wissen, ob sie zusammen leben können.

Frage: Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass Russland im letzten Halbjahr seine Migrationspolitik verschärft hat – ausländischen Staatsbürgern wird die Einreise verwehrt. Viele ausländische Studenten können ihre Ausbildung nicht abschließen. Was raten Sie in einem derartigen Fall? Sollte in der Migrationsgesetzgebung nicht eine spezielle Kategorie für Studenten eingeführt werden? Denn sonst verglüht die staatliche Linie zur Förderung ausländischer Studenten – und sie werden leider keine Ausbildung mehr erhalten.

Sergei Lawrow: Auf diesem Gebiet muss Ordnung geschaffen werden. In Russland haben 80% der Arbeitsmigranten in „grauen", wenn nicht „schwarzen" Schemen gearbeitet. Die Menschen waren rechtslos. Die Arbeitgeber haben ihnen die Pässe abgenommen, es wurden keinerlei Verträge abgeschlossen und keine juristischen Verpflichtungen übernommen. Man hat ihnen ein Gehalt gegeben – gut. Aber man hat den Migranten nicht als Menschen behandelt, er konnte sich nirgendwo beschweren, er hatte ja keinen Pass. Das ist halbe Sklaverei. Damit musste Schluss gemacht werden, unter anderem auch deshalb, damit bei uns Ordnung geschaffen und diese Angelegenheit aus der „grauen Zone" herausgebracht wird. Nicht minder wichtig ist es, dass sich diese Menschen beschützt fühlen, einfach als Menschen. Wie das bei großen Reformen immer der Fall ist, so sind – als die neuen Normen beschlossen und in die Praxis umgesetzt wurden – viele Situationen entstanden, in denen sich die Menschen unwohl gefühlt haben. Viele haben ganz einfach auf sich selbst den Druck gewissenloser Arbeitgeber gefühlt, die diese lukrativen Varianten einfach nicht aufgeben wollten. Wir haben im Außenministerium zusammen mit dem Föderalen Migrationsdienst einige Sondersitzungen abgehalten und Vertreter aus allen GUS-Staaten nach Moskau eingeladen. Die überwiegende Mehrheit unserer Gesprächspartner versteht sehr gut, dass, wenn ein Migrant anstatt im Untergrund zu leben, ohne Dokumente und bisweilen unter menschenunwürdigen Umständen, nicht nur als jemand legalisiert wird, der für ein oder drei Monate gekommen ist und sich dann über irgendwelche unterirdische Kanäle das Dreißig- oder Neunzigtagevisum verlängern lässt (wie dies mit der Ukraine der Fall war), sondern wenn er sich selbst (oder sein Arbeitgeber) ein Patent kauft (1000 Rubel im Monat sind für jene, die Leute anstellen, nicht so eine große Summe) – dann ist diese Person vollkommen geschützt, sie erhält Auszahlungen aus der Sozialversicherung und irgendwelche Pensionsgarantien und Ansparungen. Wir sind davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist.

Wenn wir vom alten System mit Millionen illegaler Arbeitsmigranten wegkommen wollen, so geht das nicht ohne Schmerz. Die neuen Vorschriften werden wortwörtlich erfüllt, und deshalb werden hundert tausende Menschen aus dem Land ausgewiesen werden – und die Rückkehr in die Russische Föderation wird ihnen wegen der vorangegangenen Gesetzesverstöße für einen längeren Zeitraum überhaupt verwehrt bleiben. In jedem konkreten Einzelfall wird der Föderale Migrationsdienst Russlands bei der Suche nach Lösungen helfen, die den Menschen keine Unannehmlichkeiten bereiten – zum Beispiel bei unseren kirgisischen und tadschikischen Kollegen sowie bei den Partnern aus anderen Ländern, deren Bürger in großer Zahl auf russischem Staatsgebiet arbeiten.

Es gab konkrete Vorfälle mit Studenten aus einigen zentralasiatischen Republiken- und auch aus anderen (ein Nachbar Georgiens hat sich beschwert), wo Studenten in die Ferien fuhren und dann aus rein formalen Gründen nicht mehr legal nach Russland einreisen konnten. All das haben wir geregelt. Wenn es diesbezüglich Fragen gibt, die die Studenten an der Einreise hindern, so übergeben Sie mir ein Schreiben und ich werde versuchen, die Angelegenheit in den nächsten zwei Tagen zu erledigen.

Frage: Bekanntlich wird im September d.J. die nächste Sitzung des Forums der Russisch-Amerikanischen Pazifischen Partnerschaft stattfinden. Wie sieht angesichts der heutigen Spannungen zwischen Russland und der USA die Haltung Russlands bezüglich der Erschließung der Arktis aus?

