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Interview des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, für die Sendung „Das große Spiel“ des TV-Senders „Perwy Kanal“, Moskau, 10. März 2023

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Frage: Ich würde mit einer Frage beginnen, die die jüngsten Nachrichten betrifft. Die Situation in Tiflis. Die Regierung ging de facto allen Forderungen der Protestierenden entgegen, ohne beschränkende Bedingungen, ohne Zugeständnisse seitens der Protestierenden. Allerdings hören wir, dass Proteste andauern werden. Die Forderungen der Protestierenden nehmen nur zu. Das erinnert an das Kiewer Maidan 2014. Was passiert? Und wie weit kann das Ihres Erachtens gehen?

Sergej Lawrow: Das ähnelt sehr dem Kiewer Maidan. Es gibt keine Zweifel, dass das Gesetz über die Registrierung der Nichtregierungsorganisationen, die ausländische Finanzierung in Höhe von 20 Prozent von ihrem Haushalt bekommen, nur ein Anlass war, um den Versuch eines gewaltsamen Machtwechsels zu beginnen.

Wenn man das Gesetz nimmt und es vergleicht (wie es viele Politologen in den letzten Tagen, nach Beginn der Unruhen in Tiflis, machten), ist es nicht so hart im Vergleich damit, wie die Tätigkeit der gemeinnützigen Organisationen in den USA, Frankreich, Indien, Israel geregelt wird. Das alles kann man sehen.

Für die Verletzung eines ähnlichen Gesetzes in den USA gilt eine Strafe bis 250.000 US-Dollar bzw. bis 5 Jahre Haft im Rahmen einer strafrechtlichen Verfolgung. In Georgien sind die Summen deutlich geringer – rund 9000 US-Dollar und keine strafrechtliche Verfolgung.

Obwohl es in mehreren europäischen Ländern zu diesem Thema deutlich härtere Normen gelten, sagte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell, dass das Gesetz, das die Georgier fördern (die Regierungspartei „Der georgische Traum“) den europäischen Werten widerspricht, den Weg des Beitritts Georgiens zur EU blockiert. Die Heuchelei liegt auf der Hand.

Die Regierung, die Regierungskoalition, Regierungsparteien erklärten, dass sie dieses Gesetz (wie ich gehört habe) zurückrufen und rund 170 festgenommene Drahtzieher der Unruhen freilassen. Und das trotz der Videobeweise ihrer Gewalt. Es geht um Verletzung der demokratischen Normen und soll gerichtlich verfolgt werden. Allerdings hat die Regierung sie freigelassen. Oppositionelle sagten dann sofort, dass ihnen nur bei der ersten Frage entgegengekommen wurde, und sie jetzt zurücktreten sollen.

Die Position des Westens, des US-Außenministeriums, das pathetisch über die Unzulässigkeit solchen Verhaltens zur Zivilgesellschaft sagte, löst Lächeln aus. Das sind die Regeln, von denen der Westen spricht. Wir sprechen über das Völkerrecht, und er über die „Regeln“, auf denen die Weltordnung beruhen kann. In Georgien kann und soll die Opposition das machen, was sie will, während die Proteste in Moldova gegen die amtierenden Behörden verurteilt werden. Denn die Opposition in Georgien widerspiegelt die Interessen des Westens und die Opposition in Moldova widerspiegelt andere Interessen, und die westliche Interessen werden in diesem Land von der Regierung und Präsident widerspiegelt.

Vor unseren Augen entwickeln sich zwei ähnliche Situationen mit Protesten. In Tiflis waren Proteste gar nicht friedlich. Wie sie sich vergewissern konnten, kippten Demonstranten Autos um, nutzten Tränengas, Rauchkörper. In Chisinau kann ich mich daran kaum erinnern. Auch wenn es ähnliche Aktionen gab, ist das Verhalten ganz anders. Mir scheint, dass alle Länder, die  um die Russische Föderation liegen, sollen Schlussfolgerungen daraus machen, inwieweit gefährlich der Kurs auf die Einbeziehung in den Bereich der Verantwortung, der Interessen der USA ist. Diese Zone dehnt sich jetzt auf die ganze Welt aus. Wir haben darüber schon gesagt. Wenn die USA und ihre Nato-Verbündeten die Ereignisse in der Ukraine, unsere militärische Spezialoperation kommentieren, fordern sie eine strategische Niederlage Russlands auf dem Kampffeld, wobei direkt zugegeben wird, dass es sich um einen existentiellen Konflikt handelt. Von seinem Ausgang hängen die Interessen des Westens im Bereich globale Sicherheit, die Aussichten seiner Hegemonie mit den USA an der Spitze und die Aussichten ihrer Dominanz in globalen Angelegenheiten ab.

Frage: Mir scheint, dass die Ereignisse in Tiflis an die Ereignisse in Kiew 2014 noch in einem Aspekt erinnern. In Kiew gab es die Regierung mit Präsident Viktor Janukowitsch an der Spitze, die trotz Vorwürfe gar kein Verbündeter Russlands war. Sie sprachen darüber, dass sie eine Assoziierung mit der EU wollen und den europäischen Weg wählen. Denken Sie nicht, dass es so wie „halb-schwanger“ sein? Dass die Länder, Regierungen im Postsowjetraum, die diesen Weg der Bewegung in „transatlantischen Raum“ wählten, damit de facto auf einen bedeutenden Teil ihrer Souveränität verzichteten. Es war für sie schwer, sich zu verteidigen und sie beschränkten die Möglichkeiten Russlands, ihnen zu helfen.

Sergej Lawrow: Natürlich. Ich würde sogar mit 2004 und nicht mit Maidan 2014 beginnen. 2004 gab es Probleme bei den Wahlen in der Ukraine. Damals traten bedingt prorussische Kräfte gegen jene ein, auf die der Westen setzte.

Ich erinnere mich sehr gut daran, wie offizielle Personen der EU, Außenminister dieser Länder die ukrainischen Wähler dazu aufriefen, eine Wahl zu treffen, mit wem sie sind – mit Russland oder mit Europa. Diese Rhetorik war seit 2004 zu hören, als unsere Beziehungen mit der EU fast wolkenlos waren – es gab Pläne der gemeinsamen Räume, es wurde die sozialwirtschaftliche Integration ernsthaft besprochen, es zeichneten sich Vereinbarungen über die Vereinfachung der Visaregeln und anschließenden Übergang zur Visafreiheit, ein einheitlicher Sicherheitsraum und wirtschaftliche Entwicklung vom Ärmelkanal bis Wladiwostok u.a.

Die Philosophie im Sinne – entweder mit uns oder mit Russland - wurde von der EU seit Beginn der geopolitischen Situation, die sich nach Zerfall der Sowjetunion bildete, geplant. Russlands Präsident Wladimir Putin sagte darüber mehrmals während der Gespräche und Interviews. 2013 kam die Ukraine direkt zu Vereinbarungen zu einem Assoziierungsabkommen mit der EU. Damals wurde uns nicht über den Verlauf der Verhandlungen gesagt, obwohl Russland und die Ukraine einen sehr großen Umfang der Handels-, Investitions- und anderen Wirtschaftsverbindungen hatten. Ukrainische Freunde, die Regierung von Janukowitsch waren gar nicht proukrainisch. Sie befassten sich mit der Aufnahme der engen Assoziierungsbeziehungen zur EU.

Frage: Sie war auch nicht prorussisch.