Sergei Lawrow: Die Arktis muss man aus der Militärrhetorik ausklammern. Vor wenigen Tagen hat mein kanadischer Kollege verlauten lassen, dass Kanada - oder eher er persönlich, durch die Aktivitäten Russlands in der Arktis beunruhigt sei und dass sich Kanada der Russischen Föderation in den nördlichen Breiten militärisch entgegenstellen würde. Einen Tag später hat sein Pressedienst mitgeteilt, dass man ihn falsch verstanden und seine Aussage aus dem Zusammenhang gerissen habe. Ich glaube, dass sie leider nicht aus dem Zusammenhang gerissen wurde. Bei ihm kommen derartige Anwandlungen vor. Sein Vorgänger hat auch gesagt, dass Russland kein derartiges Recht habe.

Erinnern Sie sich, als unser großer Polarforscher Artur Tschilingarow mit einer Gruppe von Kollegen auf dem Boden des Nördlichen Eismeeres unter dem Nordpol die russische Flagge gehisst hat – damals kamen aus Kanada ebenfalls fürchterliche Anschuldigungen gegen Russland, dass wir versuchen würden, Territorium in Besitz zu nehmen – wie seinerzeit während des „Goldrausches". Das ist Blödsinn. Wir möchten nicht, dass die Arktis zu einer Arena der Konfrontation wird. Es gibt den Arktis-Rat, dem die „Arktische Fünfergruppe" angehört. Das sind jene Länder, die einen direkten Zugang zum Nördlichen Eismeer haben. Das ist ein legitimes Format, das die gesetzlich verbrieften Rechte der dort befindlichen Staaten gewährleistet, damit diese Regeln für die Wechselbeziehungen in dieser Region aufstellen, für einen sicheren und sorgfältigen Umgang mit der Natur und die Nutzung ihrer kolossalen Reichtümer.

Es wurden bereits die ersten Interregierungs-Vereinbarungen über die Verhinderung des Austritts von Erdöl in der Arktis und den Kampf gegen derartige Austritte abgeschlossen. Deshalb kann Greenpeace ruhig schlafen. Wir tragen all diesen Bedenken nicht einfach nur Rechnung, wir teilen sie. Im Unterschied zu den lauten Protesten setzen wir im Arktis-Rat reale Maßnahmen, damit die Ökologie dieser einzigartigen Region erhalten bleibt. In diesem Organ gibt es spezielle Programme zur Unterstützung der Ureinwohner, die den Norden bevölkern, und auch zur Bewahrung ihrer Lebensformen, Traditionen und Kulturen. Vor kurzem hat der Arktis-Rat den Entschluss gefasst, in seine Reihe auch Beobachterländer aufzunehmen. Das war ein langwieriger Prozess. Es haben sich einige EU-Länder, China, Indien und eine Reihe anderer Staaten angeschlossen, so zum Beispiel auch Japan und Korea.

Im gefassten Entschluss ist klar und deutlich niedergelegt, dass die Regeln für die Zusammenarbeit in der Arktis von den arktischen Ländern bestimmt werden – von den Mitgliedern des Arktis-Rats. Wenn wir uns im Rahmen dieses Forums zu Sitzungen zusammenfinden, so spricht niemand von irgendwelchen Konflikten, es geht hier nicht um eine Konfrontation. Alle sind daran interessiert, dass diese Region unter Zusammenarbeit und Achtung des Internationalen Rechts erschlossen wird, so auch unter Achtung jener Beschlüsse, die hinsichtlich der Festlegung der Grenzen des Kontinentalschelfs gefasst werden. Russland nimmt aktiv an diesen Arbeiten teil. Wir haben bereits unsere Rechte am gesamten Ochotischen Meer nachgewiesen. Jetzt ist gerade der Prozess der Fixierung der Rechte am Kontinentalschelf in der Endphase. Das wird eine langwierige Prozedur. Ich bin sicher, dass wir alles Erforderliche haben, um die Rechte Russlands am gesamten Kontinentalschelf im Nördlichen Eismeer zu registrieren.

Frage: In letzter Zeit ist in der russischen Außenpolitik eine positive Tendenz in Richtung Annäherung an die Lateinamerikanischen Staaten zu bemerken. Kommentieren Sie bitte, mit welchen Ländern konkret wir eng zusammenarbeiten wollen und auf welchen Gebieten? Welche Treffen und Veranstaltungen plant Russland in nächster Zeit mit den Ländern Südamerikas?

Sergei Lawrow: Wir planen das nicht nur, sondern wir arbeiten schon jetzt mit ausnahmslos allen Ländern Lateinamerikas zusammen, insbesondere natürlich mit den führenden Staaten der Region –Brasilien, Argentinien, Mexiko, Chile, Peru, Venezuela, Kuba und Nicaragua. Wir tragen dem Umstand Rechnung, dass die Länder der Region die Integrationsprozesse aktiv forcieren. Es gibt dort verschiedene wirtschaftliche und politische Zusammenschlüsse südamerikanischer Staaten und die Mittelamerikanische Integrationsgesellschaft. Es gibt kein einziges Land, das nicht in der einen oder anderen Form einer oder mehreren Integrations-Vereinigungen angehört. Wir haben Beziehungen zu all diesen Vereinigungen und zu ausnahmslos allen lateinamerikanischen Staaten. Im Unterschied zur Situation vor fünfundzwanzig Jahren unterhalten wir zu allen diplomatische Beziehungen, wir haben eine Reihe von Botschaften eröffnet und bauen nun unsere strategische Zusammenarbeit aus. Ich erinnere daran, dass Brasilien Mitglied der BRICS-Staaten ist, einer sehr mächtigen, neuen Vereinigung, die immer mehr Gleichgesinnte anzieht. Jeder BRICS-Summit wird von einem „Outreach"- Forum begleitet, zu dem die Länder der jeweiligen Regionen eingeladen werden. Im Jahr 2013 wurde der BRICS-Summit in Südafrika von einem Treffen der „Fünfergruppe" der BRICS-Staaten mit den Oberhäuptern von zwölf afrikanischen Staaten begleitet. Im heurigen Jahr fand der Summit dieser Vereinigung in Fortaleza statt, wo auch zehn Präsidenten lateinamerikanischer Länder zusammen trafen.

Ufa ist die Hauptstadt des BRICS-Summits 2015. Russland ist bereits in die Rechte des vorsitzführenden Landes eingetreten und wir bereiten dieses Forum vor, das gleich im Anschluss an den Summit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) stattfinden wird. Bei uns wird es auch unbedingt ein „Outreach"-Treffen geben. Wir sind gerade dabei, die Liste der eingeladenen Länder zu erstellen. Natürlich werden wir auf die Teilnehmer an den Integrationsprozessen im eurasischen Raum einen Akzent setzen.

Ich erwähne auch den Umstand, dass ungeachtet des Vorhandenseins vieler subregionaler Integrations-Vereinigungen vor drei Jahren noch ein sehr wichtiger Schritt gesetzt wurde – alle Länder Lateinamerikas (Südamerika und Mexiko) und der Karibik haben die Gesellschaft der lateinamerikanischen und karibischen Länder (CELAC) gegründet. Vorher gab es keine derartige Struktur. Es existierte eine Organisation amerikanischer Staaten, der alle lateinamerikanischen und karibischen Länder plus die USA und Kanada angehörten. Die Länder der westlichen Halbkugel haben ihr eigens Forum ohne die USA und Kanada gegründet, was die Tendenz zur Schaffung einer polyzentrischen Welt unterstreicht, von der ich eingangs gesprochen habe. Lateinamerika ist eine mächtige, in Entwicklung befindliche und durchaus zukunftsträchtige Region, die zu einem Stützpfeiler der neuen Weltordnung werden wird.

Zu den aussichtsreichsten Aufgaben für die nächste Zeit zählt ein regelmäßiger Besuchsaustausch. Mit den meisten dieser Staaten wurden Interregierungs-Kommissionen für Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit gegründet. In diesem Jahr hat der Präsident der Russischen Föderation, Vladimir Putin, Kuba, Nicaragua, Argentinien und Brasilien besucht. Ich hatte auch die Gelegenheit, in diesem Jahr auf Kuba, in Nicaragua, in Chile und in Peru zu weilen. Die Außenminister Argentiniens, Kolumbiens und einer Reihe karibischer Staaten sind nach Russland gekommen.

Einer der besten Züge unserer Zusammenarbeit ist das Abkommen über den visafreien Verkehr. Es gibt meiner Meinung nach noch zwei oder drei Länder, mit denen wir bislang keine Vereinbarung unterzeichnet haben, doch die Arbeiten daran gehen bald zu Ende. Dann wird die gesamte lateinamerikanische Region für die freie Einreise russischer Staatsbürger jederzeit offen sein.

Frage: Was sind die Hindernisse für die Ausstellung eines Einreisevisums für den Nobelpreisträger und geistigen Führer der Buddhisten, Dalai Lama, nach Russland?

Sergei Lawrow: Ich glaube, dass das nichts mit dem Nobelpreis zu tun hat. Es gibt Friedensnobelpreisträger, die dieser Auszeichnung nicht gerade Ehre gemacht haben. Das ist eine andere Frage, die nichts mit unserer Politik der Erteilung von Einreisevisa zu tun hat. Wir haben mit der Führung von Kalmykien und anderer unserer Republiken, in denen der Buddhismus praktiziert wird, wiederholt darüber gesprochen. Das Wichtigste ist, dass sich der Pastor – wenn es um einen Pastorenbesuch geht – klar und deutlich von jeglicher politischer Tätigkeit distanzieren muss. Bislang ist das unseren Beobachtungen zufolge leider nicht endgültig geschehen. Wir verstehen das Bestreben der Buddhisten der Russischen Föderation völlig, die daran interessiert sind, dass wir in unserem innerstaatlichen Leben und in der außenpolitischen Tätigkeit eng mit allen traditionellen Hauptkonfessionen zusammenarbeiten. In diesem Fall gibt es Aspekte, die das Tibet-Problem und die politische Involvierung des Dalai Lama in diese Prozesse betreffen. Diese können nicht außer Acht gelassen werden.