Sergej Lawrow: Natürlich nicht. Sie befassten sich mit den Verhandlungen mit der EU, ohne uns darüber zu benachrichtigen. Wir wussten, dass Gespräche laufen. Aber unsere höflichen und delikaten Bitten, die Einschätzungen mitzuteilen, wurden ignoriert. Russland wollte nicht stören, eine „Genehmigung“ geben oder die Rolle eines Hegemons übernehmen. Es geht darum, dass es sich bei Verhandlungen um die Dinge ging, die von unseren Beziehungen mit der Ukraine in anderen Formaten, in der GUS geregelt wurden, wo ein Freihandelsabkommen galt.

Wir stellten Fragen. Wenn sie alle Tarife beim Handel mit der EU auf Null setzen, wobei wir mit ihnen auch keine Tarife haben, entsteht ein Problem. Mit der EU haben wir keine Null-Tarife, aber es gibt sehr ernsthafte Schutztarife, die wir seit langen 17 Jahren während Verhandlungen über WTO-Beitritt aushandelten.

Der Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch und seine Assistenten verstanden, dass es ein Problem sein kann, und falls keine Maßnahmen getroffen werden, wird Russland die Grenze zur Ukraine für eine zollfreie Einfuhr der Waren sperren, sonst wird aus der EU ein Strom kommen, von dem wir uns in WTO schützen. Auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft im Herbst 2013 bat Viktor Janukowitsch, die Unterzeichnung dieses Abkommens zu verschieben.

Zuvor sprachen wir uns für die Einführung der Konsultationen der Experten im trilateralen Format Russland-Ukraine-EU-Kommission ein, um auf den Tisch unsere existierenden Handelsregeln mit der Ukraine und EU und das, was Brüssel und Kiew unterzeichnen wollen, zu legen. Der EU-Kommissionschef Jose Barroso sagte damals arrogant, dass es nicht unsere Angelegenheit sei, und die EU sich zum Beispiel nicht am russisch-kanadischen Handel Interesse hat, und weigerte sich, ein Expertentreffen abzuhalten.

Als die Ernsthaftigkeit der negativen handelswirtschaftlichen Folgen  der mit Russland und der Freihandelszone der GUS nicht abgestimmten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens begriffen wurde, bat Janukowitsch auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft, diesen Prozess zu verschieben. Das wurde zum Trigger des Maidans.

Frage: Ich erinnere mich daran, wie litauische Anführer sich empörten – wieso ist es, wir sind doch bereit, mit Janukowitsch trotz aller seinen Nachteile zu sprechen, und er benehme sich so falsch.

Sergej Lawrow: Er wurde quasi „in eine anständige Gesellschaft reingelassen“.

Frage: Genau.

Sehen wir uns den Konflikt in der Ukraine an. Heute ist die Position des kollektiven Westens ihm zufolge selbstverständlich. Sie widerspricht der amerikanischen diplomatischen Tradition. Der erste US-Präsident George Washington warnte die USA vor Teilnahme an europäischen Konflikten, die keinen direkten Zusammenhang mit den US-Interessen haben. Darüber sprachen auch viele andere US-Präsidenten.

Wollen wir uns davon abstrahieren, wer im Streit um die Ukraine Recht hat. Es ist klar, warum es für Russland ein existenzielles Problem ist. Warum empörte sich der kollektive Westen so stark? Gab es in der Ukraine tatsächlich so etwas, was für den Westen sehr wichtig war und sie seit langem auf einen Vorwand warteten, in Russland in den Hals zu beißen, das eine bequeme Zielscheibe wurde, um solche Wut und Einheit zu zeigen?

Sergej Lawrow: Ich denke, es sind beide Gründe vorhanden. Sie warteten auf einen Vorwand, um Russland in den Hals zu beißen, und auf ein Moment, um das zu machen. Russland wurde als ein zu selbstständiger Akteur bezeichnet. Wir gewannen an Wirtschaftsstärke, zwar nicht so wie bei China oder Indien, aber blieben in der Reihe der führenden Wirtschaften. Wir haben ernsthafte moralisch-politische Positionen in der Weltarena. Wir treten zu den wichtigsten für die Entwicklungsländer Länder Fragen aus der Position der Gerechtigkeit und Kritik des Systems, das der Westen in der postkolonialen Epoche auf Prinzipien des Strebens, auf Kosten der Anderen zu leben, beibehalten möchte, ein.

Ich antwortete nicht auf die vorherige Frage in Bezug auf Georgien. Die Ereignisse in Georgien werden von außen redigiert und sind der gleichen Natur. Das ist der Wunsch, einen Reizfaktor an der Grenze Russlands zu schaffen, im Land, wo die jetzige Regierung (wie auch die ukrainische Regierung von Janukowitsch 2013) vor allem über Wirtschaftsinteressen des Staates denkt und sich weigert, antirussischen Sanktionen anzuschließen. Es wird gar nicht damit motiviert, dass sie prorussische Politiker sind, sondern dass die wirtschaftlichen und Handelsverbindungen mit der Russischen Föderation (Gaslieferungen, Lieferung von Wein, Cognac, Borjomi-Mineralwasser, Landwirtschaftserzeugnisse) einen sehr großen Teil der Einnahmen des georgischen Außenhandelshaushalts ausmachen. Sie wollen darauf nicht verzichten, obwohl sie dazu bewegt werden, ihre Nationalinteressen zu Opfer zu bringen. In beiden Ländern gab es gar keine prorussischen Regierungen, aber sie dachten über sich selbst und nicht darüber, was ihnen befohlen wurde.

Ich erwähnte bereits, wie die Amerikaner überzeugen: „Sie sollen so und so machen“. Auf die Frage „Was bekommen wir im Austausch?“, folgt am häufigsten die Antwort: „Wir werden sie nicht bestrafen“. Ich sehe keinen gleichberechtigten, gegenseitig vorteilhaften Austausch, keine bilateralen Deals.

Russland wurde tatschlich zur existenziellen „Bedrohung“ erklärt, die in kürzester Zeit bekämpft werden soll. Die nächste Bedrohung – bislang in der Formulierung „eine langfristige, ständige Herausforderung für den Westen in der Welt“ – ist China. Die Russische Föderation hat den vorrangigen Platz in den Plänen des Westens, in seiner Rhetorik, Handlungen. Parallel begannen Sanktionskriege gegen China, darunter die Verbote für den Zugang Chinas zu jeden Materialien und Technologien, die Peking helfen können, Durchbruchsentscheidungen (Halbleiter, Mikroschemas u.v.m.) zu treffen. Sie wissen darüber Bescheid. Ich bin sicher, dass der Sanktionsdruck auf China nur zunehmen wird. Das wurde de facto angekündigt.

Frage: In Peking wurde gerade der Vorsitzende Xi Jinping für die dritte Amtszeit wiedergewählt. Bis vor kurzem hatte Washington Hoffnungen, dass China ein positiveres Herangehen zu den USA zeigen und dem US-Druck gegen Russland mehr folgen wird. Es wurde betont, dass die Ernennung des ehemaligen chinesischen Botschafters in Washington zum Außenminister Chinas von einer neuen Wahrnehmung von US-Argumenten zeugt.

Ich sehe, was jetzt chinesische Anführer sagen und die chinesische Presse schreibt. Alles sieht wie „umgekehrt“ aus. Haben Sie den Eindruck, dass die USA mit dem Druck gegen China - wenn sie sagen, dass Peking sich nach US-Rezepten benehmen soll, sonst wird es das bedauern - den Gegeneffekt hat, und China sich mehr in Richtung einer engen Unterstützung Russlands nicht so gerne bewegen hätte?