Frage: Im März 2011 hat der Dalai Lama völlig auf jegliche Ansprüche auf die politische Macht in Tibet verzichtet.

Sergei Lawrow: Ich habe ja nicht gesagt, dass wir von ihm irgendwelche Erklärungen hören müssen. Ich spreche davon, dass er keiner politischen Tätigkeit nachgehen sollte.

Frage: Sie haben heute in Ihrer Rede darauf hingewiesen, dass die Ukrainekrise mittels Erzielens eines Gleichgewichts zwischen jenen Kräften der Regionen gelöst werden kann, die einander feindselig gegenüber stehen. Meiner Ansicht nach gibt es einen anderen, alternativen Ausweg aus der Ukrainekrise. Im Jahr 2008 hätte Russland auf das Erzielen eines Gleichgewichts zwischen Südossetien, Abchasien und Georgien warten können, hat dies aber nicht getan, sondern effektive Maßnahmen gesetzt, die es ermöglicht haben, den Konflikt innerhalb weniger Wochen zu lösen. Wie lange dauert die Krise im Südosten der Ukraine noch an? Warum versucht Russland nicht, auf der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Lugansk und Donezk zu bestehen?

Sergei Lawrow: Ich muss Sie hier verbessern: der Krieg in Südossetien hat nicht wenige Wochen gedauert, sondern nur fünf Tage. In Südossetien fand ein direkter Überfall auf die Russische Föderation in der Person russischer Staatsbürger statt, die aufgrund einer internationalen Vereinbarung als Friedensstifter dienten. Dort gab es keinerlei Fragen – das war eine Aggression gegen die Russische Föderation.

Ich habe heute bereits von unserer Einstellung zu den im Südosten der Ukraine abgehaltenen Referenden gesprochen. Wir haben den Ergebnissen unsere volle Hochachtung entgegengebracht und uns dafür ausgesprochen, dass die praktische Umsetzung dessen, wofür die Bürger des Südostens der Ukraine gestimmt haben, im Verhandlungswege vorgenommen wird. Wir sind an einem Zerfall des Staates nicht interessiert und auch nicht an einer Missachtung der Menschenrechte – wo auch immer. Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bestätigt hat, geht in der Ukraine zurzeit ein innerer bewaffneter Konflikt vor sich. Das zwingt uns, uns von Herangehensweisen leiten zu lassen, die im internationalen Recht festgelegt sind und eine Feuereinstellung und die Aufnahme von Verhandlungen bedeuten. Wir können den Willen des ukrainischen Volkes nicht missachten. Aber das Volk muss tatsächlich die Möglichkeit erhalten, nicht unter Kriegsbedingungen und unter Bombardements, sondern angesichts einer Feuerpause und Feuereinstellung zu sehen, inwieweit es möglich ist, eine Einigung zu erzielen, die nicht aufgezwungen ist. Wir möchten, dass die Russen in der Ukraine mit den Ukrainern, Ungarn, Rumänen und anderen Nationalitäten so zusammenleben, wie sie das gewohnt sind, dass sie geachtet und ihre Rechte gewährleistet werden. In unser aller Interesse soll das große russische Erbe der Ukraine aufrechterhalten werden, damit es für alle Russen angenehm ist, und damit wir die Russische Welt nicht in Stücke zerschneiden, wo immer das möglich ist. Das geht nicht. Das ist eine völlig andere Situation im Vergleich zu dem, was auf der Krim passiert ist. Dort gab es eine Initiative und eine Willenserklärung von mehr als 90% der Krimbewohner, und bei niemandem hat dies irgendwelche Zweifel hervorgerufen. Man darf nicht davon ausgehen, dass man die Russen – damit es ihnen gut geht – aus dem Verband der Ukraine herausnehmen muss. Wir wollen, dass es den Russen auch in der Ukraine und in Moldawien und überall gut geht, wo sie heute leben. Ihre Rechte müssen gemäß ihren Traditionen und Interessen verteidigt werden. Das versuchen wir jetzt zu tun. Aber zuerst muss der Krieg aufhören, und dann wird man sehen, ob das möglich ist, oder nicht.

Frage: Wie viele ukrainische Flüchtlinge sind heute auf dem Staatsgebiet der Russischen Föderation? Wieviel Geld wurde für sie bereitgestellt? Wie kann sich das auf die russische Wirtschaft auswirken – jetzt und in Zukunft? Was sollen wir mit ihnen machen?