Sergej Lawrow: Die Amerikaner stellen im Prinzip gerne andere gegen sich ein. Dazu haben sie viele Methoden. Am wichtigsten sind wohl die Manieren, die nicht als Diplomatie bezeichnet werden können. Das ist de facto eine Form des Diktats, Forderungen. Ich sprach mit dem neuen Außenminister Chinas Qin Gang. Wir trafen uns am Rande der G20-Ministerveranstaltungen in Neu Delhi. Ich sah in seinen Aussagen die Nachfolgeschaft der chinesischen Außenpolitik. Einige Tage zuvor, am 22. Februar reiste sein Vorgänger, das jetzige Mitglied des Politischen Büros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, Leiter der Kanzlei der Kommission des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands für auswärtige Angelegenheiten, Wang Yi, nach Russland. Er bestätigte auch in Gesprächen mit mir in Moskau und mit dem Sekretär des Sicherheitsrats Russlands, Nikolai Patruschew, sowie während eines Empfangs bei Präsident Russlands, Wladimir Putin, eindeutig die Nachfolgeschaft der chinesischen Führung nach der letzten Sitzung der Kommunistischen Partei Chinas in Bezug auf den Kurs auf die Koordinierung, Zusammenarbeit mit Russland, Umsetzung der aussichtsreichen bilateralen Projekte und ein verantwortungsvolles gemeinsames Verhalten in der internationalen Arena, wo wir begreifen, wie viel von der Rolle Russlands und Chinas bei der Gewährleistung der Stabilität der Lage abhängt.

Was Prognosen darüber betrifft, dass wenn der Botschafter in einem Land arbeitete und dann zu Außenminister in seinem Land ernannt wurde, soll er sich besser und sogar (im positiven Sinne) voreingenommen zum Zusammenwirken mit diesem Land in der Zukunft verhalten, es ist wohl so, wenn Manieren richtig sind.

Der Botschafter Russlands in Washington Anatoli Antonow, den Sie sehr gut kennen, hat sehr große Probleme in Bezug auf Kontakte sowohl auf seiner Ebene, als auch auf der Ebene seiner Mitarbeiter. Nicht weil wir so sehr wollen, sich jeden Tag mit Mitarbeitern des Außenministeriums der USA bzw. anderer US-Dienste treffen, sondern weil Fragen entstehen, die nicht mehr mit der künftigen Weltordnung, sondern damit verbunden sind, wie Diplomaten Russlands in den USA wohnen, wie US-Diplomaten hier wohnen, wie Washington die Spirale der Verschärfung der Bedingungen, unter denen sie arbeiten zudreht. Es ist schwer, bei diesen humanitären und allgemein menschlichen, für alle verständlichen Fragen Fortschritte zu erreichen.

Ich habe nicht gehört, dass der Botschafter Chinas Qin Gang während seiner Arbeit in Washington alle Türe öffnete. Nach meinen Angaben (darüber wurde mehrmals geschrieben) hatte er auch Schwierigkeiten mit der Aufnahme alltäglicher Kontakte. Ich sprach mit ihm nicht zu diesem Thema, aber nach seinen Aussagen bei unseren Gesprächen, laut seiner Pressekonferenz am Tag der Eröffnung einer weiteren Sitzung der Allchinesischen Sitzung der Volksvertreter bemerkte ich keine Änderungen am Kurs, der in russisch-chinesischen bilateralen Dokumenten festgelegt wurde. Jetzt funktioniert ihr ganzes Paket. Eines der wichtigsten Dokumente ist die während des Besuchs von Wladimir Putin in Peking am 4. Februar 2022 angesichts der Eröffnung der Olympischen Spiele angenommene Erklärung, die als offizielles Dokument der UNO veröffentlicht wurde und eine Grundlage aller unserer weiteren Handlungen bildet.

Frage: Sie haben das Treffen in Neu Delhi erwähnt, wo Sie ein kurzes Gespräch mit US-Außenminister Antony Blinken am Rande der Veranstaltungen hatten.

Es gab so ein interessantes Moment. Zuvor hatte das US-Außenministerium kritisch gesagt, dass Antony Blinken nicht vor hatte, sich mit Ihnen und dem Außenminister Chinas auf dieser Veranstaltung in Neu Delhi zu treffen. Ich wurde vom Kontrast zwischen Entschlossenheit ihrer vorherigen Erklärungen und dem Interesse, das sie zeigten, um dieses Treffen zu organisieren, überrascht. Aber falls sie mit Ihnen sprechen wollten, warum konnte man das nicht in einem Format machen, wenn es tatsächlich substantielle Gespräche hätte geben können? Wozu wurde dieses Treffen von der US-Seite angefragt? Was ereignete sich aus Ihrer Sicht bei diesem Treffen und was könnten Sie uns mitteilen?

Sergej Lawrow: Auf beiden Seiten wurde bereits mitgeteilt, dass die Situation im Bereich strategische Stabilität im Kontext des New-START-Vertrags und das Ukraine-Thema besprochen wurden. Deswegen würde ich keine Geheimnisse in Bezug darauf lüften, worüber wir gesprochen haben. Außer diesen zwei Themen wurde nichts besprochen.

Frage: Trotz Erklärungen des US-Außenministeriums haben Sie den Austausch der Kriegsgefangenen nicht besprochen?

Sergej Lawrow: Es wurde nur die strategische Stabilität und das Ukraine-Thema besprochen. Ich will nicht auf Details davon eingehen, wie dieses kurze zehn Minuten lange Gespräch aussah. Im Prinzip ordnet sich alles, was ich hörte, in eine allgemein bekannte, öffentlich dargelegte und mehrmals hervorgehobene Haltung der USA in diesem Zusammenhang ein. Ich habe ausführliche Erklärungen gegeben. Insbesondere in Bezug darauf, was den New-START-Vertrag betrifft. Unsere Position und der erzwungene Schritt zur Aussetzung dieses Vertrags wurde von Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Botschaft an die Föderale Versammlung ausführlich erklärt. Hier wird auch nichts Neues gesagt.

Frage: Haben Sie von US-Außenminister etwas gehört, was Ihnen ein Gefühl gegeben hat, dass es ein Versuch war, zumindest einen vorsichtigen, aber konstruktiven Dialog mit Russland aufzunehmen?

Sergej Lawrow: Wir haben konstruktiv gesprochen, ohne Emotionen, drückten einander die Hand beim Treffen und zur Verabschiedung. Es war ein normales Gespräch. Ich weiß nicht, inwieweit das das Verständnis der USA über die Nicht-Normalität der Situation widerspiegelt, wenn sie alle Dialog-Kanäle gestoppt haben. Aber es war nie eine Sensation, am Rande einer Veranstaltung normal zu sprechen.

Frage: War es ein zivilisiertes Gespräch ohne Frechheit?

Sergej Lawrow: Ein absolut zivilisiertes Gespräch. Das zeigt erneut, wie tief wir alle in unserer multilateralen Diplomatie gefallen sind. Wenn ein natürliches Treffen am Rande der Veranstaltung, welche es bereits hunderte gab, jetzt als Anlass wahrgenommen wird, um zu rätseln, ob es ein Durchbruch war oder nicht, ob es eine Hoffnung gibt, dass der Dialog wiederaufgenommen wird, das ist traurig. Solche psychologische Wahrnehmung eines elementaren diplomatischen Kontaktes bedeutet, dass wir die Arbeit deutlich erschwert haben wegen des Kurses auf die Unterdrückung von Andersdenken, das der Westen begann und nicht stoppen will.

Dabei werden gegenüber Russland äußerst aggressive Aussagen, Rhetorik und Handlungen genutzt, die vor allem in illegalen und beispiellosen Sanktionen bestehen. Sie zeigen, dass der Westen für sich tatsächlich beschlossen hat, dass es ein Krieg auf Leben und Tod ist. Dieser Hybrid-Krieg, den er lange vor dem vorherigen Jahr gleich nach dem Staatsstreich 2014 vorbereitet hatte, wird als „unser letzter und entschlossener Kampf“ wahrgenommen. Ungefähr so. Sie haben ihre eigene westliche „Die Internationale“. Man kann sehen, wie die Hymne „Die Internationale“ das Streben des Westens wiederspiegelt, kein Stück zurückzuziehen. So sagen sie zumindest.

Sie haben doch weitere Erklärungen gehört. CIA-Chef William Burns sagte gestern, dass man nicht merke, dass Russland an einer friedlichen Regelung interessiert sei. Und merkt man, dass Wladimir Selenski daran „interessiert ist“? Er sagte wieder gleichzeitig mit William Burns, dass er sich nie an einen Verhandlungstisch mit Wladimir Putin setzen wird. Das sei ausgeschlossen. Nur ein „vollständiger Sieg“ der Ukraine, er habe Verbündete in anderen Formaten und er werde mit ihnen die Fragen über die Zukunft seines Landes lösen.

Wir sagen, dass wir Verhandlungen nicht meiden, nicht weil wir darum bitten. Wir sehen jetzt keine Möglichkeit für Gespräche. Wir betonen dieses Thema vor dem Hintergrund der andauernden Erklärungen, dass es so schlecht sei, dass „Russland keine Verhandlungen wolle“. Hat jemand gelesen, was Wladimir Selenski sagt? Hat sich jemand an den von ihm im September 2022 unterzeichneten Erlass erinnert, der Gespräche verbietet? Sie sehen dich so blauäugig an, wenn man ihnen darüber sagt, und können nichts sagen. Das ist auch ein Teil eines psychologischen Kriegs, Bestandteil eines Kurses, von dem wir mit ihnen sprechen und der darauf abzielt, dass niemand ihnen widersprechen kann.

Frage: Es gibt einen Hybrid-Krieg, es gibt einen Krieg (wenn ich richtig verstanden habe), der fast ein wahrer Krieg wurde, und es gibt einen ganz wahren Krieg. Ich meine sogar nicht das, was auf dem Kampffeld in der Ukraine passiert, sondern auch Terroranschläge. Der letzte davon, der aus verständlichen Gründen für großes Aufsehen sorgte, ist die Explosion an Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Es wurde ein Artikel von Seymour Hersh veröffentlicht, der für mehr Aufsehen außerhalb den USA sorgte, als in den USA selbst, wo man ihn ignorierte. Jetzt tauchten aber Mitteilungen in angesehenen US-Zeitungen wie „The New York Times“, „The Wall Street Journal“, „The Washington Post“, in der deutschen Zeitung „Die Zeit“ darüber auf, dass diese Explosion von einer merkwürdigen „anonymen Gruppe“ durchgeführt wurde – von den Ukrainern oder russischen Oppositionellen. Die Firma, die es organisiert haben soll, ist in Polen ansässig. Der Terroranschlag wurde aus Deutschland verübt. Es wird zum ersten Mal zugegeben, dass US-Sicherheitsdienste von dieser Operation vor vielen Monaten Bescheid wussten. Dabei versuchte sogar jemand, auf Russland als Seite, die für diese Explosionen verantwortlich ist, hinzuweisen. Dabei wird bislang nicht gesagt, was über diese Operation bekannt ist – wer machte das, wer war der Auftraggeber. Das löst Fragen aus – wie ist die Rolle der USA in dieser Situation? Halten Sie die Administration von Joe Biden als verantwortlich für die Ereignisse mit Nord Stream 1 und Nord Stream 2?

Sergej Lawrow: Um es eindeutig zu sagen, ist eine objektive Ermittlung nötig. Darauf bestehen wir eben. Als  die Ermittlung von Seymour Hersh erschien, warfen wir sofort entsprechende Fragen auf. Genauer gesagt, hatten wir sie noch gleich nach dem Terroranschlag gestellt. Wir hatten uns öffentlich und auch in den Briefen im Namen unseres Ministerpräsidenten Michail Mischustin an seine Amtskollegen in Deutschland, Dänemark und Schweden gewandt. Wir verschickten  etliche offizielle diplomatische Noten an diese Länder mit der Bitte, unsere Fragen zu beantworten und uns die Möglichkeit zu geben, die Abschnitte der Pipelines zu besichtigen, die Objekte der Anschläge wurden. Darauf erhielten wir keine klaren Reaktionen – man sagte lediglich, man würde sich damit selbst auseinandersetzen: „Diese Ermittlung wird vorerst vertraulich geführt“, oder „Wenn der passende Zeitpunkt kommt, werden Sie alles erfahren“… Aber die im September  2022 verschickten Briefe unseres Ministerpräsidenten Michail Mischustin bleiben überhaupt ohne jegliche Antwort. Das ist kennzeichnend für die Manieren, aber nicht nur dafür. Ich denke, dabei ging und geht es zudem um die Verlegenheit dieser Länder. Sie wissen nicht, was sie darauf antworten können, besonders nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Ermittlung von Seymour Hersh, der auch versprochen hat, zusätzliche Einschätzungen und Schlussfolgerungen zu veröffentlichen. Für uns wurde das zu einem zusätzlichen Faktor, der uns dazu bewegte, eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zu initiieren, die gerade diskutiert wird und deren Abstimmung wir unbedingt voranbringen werden. Wir verlangen Ermittlungen.

Frage: Und falls die Antwort negativ sein wird?

Sergej Lawrow: Als Seymour Hersh seinen Beitrag veröffentlichte, hat Mr. Ned Price, der am Ende seiner Karriere im Pressedienst des US-Außenministeriums unmittelbar Antony Blinken zuständig ist, das als „Nonsens“ bezeichnet. Alles, was Fakten angeht, die auf die mögliche Rolle der Vereinigten Staaten (ich würde sogar sagen, auf die sehr wahrscheinliche Rolle der US-Regierung) verweist, wird als „Nonsens“, „Unsinn“, „Fantasien“ usw. bezeichnet, so dass keine Ermittlungen nötig  sein. Denn es gibt angeblich nationale Ermittlungen, die auch genügen.