Sergei Lawrow: Zu dieser Frage habe ich eine objektive Bestätigung aufgrund von Berichten, die vor wenigen Tagen vom Amt für die Koordinierung humanitärer Fragen und von der Verwaltung des UN-Hochkommissars für Flüchtlingswesen veröffentlicht wurden. Diese Daten charakterisieren die humanitäre Lage im Südosten der Ukraine. Im Gebiet Lugansk gibt es praktisch kein Wasser, es fehlt an Lebensmitteln und Medikamenten; im Donbass sind 75 Städte praktisch ohne Strom, in der Konfliktzone leben noch 4 Millionen Menschen, 290 Schulen wurden vollständig oder teilweise zerstört. Allein in der vergangenen Woche haben mehr als 22.000 Personen die Gebiete Donezk und Lugansk verlassen (das sind, ich sage es nochmals, UN-Daten). Dabei fürchten sich die Flüchtlinge, die „Korridore" zu benutzen, die Kiew zur Verfügung stellt, weil diese unsicher sind. Wie UN-Mitarbeiter berichten, wurde am 18. August eine Personenkolonne beschossen, die versucht hat, die Zone der Kriegshandlungen zu verlassen. Das wurde als unannehmbar bezeichnet.

Neben der Angst vor Kampfhandlungen geht auch die Furcht vor einer Zwangsmobilisierung in jenen Regionen der Ukraine um, in die die Leute aus dem Südosten ziehen. Diejenigen, die in der Ukraine bleiben, werden nicht als Flüchtlinge bezeichnet, sondern als im Inland umgezogene Personen. Davon gibt es 190.000 – 92% davon sind Bewohner des Südostens der Ukraine. Laut UN-Angaben sind von der Krim, das heißt vom Territorium der Russischen Föderation, nur 8% der Bevölkerung ausgereist, und dieser Prozess ist bereits beendet. An die 17.000 Personen aus den südöstlichen Gebieten sind auf die Krim gezogen und sie möchten dort bleiben. Diejenigen aber, die aus dem Südosten in andere Gebiete der Ukraine umgezogen sind, möchten zurückkehren. Dies bestätigt ebenfalls die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass die Flüchtlinge dort leben können, wo sie wollen. Laut UN-Angaben ist die Lage jener, die in andere Regionen der Ukraine geflohen sind, sehr schwer. Es gibt im Land keine gesetzlichen Regelungen über die innere Migration von Personen, weshalb sie keine Dokumente erhalten, die ihren Status bestätigen. Und wenn es keine Dokumente und kein System für eine zentrale Registrierung gibt, dann können diese Leute nicht zu arbeiten beginnen, sie können keine Kredite aufnehmen und keinerlei Gelder zum Leben erhalten. Darauf wird in den Berichten der UN-Strukturen hingewiesen.

In einer Reihe von Städten, in denen Umsiedler aufgenommen werden, insbesondere hingewiesen wird hier auf Odessa, Charkow und Cherson, wurde ein Ansteigen einer negativen, bis hin zur aggressiven Haltung den Umsiedlern gegenüber verzeichnet. In einer meiner Reden habe ich bereits Fakten dahingehend angeführt, dass der Leiter der Gebietsverwaltung von Odessa, Igor Paliz, erklärt hat, dass sie keinerlei Flüchtlinge aus dem Südosten der Ukraine bräuchten, dass Odessa kein Geld in den Haushalt des Landes abführen würde, das für die Wiederherstellung dieser Region verwendet wird, usw.. Das ist ein schlechtes Zeichen, hier werden schon ethnische Säuberungen angedeutet.

Was nicht die inneren Migranten, sondern die Flüchtlinge betrifft, so sind 25.000 Personen nach Belarus gezogen, 1.250 nach Polen, und nach Russland sind laut offiziellen UN-Daten 207.000 Personen gefahren. Von diesen haben 88.000 um vorübergehenden Schutz angesucht, 119.000 Personen haben gebeten, ihnen den Status „vorübergehend aufhaltige Person" oder die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Es wird unterstrichen, dass die Anzahl der ukrainischen Staatsbürger in Russland wesentlich höher sein kann. Unseren Angaben nach nähert sich die Zahl der Millionengrenze. Aber diese Zahlen beinhalten jene, die sich in letzter Zeit von ihrer Heimat losgerissen haben. Wenn man die Arbeitsmigranten hernimmt, dann sind das wohl einige Millionen Personen.

In den Berichten der Verwaltung des UN-Hochkommissars für Flüchtlingswesen werden die Maßnahmen positiv vermerkt, die die russische Regierung und die Regionen hinsichtlich der Unterbringung der Flüchtlinge setzen. Die Hauptlast hat natürlich das Gebiet Rostow zu tragen, aber jetzt werden Programme zur Weiterbeförderung der Umsiedler in andere Regionen umgesetzt – je nach deren Wünschen. Unter Berücksichtigung ihrer Berufe wählen sie entweder Industrie- oder landwirtschaftliche Regionen der Russischen Föderation aus – bis hinauf nach Kamtschatka. Laut Gesprächen mit UN-Experten, die die Flüchtlingslager besuchen, sind die meisten Menschen zufrieden damit, dass sie vor dem Krieg geflohen sind, und sie rechnen damit, in Russland Fuß zu fassen.