Aber an denselben Tagen (man koordiniert nur sehr schlecht eigene öffentliche Auftritte und Projekte) verlangte die Pressesprecherin des US-Präsidenten, Karine Jean-Pierre, in einem Briefing, eine internationale Ermittlung wegen der Berichte über Vergiftungen in Schulen im Iran aufzunehmen. Eine internationale Ermittlung, obwohl dort kaum jemand wirklich zu Schaden gekommen ist. Aber wenn es um einen direkten Angriff auf Objekte der kritisch wichtigen energetischen Infrastruktur geht, sind keine Ermittlungen nötig. Denn die Schweden, Dänen und Deutschen sich damit „selbst auseinandersetzen“ werden. Sie wissen ja, dass in westlichen Ländern Angriffe auf Objekte der kritischen Infrastruktur laut Gesetz einer Kriegserklärung gleichgesetzt werden. Was konkret diesen Fall angeht… Falls festgestellt wird, dass der Terroranschlag gegen ein Nato-Land, gegen seine kritisch wichtige Infrastruktur von einem anderen Land organisiert wurde, wird sich die Frage stellen: Worin besteht der Sinn des Bestehens der Nordatlantischen Allianz, deren Ziel angeblich der Schutz ihrer Mitgliedsländer von Angriffen von außerhalb besteht, wenn sie Angriffe auf ihre Mitglieder von innen zulässt? Das wäre eine ziemlich interessante Frage.

Sie haben die jüngste Welle von Berichten in amerikanischen und teilweise deutschen Medien erwähnt, die den neuen Versionen gelten: ein ukrainischer Oligarch, für den es besser wäre, alles selbst zuzugeben; man wollte nicht über „ukrainische Spuren“ reden, denn das könnte die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine anspannen, usw.  Erstens ist das nichts als „kindisches Gerede“.  Zweitens selbst wenn man die Logik akzeptiert, die man jetzt schildert, der zufolge man die strategischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine absichern wollte, so ist das im Grunde eine Art „Zeitbombe“. Wenn man alles einem ukrainischen bzw. proukrainischen Taucher vorwerfen wollte, der aber nicht mehr im Dienst steht, dann werden einfache Menschen in Deutschland (wie auch wohl in jedem anderen Land) sich fragen: Was, schon wieder die Ukraine? Die „ukrainische Spur“. Sie haben die Pipeline Nord Stream gesprengt, wegen der die Europäische Union laut der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (aber natürlich nicht nur wegen Nord Stream, sondern auch wegen der Probleme mit energetischen Rohstoffen) für die Energetik um 300 Prozent mehr zahlen muss. IEA-Chef Fatih Birol sagte vor kurzem, dass dies jetzt für immer und ewig  so bleiben werde, und dass es keine Rückkehr zu den alten Preisen geben werde, dank denen der energetische Wohlstand Europas, auch Deutschlands, gesichert war. Jetzt prahlte der deutsche Kanzler Olaf Scholz, dass die Deutschen den Winter überlebt haben, so dass der russische Plan nicht aufgegangen sei. Wir hatten aber keine solchen Pläne. Die andere Seite hatte ihre Pläne, und zwar sie wollte russisches Gas aufgeben. Den Winter haben die Deutschen überlebt, aber sie sagen nicht, was das ihren Haushalt und ihre Steuerzahler gekostet hat. Die Bundesbürger würden sofort fragen: Wozu brauchen sie denn diese Ukraine überhaupt? Wenn sie sie sprengen (egal wer das  war – ein aus dem Ausland finanzierter Agent Kiews oder irgendein Alleingänger), warum sollten sie  ihre Leopard-Panzer dorthin schicken und dieses Land in die Nato aufnehmen? Ich denke, da werden sich noch viel mehr Fragen stellen wegen dieses Versucht, die Wahrheit zu vertuschen.

Sie haben erwähnt, dass die Geheimdienste davor schon früher gewarnt hatten. Es gab einen Bericht des „Wall Street Journal“, dem zufolge die CIA die deutschen Geheimdienste noch im Juni und Juli 2022 vor der „ukrainischen Spur“ gewarnt und über die Vorbereitung dieser Aktion informiert hatte. Und die „Times“ teilte im September, also schon nach dem Anschlag, mit, dass eine Woche nach der Explosion festgestellt worden war, dass es sich um die „ukrainische Spur“ handelt. Also hatte man im Juni gewarnt, dass die Explosion verübt würde, und im September wurde festgestellt, dass es sie gegeben hatte. Wissen Sie, das alles wird lächerlich – erwachsene Menschen verhalten sich nicht so.

Frage: Vor einigen Monaten, als  ich in Washington war, sprach ich mit einem bekannten Kongressmitglied von der Republikanischen Partei. Er fragte mich etwas, was ich Sie fragen möchte. Er fragte nämlich, was Russland im Gegenzug tun könnte. Könnte es irgendwelche negativen Folgen für die Vereinigten Staaten seitens Russlands geben?

Ich muss Ihnen bestimmt nicht erzählen (Sie kennen ja selbst Amerika und politisches Washington bestens), dass man dort weniger an die Qualität der russischen Argumente nachdenkt und mehr daran, wie konkret die Folgen für die USA sein könnten. Wenn es keine objektive Ermittlung geben wird, von der Sie gesprochen haben (das ist durchaus möglich), wenn Russlands Anfragen ohne Antwort bleiben, dann kann man behaupten, dass Russland auf  diesen Fakt des Terrors, der unsere grundsätzlichen Interessen getroffen hat, so oder so antworten könnte?

Sergej Lawrow: Sie können sich gar nicht vorstellen, wie heiß ich darauf bin…

Frage: Doch, ich verstehe das natürlich. Deshalb frage ich Sie auch. Ich muss es versuchen.

Sergej Lawrow: Ich stehe an der Spitze unseres Auswärtigen Amtes. Wir haben unsere Methoden. Ich will jetzt aber keine Prognosen abgeben oder raten.

Nach der Auflösung der Sowjetunion ist in Amerika die Sowjetologie verschwunden. Sie sind wohl einer der größten Experten auf  diesem Gebiet und Vertreter dieser Wissenschaft.

Frage: Vertreter der aussterbenden Wissenschaft.

Sergej Lawrow: Ja. Sowjetologen (oder auch Russologen) hätten eigentlich auch weiter gefragt bleiben sollen, doch das ist nicht passiert. Aber inzwischen greift man, soweit ich verstehe, wieder auf ihre Ratschläge und Empfehlungen zurück.

Wir haben viele russische Sprichwörter, die Sowjetologen eigentlich hätten kennen müssen: „Du musst siebenmal messen und einmal abschneiden“, „Der russische Mann sattelt das Pferd lange, fährt aber schnell“ usw. Ich will natürlich niemandem drohen und auch nichts andeuten. Ich weiß aber, dass dieser gröbste terroristische Angriff nicht ohne Ermittlung bleiben wird. Falls eine objektive, unvoreingenommene und transparente Ermittlung (bei der es nicht nur darum gehen würde, dass die Schweden, Dänen und Deutschen etwas selbst beschlossen hätten, und damit wäre der Fall erledigt) blockiert werden sollte, dann werden wir es uns natürlich überlegen müssen, wie wir dem Westen auf diese direkte Attacke (im Grunde auf dieses Attentat) gegen unser Eigentum antworten könnten.

Frage: Es gibt noch ein russisches Sprichwort. Ich will Sie nicht provozieren, aber sie ist in dieser Situation durchaus anwendbar. Sagen Sie, wenn das nicht stimmt. Hier ist dieses Sprichwort: „Wie du mir, so ich dir“.

Sergej Lawrow: Ja, natürlich.

Frage: Lassen Sie uns mit einem angenehmeren Thema befassen. Indien. Wenn man in Washington sich damit unzufrieden zeigt, was mit den antirussischen Bestrafungssanktionen getan worden ist, zeigt man sich vor allem mit China unzufrieden. Allerdings war das auch durchaus vorhersagbar. Besonders enttäuschend ist für die Amerikaner die Position Indiens, das seinen Handel mit Russland erweitert  und sich geweigert hat, am Sanktionsdruck teilzunehmen. Andererseits hat Indien seine eigenen Interessen, die in erster Linie sogar nicht mit den USA, sondern mit der Europäischen Union verbunden sind. Wie könnten Sie den Kurs Indien in den Beziehungen mit Russland beschreiben, besonders im Kontext der Ukraine-Krise?

Sergej Lawrow: Indien verfolgt seine eigenen Interessen – wie auch jedes normale Land. Natürlich setzt der Westen Indien (neben China) als immer stärker werdende asiatische Großmacht immer mehr unter Druck, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet der Westen seine außenpolitischen Strategien verkündet, die gegen jemanden gerichtet sind. Wir tun so etwas nicht. Wir sind dafür, alles im Rahmen der multipolaren Welt, unter Berücksichtigung der Interessenbilanz, des Völkerrechts getan wird.

Der Westen erklärt, dass sein außenpolitischer Kurs auf Eindämmung Russlands und Chinas, auf Mobilisierung anderer Länder gegen Russland und China ausgerichtet ist. Das ist ein unglaubliches Merkmal unserer westlichen Kollegen in der aktuellen historischen Phase. Aber eigentlich haben sie in allen historischen Phasen so gehandelt. Indien wird von allen Seiten „hofiert“. Darin sieht man ein Gegengewicht zu China, wenn man die historischen Probleme zwischen Delhi und Peking bedenkt, insbesondere im Grenzraum. Wir als Russland bemühen uns darum, ihnen bei der Lösung  der Probleme und bei der Überwindung ihrer Kontroversen zu helfen.

Gerade zu diesem Zweck trat mein großer Vorgänger Jewgeni Primakow vor mehr als 20 Jahren mit der Initiative zur Bildung der RIC-Dreiergruppe (Russland-Indien-China) auf – damals wurde diese ganze Konzeption der multipolaren Welt formuliert. Zu ihrer diplomatischen Verkörperung wurde eben die RIC-Bildung. Über RIC wird inzwischen nicht so viel gesprochen, denn auf ihrer Basis BRICS entstanden ist. Und jetzt zieht dieses Bündnis  die ganze Aufmerksamkeit  der Kräfte auf sich, die die Etablierung der neuen Machtzentren beobachten. Aber auch RIC funktioniert weiter – es haben bereits mehr als 18 Außenministertreffen stattgefunden; auch Experten für andere Bereich treffen sich: für Landwirtschaft, Hochtechnologien, Energiewirtschaft, Weltraumforschung usw. Im Rahmen der RIC-Gruppe bemühen wir uns um die Unterstützung Indiens und Chinas. Wir bieten ihnen eine zusätzliche Plattform neben der BRICS und der SOZ (wo Indien neben Pakistan mittlerweile  vollberechtigtes Mitglied geworden ist). Wir gehen davon aus, dass je mehr Kontakte diese beiden Länder haben, desto günstiger ist es dafür, dass diese beiden Großmächte, diese beiden Zivilisationen alle ihre Probleme vom Tisch räumen.

Der Westen steht auf der entgegengesetzten Position und verfolgt das Ziel, Indien gegen China zu hetzen. Unsere indischen Freunde verstehen das sehr gut. Sie sagen uns offen, dass sie diese Versuche suchen und die wahren Ziele einsehen, die die  Nato verfolgt, indem sie  neben dem Euroatlantik auch den Indo-Pazifischen Raum zu ihrem Verantwortungsgebiet erklärt hat. Die Nordatlantische Allianz versucht, um jeden Preis in diesen Erdteil zu geraten – durch die Bildung des AUKUS-Blocks. Sie wollen ihn jetzt erweitern, indem noch Japan und Südkorea sich den drei angelsächsischen Ländern anschließen sollten. Sie versuchen auch, das ASEAN zu spalten. Unter den zehn ASEAN-Ländern wurden fünf bestimmt, die angesichts ihrer Vorgehensweise nachgiebiger wären. Es werden auch viele andere Maßnahmen ergriffen, wobei diverse Mechanismen ersetzt werden, unter anderem der Mechanismus  der Seesicherheit, die  für diese ganze Region universal sind. Im Rahmen der Ostasien-Gipfel (an denen sich das ganze ASEAN sowie Russland, China, Indien, die USA, Australien, Neuseeland, Korea und Japan beteiligen) wurde das alles besprochen.

Jetzt versucht man, aus diesem universalen Format (wo man mit allen Akteuren verhandeln muss) das Thema Seesicherheit  auszusondern und es in einem engeren Format zu behandeln, wo es China, Russland und mehrere andere Länder nicht geben würde. Es wurde QUAD gegründet, wohin Indien eingeladen wurde (Indien, USA, Japan, Australien). Wenn wir dieses Thema besprechen, sagten unsere indischen Kollegen, dass sich an QUAD ausschließlich zwecks Umsetzung ihrer Wirtschaftsprojekte beteiligen. Natürlich versuchen die USA dabei (sie machen auch kein Hehl daraus), Indien zu überzeugen, die antirussischen Sanktionen zu unterstützen, Russland die Nutzung von indischen Ressourcen sowie seiner Logistik zwecks Umgehung der westlichen Sanktionen zu verweigern. Aber Indien akzeptiert das nicht.

Im Westen ist inzwischen eine neue  Welle der Hysterie hochgestiegen, weil Russland selbst unter den aktuellen Bedingungen seinen Außenhandel ausbaut – und damit  ist man unzufrieden. Es wird eine neue Strategie zur Unterbindung von jeglichen Kanälen zur Umgehung der Sanktionen erarbeitet. Man sagt also nicht mehr: „Wir haben Sanktionen gegen Russland verhängt und rufen Sie alle auf, dasselbe zu tun.“ Nein, es geht inzwischen um ein Verbot auf Selbstständigkeit. Die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, gefragt, was sie davon hält, dass zwei iranische Kriegsschiffe den Hafen Rio de Janeiro besucht haben. Sie sagte darauf, das sei beunruhigend, aber jedes souveräne Land dürfe immerhin selbst entscheiden, mit wem es Kontakte pflege. Das ist richtig. Aber warum wird dieses Prinzip nicht zu den Beziehungen all der Länder mit Russland angewandt, die gegen die Sanktionen sind? Warum wird ihnen verboten, absolut legitime Kontakte mit Russland zu pflegen? In der Wirtschaft, im Investitionswesen, bei der Umsetzung von Verkehrsprojekten… Denn alle sehen das – nichts bleibt unbemerkt.

Die meisten Länder wollen keine Konflikte mit dem Westen haben und mit ihm polemisieren, aber manche solche Stimmen sind trotzdem zu hören. Der Präsident Frankreichs, Emmanuel Macron, hat neulich die Demokratische Republik Kongo besucht, wo ihm sein Amtskollege Félix Tshisekedi erläutert hat, wie man mit  den Partnern aus Afrika höflich sprechen sollte, selbst wenn sie aus historischer Sicht erst vor kurzem unabhängig geworden sind und zuvor Kolonien gewesen waren, insbesondere französische. Ich kann mir schlecht vorstellen, wie diese negative Einstellung, die sich wegen des Diktats  und der Hegemonie  des Westens anhäuft, sich von selbst auflösen könnte.