Ich weiß nicht, wieviel das kosten wird. Es wird natürlich nicht billig sein, die vorübergehenden Aufenthaltsorte müssen ausgestattet werden, Essen ist zu organisieren, Anreize sind zu schaffen, damit Familien in andere Regionen umziehen. Aber es ist die Sache wert, weil es hier um Slawen geht, um unsere eigenen Leute, in der Mehrheit um russisch-orthodoxe Menschen.

Frage: In einigen Atlanten, die in China im Unterricht verwendet werden, ist Sibirien als „vorübergehend verlorenes Land" eingezeichnet. Haben wir diesbezüglich irgendwelche Aktionen zu befürchten?

Sergei Lawrow: Hier ist nichts zu befürchten. Seinerzeit sind uns diese Atlanten ebenfalls aufgefallen und wir haben unsere chinesischen Freunde darüber informiert. Diese haben uns versichert, dass diese Atlanten in keinerlei Beziehung zur praktischen Politik stünden und dass das ganze ausgebessert werde. Dazu sei jedoch eine gewisse Zeit erforderlich. Wir gehen in unserer praktischen Tätigkeit nicht von irgendwelchen Atlanten aus, sondern von einer Reihe von Grenzverträgen, die wir mir China unterzeichnet haben, die ratifiziert wurden und die in der Praxis heilig eingehalten werden. Sowohl wir, als auch die Chinesen gehen von der internationalen Rechtslage aus, die zwischen unseren beiden Ländern entstanden ist, und die eine strategische Partnerschaft unserer Staaten und Völker gewährleistet.

Frage: Sie haben eine negative Haltung gegenüber den Flüchtlingen in der Ukraine erwähnt. Gibt es so etwas auch in Russland? Wie sieht die langfristige Politik Russlands in Bezug auf die Flüchtlinge aus? Was geschieht mit diesen Menschen, wenn der Konflikt beigelegt ist?

Sergei Lawrow: Die Politik Russlands wird von seinen Gesetzen und den internationalen Verpflichtungen bestimmt, so auch vom Beitritt zu internationalen Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen. Wenn sich eine Person um Gewährung eines bestimmten Status auf dem Staatsgebiet der Russischen Föderation an uns wendet, so wird ein solcher Status gewährt, insofern diese Person den erforderlichen Kriterien entspricht. In diesem Fall wurden diese Kriterien gelockert, da bereits vor der akuten Phase der Ukrainekrise und der Spitze der Flüchtlingswelle Präzisierungen am Staatsbürgerschaftsgesetz vorgenommen wurden, gemäß dem den Trägern der russischen Sprache und Kultur maximale Erleichterungen beim Erwerb der Staatsbürgerschaft gewährt werden. Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge aus der Ukraine entspricht diesen Kriterien. Wenn sie um einen derartigen Status ansuchen, dann wird ihr Ansuchen konstruktiv und positiv erledigt.

Ich habe ehrlich gesagt nichts von einer angespannten Haltung den Flüchtlingen gegenüber in jenen Regionen gehört, in die sie kommen. Ich glaube, dass unsere Massenmedien, die die Lage beleuchten, dies aufgegriffen hätten. Ich würde selber gerne wissen, in welchen Orten eine derartige negative Einstellung verzeichnet wurde. Ich verstehe, dass es verschiedene Arten von Menschen gibt – auch unter den Flüchtlingen können einzelne Vertreter sein, die bei einem Ortsansässigen Antipathie hervorrufen können. All das hängt vom einzelnen Menschen ab. Das ist Teil der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Frage: Im Verlauf der „Anti-Terror-Operation" in der Südostukraine werden Massenkriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübt. Plant die Russische Föderation in diesem Zusammenhang diplomatische Bemühungen für die Einberufung eines Internationalen Kriegsverbrechertribunals in der Ukraine?

Sergej Lawrow: Ich denke, dass es nicht dafür steht, zu jedem konkreten Konflikt ein Tribunal ins Leben zu rufen. Wir haben diese Erfahrung gemacht, als nach dem Krieg in Jugoslawien ein Sondertribunal geschaffen wurde, ebenso ein Sondertribunal für Ruanda im Zusammenhang mit dem dortigen Völkermord. Das ist kontraproduktiv. Es gibt andere internationale gerichtliche Instanzen – den Internationalen Strafgerichtshof, dessen Statut beizutreten die ukrainischen Behörden ihre Absicht geäußert haben. Abgesehen von den internationalen Instanzen gibt es nationale Instrumente. In Russland prüft das Untersuchungskomitee die Möglichkeit der Einleitung neuer Strafverfahren gegen eine ganze Reihe ukrainischer Funktionäre, die offenbar zumindest verdächtig sind, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Mehrere Fälle wurden bereits zu den Akten genommen und neue – einschließlich des Angriffs auf das Generalkonsulat der Russischen Föderation in Odessa – werden untersucht.

Es mangelt nicht an Mechanismen, die man einsetzen kann und muss. Wie auch im Fall der anderen Konflikte glaube ich, dass die Gerechtigkeit siegen muss und die Schuldigen vor Gericht gestellt werden. Wir werden uns dafür einsetzen, dass niemand versucht, die „Sache der Scharfschützen" auf dem „Maidan" vom Februar d.J., die grauenhafte Tragödie in Odessa vom 2. Mai d.J., ähnliche Ereignisse in Mariupol, die Luftangriffe auf den Gebietssowjet von Lugansk, auf Siedlungen und Großstädte, ebenso wie die Tragödie mit der malaysischen Boeing „unter den Teppich zu kehren". Bei jedem dieser Vorfälle wurde zuerst großes Aufsehen erregt und mit Anschuldigungen herumgeworfen – wenn Sie sich erinnern, so hätten sich in Odessa die Protestierenden angeblich selbst verbrannt, in Lugansk sei es kein Luftangriff gewesen, sondern man habe, wird gesagt, aus einer Ein-Mann-Boden-Luft-Rakete aus dem Inneren des Gebäudes der Gebietsverwaltung geschossen, und da die Klimaanlage in Betrieb war, sei das Geschoss hineingeflogen. Das ist einfach Kindergeplapper.

Wir lassen keine Manipulierung dieser Untersuchungen zu. Ich wiederhole, wie in jedem anderen Konflikt darf nicht das die Hauptsache sein. Unsere Aufmerksamkeit darf nicht nachlassen, alle Bemühungen müssen sich jetzt aber vor allem auf die Feuereinstellung konzentrieren. Jene, die an diesen Verbrechen schuld sind, müssen der Justiz überantwortet werden, doch zuerst braucht es eine Lösung für diese Situation, die immer neue Kriegsverbrechen hervorbringt.

Frage: Sie sagten, dass die westlichen Länder oft doppelte Standards anwenden. Als Russland die Krim eingliederte und sie als Rechtssubjekt anerkannte, aber die Ergebnisse der Volksabstimmung in Neurussland zwar respektierte, doch Neurussland nicht als eigenes Rechtssubjekt anerkannte – sind das nicht auch doppelte Standards?

Sergej Lawrow: Auf der Krim war vor allem deshalb eine einmalige Situation, weil das Referendum überhaupt keinerlei Fragen auslösen konnte, da praktisch die gesamte Bevölkerung (etwa 90%) an der Abstimmung teilnahm. Journalisten und beliebige Beobachter hatten offenen Zutritt und alle konnten sehen, inwieweit die Willensäußerung frei und ohne jeglichen Einfluss ablief. Es bestanden überhaupt keinerlei Zweifel daran, dass das Ergebnis den Willen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung widergespiegelt hat.

Alle Volksabstimmungen, die zu diesem Thema erfolgen, müssen unter dem Aspekt der Bedingungen, unter denen es zu ihnen kommt, betrachtet werden. Sowohl Volksabstimmungen, wie auch die Stimmabgabe bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen fanden nur in einigen Teilen des Südostens statt.

Wenn wir Formalisten sind, werden wir nicht alle Probleme lösen können. Man fragt uns, warum die Unabhängigkeit der Krim anerkannt wurde. Ihr seid ihrer Bitte um Wiedervereinigung mit Russland nachgekommen, warum handelt ihr bei den anderen Territorien, wo Russen und russischsprachige Menschen leben, nicht ebenso? Es gab für uns keine anderen Möglichkeiten, die Sicherheit Südossetiens und Abchasiens zu gewährleisten, als durch Anerkennung ihrer Unabhängigkeit; ebenso gab es keinerlei Recht, die Willenserklärung der Krimbewohner rechtlich nicht anzuerkennen und ihrem Ersuchen an die Russische Föderation, welches völlig alternativlos war und keinerlei Zweifel hervorrief, nicht Folge zu leisten. Jegliche politischen Prozesse, die sich am Höhepunkt von Kampfhandlungen ereignen, sind in erster Linie unter dem Aspekt der Erfordernis, das Blutbad zu beenden und mit nüchternem Kopf miteinander zu sprechen, aufzufassen. Das ist unvermeidlich. Eine formale Vorgehensweise eignet sich hier nicht.