Frage: Es ist jetzt  kaum vorstellbar, wie die Situation um die Ukraine geregelt werden könnte. Allerdings wissen wir aus der Geschichte, dass Konflikte entweder in eine militärische Eskalation und den Sieg einer der Konfliktseiten ausarten (was ziemlich schwer vorstellbar wäre) oder in dieser oder jener Form ziemlich lange dauern und dann nicht unbedingt mit einem formellen Frieden enden, aber mit  der Entstehung einer neuen Weltordnung. Dafür gab es ja etliche Beispiele. Dabei kann die neue Weltordnung gar nicht so sein, wie die Konfliktseiten gehofft hatten.

Es entsteht der Eindruck, dass wir neben der Bedeutung der Ukraine, der Unzufriedenheit im Westen (vor allem in Washington) mit der unabhängigen Politik Russlands eine Sackgasse im Kontext der Entwicklung der Weltordnung erreicht haben, die  sich auf die Dominanz des Westens nicht nur im geopolitischen, sondern auch im kulturellen und zivilisatorischen Sinne stützt.

Ich versteht, dass das eine unfaire Frage ist, denn Sie sind Außenminister und nicht über zivilisatorische Probleme spekulieren wollen, aber trotzdem: Haben Sie den Eindruck, dass wir kurz vor einem fundamentalen Abriss, vor einer Rekonstruktion des ganzen internationalen politischen Systems stehen?

Sergej Lawrow: Wenn wir über Folgen und mögliche globale Aspekte der Ukraine-Krise reden, ist das Wort „Abriss“ durchaus angebracht. Ich erwähnte schon häufiger bei meinen Auftritten, dass sich gerade eine neue multipolare Weltordnung etabliert. Dieser Prozess wird nicht so schnell enden, wird aber eine neue historische Epoche bedeuten. Davon bin ich überzeugt.

Die globalen Positionen des Westens sind wesentlich schwächer geworden, aber gleichzeitig bleibt er auf Gebieten wie Wirtschaft, Technologien, Militärwesen nach wie vor stark. Diese relative Schwächung seiner Positionen versucht er, durch seine zunehmende Aggressivität (vor allem im militärpolitischen Bereich) und durch die Unterdrückung der Konkurrenz mit illegitimen Methoden auszugleichen.

Es geht gerade um die „Regeln“, auf deren Basis der Westen seine eigene Weltordnung gründen will, die er kontrollieren würde. In Georgien dürfen die Demonstranten alles und in Moldawien nichts. Die Vergiftung in einer iranischen Schule sollte auf internationaler Ebene ermittelt werden, und die Ermittlung  der Explosionen an den Nord Stream-Pipelines wäre ein „Nonsens“. Iranische Schiffe haben einen brasilianischen Hafen besucht, und das ist schlecht, aber souveräne Länder dürfen sich selbst Partner aussuchen. Warum sollte dieses Prinzip nicht auch für die Beziehungen zwischen Indien sowie anderen Ländern mit Russland gelten?

Zum jüngsten Beispiel dieser Art wurde James Cleverly, der aktuell an der Spitze des Foreign Office im Vereinigten Königreich steht. Vor einigen Tagen hat er gesagt, die Falklandinseln gehören Großbritannien, weil deren Einwohner sich dafür ausgesprochen hätten. Aber auch auf der Krim hatten sich die Einwohner dafür ausgesprochen, wieder Teil Russlands zu werden! Und solche Beispiele gibt es jede Menge!

Und gerade deshalb fragen wir unsere amerikanischen, europäischen, britischen Kollegen: Wenn sie alle von der „Weltordnung auf Basis von Regeln“ reden, könnten sie diese „Regeln“ zeigen? Nein.  Genauso kann man nirgendwo die Liste von Namen der Menschen sehen, deren Leichname am 3. April 2022 in Butscha bei Kiew gezeigt wurden, wobei man das Massaker dort Russland vorgeworfen hat. Und unter diesem Vorwand wurden sofort weitere Sanktionen verhängt! Wir verlangen nach wie vor, dass die Namen der Opfer veröffentlicht werden, und von einer Ermittlung kann inzwischen nicht einmal die Rede sein, genauso wie übrigens von einer Ermittlung des Verbrechens am 2. Mai 2014 in Odessa, wo 50 Menschen lebendig verbrannt wurden. Dabei gibt es Videos, auf denen die Personen, die das getan haben, zu sehen sind.

Niemand wird auch die Ergebnisse der Ermittlung des Zwischenfalls in Salisbury im Jahr 2018 sowie Dokumente präsentieren, die die angebliche „Vergiftung“ Alexej Nawalnys 2020 beweisen würden. Deutschland sagte, es könne sie nicht uns zur Verfügung stellen. Die Erläuterung war einfach faszinierend: Als Nawalny in ein ziviles Krankenhaus gebracht wurde, konnte man nichts entdecken. In einem Militärkrankenhaus wurde jedoch etwas entdeckt. Wir fragten nach den Ergebnissen der Analysen, doch die Deutschen erwiderten, sie können sie uns nicht bereitstellen, denn dann würden wir das Niveau ihrer Kenntnisse auf dem Gebiet der Biosicherheit verstehen.

Bei solcher Ordnung, bei solchen Regeln kann man nicht leben, wie man an den letzten Tagen der Sowjetunion zu sagen pflegte.

Frage: Ich bin sicher, dass Moskau keine Eskalation will und an einer vernünftigen Regelung des Ukraine-Problems interessiert ist, die die fundamentalen Interessen Russlands berücksichtigen würde. Habe ich Recht: Selbst wenn das möglich wäre und passieren würde, würde das keineswegs bedeuten, dass wir in die Welt zurückkehren würden, die in der Zeit nach dem Kalten Krieg  bestand, und dass Russland auf einer fundamental anderen Weltordnung bestehen würde?

Sergej Lawrow: Eine Rückkehr zur alten Weltordnung kann es nicht geben. Der Westen sagt auch, dass ein „Business as usual“ ausgeschlossen ist. Davon muss man uns nicht überzeugen. Wir haben schon längst alles verstanden und entsprechende Schlüsse gezogen. Die Welt hat aus der Geschichte zwischen beiden Weltkriegen nichts gelernt. Wir, unsere Spitzenpolitiker, haben nie auf offizieller Ebene die Verbündetenbeziehungen, dank denen wir Hitler bezwingen konnten, infrage gestellt. 

Viele Forscher, Politiker, Oppositionellen schrieben, dass das Leih- und Pachtgesetz uns nicht so sehr geholfen hätte, dass die zweite Front erst dann eröffnet worden wäre, als schon klar war, dass die Sowjetunion auch aus eigener Kraft siegen würde. Man verwies darauf, dass Frankreich und England noch vor dem Molotow-Ribbentrop-Pakt mit  Hitler über den Nichtangriff verhandelt hätten, um ihn dazu zu bewegen, nach Osten zu gehen. Die Geschichte befasst sich mit der Erforschung von all diesem. Aber wir haben nie, in keiner einzigen Rede unserer Spitzenpolitiker (auch in den Reden des Präsidenten Russlands am 9. Mai am Roten Platz), es uns erlaubt, die Verbündetenbeziehungen infrage zu stellen, dank denen wir Hitler bezwungen haben.

Dabei hatten unsere westlichen Kollegen noch lange vor den aktuellen Ereignissen in der Ukraine offiziell gerade das gemacht, indem sie der Sowjetunion und Hitler gleichermaßen die Schuld gaben. Ihnen zufolge hätte der Molotow-Ribbentrop-Pakt den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Und dass Paris und London ein Jahr zuvor mit Hitler über dasselbe verhandelt hatten, wird gar nicht erwähnt. Auch das „Münchner Komplott“ und die Rolle Polens in der damaligen Situation sind auch tabu. Und die zweite Front gilt im Westen schon seit langem als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs.