Was die doppelten Standards betrifft, so haben wir nur einen Standard – dass es keinen Krieg geben darf und die Menschen das Recht haben, so zu leben, wie sie wollen, auf dem Territorium, wo ihre Väter und Vorväter gelebt haben. Dass man ihnen, wie im gegebenen Fall, nicht verbietet, humanitäre Hilfe zu liefern. Was haben wir mit dem ersten Hilfskonvoi nicht alles durchgemacht, als man uns etwa zehn Tage lang von „Pontius zu Pilatus schickte", uns an der Nase herumführte, bis uns die Geduld riss und die humanitäre Hilfe geliefert wurde. Was für anklagende und beleidigende Worte wir da nur aus Washington und den westeuropäischen Hauptstädten zu hören bekamen! Es wurde uns vorgeworfen – „wie könnt ihr humanitäre Hilfe liefern, wenn ihr keine Zustimmung von der ukrainischen Regierung habt?" Aber die Zustimmung hatten wir ja: sie sandten uns eine Note, dass die Hilfe angenommen werde, doch dann fingen sie an, logistische, organisatorische und sonstige heuchlerische Spiele zu spielen.

Gleichzeitig wird im Irak, ohne die Zentralregierung zu fragen, humanitäre Hilfe abgeworfen und in Flugzeugen in die Hauptstadt des irakischen Kurdistan gebracht, wo diese Hilfe auch benötigt wird, doch es hatte sich keiner an die irakische Regierung gewandt. Im irakischen Parlament tauchten sogar Fragen auf, warum in der Stadt Erbil im irakischen Kurdistan Flugzeuge aus zwei großen europäischen Ländern mit humanitärer Hilfe an Bord landeten, sie aber davon nichts gewusst hätten. Nach Syrien wird ohne jegliche Zustimmung der Regierung der Syrischen Arabischen Republik Hilfe für die Opposition geschickt. Nun verkündeten die Amerikaner, dass sie Terroristen auf syrischem Staatsgebiet bombardieren würden, - und sie brauchen keinerlei Erlaubnis. Wir erklärten, dass das ein sehr grober Verstoß gegen die Normen des Völkerrechts sei. Der Terrorismus muss bekämpft werden und Gott sei Dank haben sich die USA endlich erinnert, dass es vor allem Terroristen sind, die gegen Präsident Assad kämpfen. Zu deren Neutralisierung muss man jedoch mit der syrischen Regierung zusammenarbeiten und darf keine Schläge führen, ohne Damaskus zu informieren.

Erst vor einem halben Jahr fassten wir im Rahmen der damaligen „Gruppe der Acht" mit einem Appell an die syrische Regierung und die Opposition den Beschluss, die Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus zu vereinen. Darunter setzten die Präsidenten der USA und Frankreichs und die deutsche Kanzlerin ihre Unterschrift, aber dann begannen sie zu sagen, dass man den Terrorismus bekämpfen müsse, aber dass die Terroristen in diesem Fall eine gute Sache machten, indem sie halfen, einen Diktator zu stürzen. Das ist Doppelmoral „auf dem Silbertablett serviert", vor aller Augen. Wir werden das überwinden. Die Sache ist nicht einfach und stößt auf eine Situation, wo unsere westlichen Partner, vor allem Washington, versuchen, „gegen den historischen Strom zu rudern" und den objektiven Trend zur Bildung einer polyzentrischen und gerechten Welt zu durchbrechen und sich wünschen, die Situation in dem Fahrwasser zu belassen, dass sie die wichtigsten seien und – wie US-Präsident Barack Obama mehrfach sagte – Exklusivität besäßen. Daher werden sie alles tun, was ihren Interessen entspricht, ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen.

In der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten, die 2010 angenommen wurde, steht klipp und klar, dass, wenn es um die Interessen der USA geht, sie ohne Bedacht auf das Völkerrecht handeln würden, auf einseitiger Grundlage, Gewaltanwendung miteinbegriffen. In seiner Rede vor der UN-Generalversammlung im September 2013 bekräftigte Barack Obama dies, indem er erklärte, dass die Interessen der USA im Nahen Osten und in Nordafrika die einseitige Anwendung von Gewalt und jedweder möglicher Mitteln erlauben. Wo liegen die USA und wo der Nahe Osten? In einer Entfernung von vielen Tausenden Kilometern. Wenn allerdings die syrische Regierung Terroristen bombardiert, die syrische Städte eingenommen haben, so erregt dies Anstoß und wird als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Und wenn die Kiewer Führung die Luftflotte und schwere Artillerie, ballistische Raketen und Salvenfeuersysteme gegen ukrainische Städte einsetzt, so wird dies als das Recht jedes Staates zur Verteidigung seiner territorialen Integrität bezeichnet. Das wird im Abstand von zwei Tagen gesagt und ständig wiederholt.

Wir wollen jedes Blutvergießen stoppen. Unter Friedensbedingungen und mit kühlem Kopf müssen sich alle Parteien zusammensetzen und klären, wie so etwas geschehen konnte und was man tun kann, damit sich das nicht wiederholt.


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