Als in Amerika 2020 der 75. Jahrestag des Sieges gefeiert wurde, wurde dort eine Gedenkmünze geprägt, die dem Sieg gegen den Faschismus gewidmet war. Dort wurden drei Flaggen eingraviert: die amerikanische, die britische und die französische – aber keine sowjetische bzw. russische! Und es wurde nicht einmal erwähnt, das außer den drei Ländern noch jemand gegen Hitler gekämpft hatte.

Dasselbe kann ich auch über Deutschland noch lange vor den aktuellen Ereignissen sagen. Bei unseren Gesprächen mit den deutschen Partnern bemerkten wir auf verschiedenen Ebenen die klare Idee: „Liebe Freunde, Deutschland hat alle seine Schulden bei allen längst beglichen. Wir sind niemandem mehr etwas schuldig.“

Wenn ich an all das denke, verstehe ich, dass dies keine einzelnen Episoden waren bzw. sind, die miteinander nichts zu tun hatten. Der Abriss von Denkmälern, die Kundgebungen zu Ehren der Veteranen von Waffen SS in den Baltischen Ländern, die neonazistischen bzw. nazistischen Abteilungen in der Ukraine… Alle unsere Aufrufe, solches Vorgehen zu verurteilen und eine Wiederbelebung des Faschismus zu verhindern, wurden ignoriert. Bei den Schlüssen, die wir jetzt ziehen, befassen wir uns unter anderem mit der Version, die darin besteht, dass Europa wieder den Nazismus braucht, um ihn entweder gegen uns zu richten oder als Mittel zur Eindämmung Russlands einzusetzen, damit es sich nicht als eigenständige Macht etablieren kann.

Ich weiß nicht, wie die neue Weltordnung sein wird. Wir waren ehrlich, als wir die Dokumente unterzeichneten, in denen die Prinzipien verankert wurden, denen wir treu bleiben. Aber der Westen hat sie zertreten. Das sind die Unteilbarkeit der Sicherheit, die Unzulässigkeit der Festigung der eigenen Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer, die Unzulässigkeit von Situationen, wenn ein Land bzw. eine Organisation die Dominanz in der internationalen Arena beanspruchen würde. Das ist alles, was seit  1999 in der OSZE unterzeichnet wurde. Dann hat man darauf gepfiffen und gesagt, dies wären „politische Verpflichtungen“. Ja, aber sie wurden von Präsidenten, Kanzlern, Ministerpräsidenten unterzeichnet. Die Unteilbarkeit der Sicherheit  ist ein Synonym für die Interessenbalance, wenn du darüber verhandeln musst, wie du weiter lebst, ohne die anderen zu zwingen, dir jeden Monat  Rede und Antwort zu stehen, mit wem sie handeln, ob sie keine Verbote verletzt haben, indem sie im Rahmen des globalen Handelssystems vorgehen.

Warum will man die Welthandelsorganisation reformieren? Weil die Prinzipien, auf  die sie sich bis zuletzt stützte und die vor allem von den Amerikanern, Engländern und deren Verbündeten formuliert wurden, ihnen nicht mehr passen. China hat auf Basis dieser Prinzipien wesentlich mehr erreicht als der Westen. Es hat sie im Sinne ihrer eigenen Regeln ausgespielt. Und jetzt wurde die Arbeit der WTO blockiert. Die Amerikaner ergreifen diskriminierende Maßnahmen gegen chinesische Waren. China wendet sich absolut gerechtfertigt an das entsprechende Schiedsgericht, doch die Amerikaner behindern schon seit Jahren seine Arbeit. Sie blockieren die Ernennung von Personen, die für ein Quorum erforderlich sind. Das ist ja nichts als „Kleinrowdytum“! Jetzt haben sie beim G20-Treffen in Indien verlangt, die WTO zu reformieren. Wer wird denn schon dagegen sein, wenn sie nicht funktioniert!

Was die neue Weltordnung, die neue Architektur angeht, so höre ich bei uns oft die Stimmen: Was machen wir denn überhaupt noch in der WTO?! Wir hatten 17 lange Jahre die Verhandlungen geführt und sich Schutzmaßnahmen für unsere damals noch nicht so gut entwickelten Industrie- und Dienstleistungsbranchen ausgehandelt. Und jetzt hat man uns gesagt, dass wir nach den WTO-Normen zwar handeln dürfen, aber in der Organisation gibt es noch eine Klausel, laut  der ein Land, das eine Situation für gefährlich für seine Sicherheit hält, alles tun darf, was es will. Deshalb ist es zwecklos, vor Gericht zu ziehen.

Ähnlich sehen wir und unsere Kollegen von der Regierung und den Wirtschafts- bzw. Finanzstrukturen die Situation um die Bretton-Woods-Institutionen. Diese waren auch die „Kreatur“ der USA. Als wir nach der Auflösung der Sowjetunion sich ihre künftige Situation in der Welt überlegten, war eine von unseren Aufgaben, sich der Struktur der zivilisierten Gesellschaft anzupassen. Aber jetzt hat sie, vertreten durch den IWF und die Weltbank, unsere Beiträge auf Eis gelegt.  Unsere Versuche, zu verstehen, was wir weiter zu tun haben, bleiben vorerst erfolglos. Wir wären wohl bereit, unsere Beiträge für einen guten Zweck auszugeben, zumal die Weltbank viele Programme zur Unterstützung von Entwicklungsländern hat. Aber unsere auf Eis gelegten Mittel in der Weltbank dürfen nicht einmal dafür verwendet werden. Von einer Gerechtigkeit müssen wir erst gar nicht reden.

Wir haben die Aussagen der chinesischen Führung ein Jahr nach dem Beginn unserer militärischen Sonderoperation nicht übersehen können. China plädiert für den Frieden. Wir wissen seine Aufrufe zum Respekt für die UN-Charta hoch zu schätzen und treten von derselben Position auf. Wir deuten sie nicht selektiv, sondern als Ganzes, wobei es unter anderem  um die Unzulässigkeit der Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker geht.

China unterstreicht in den letzten Jahren das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit bezüglich der globalen Landschaft. Nicht nur in Europa, wie es 1999 ausgerufen wurde. Ich denke, das stimmt philosophisch mit unserer Vorgehensweise voll und ganz überein. Wir werden gemeinsam mit unseren chinesischen Freunden unsere Aktivitäten in der internationalen Arena koordinieren und davon ausgehen, dass die Unteilbarkeit der Sicherheit in juristisch verbindlichen Dokumenten verankert werden sollte. Im Prinzip gibt es ein solches Dokument, und zwar die UN-Charta. Dort ist die souveräne Gleichheit der Staaten verankert. Aber sie wird nur schlecht praktisch umgesetzt.

Angesichts dessen müssen wir nicht nur darauf bestehen, dass alle Länder sich an den ursprünglichen Zielen und Prinzipien der UN-Charta richten und außerdem sich darum bemühen, dass die UNO selbst, vertreten durch ihr Sekretariat, ihre Sondereinrichtungen, Fonds und Programme, die Realität der multipolaren Welt widerspiegelt und bei ihrer Arbeit nicht allzu stark von der „goldenen Milliarde“, also der globalen Minderheit behindert wird.

 

 

 

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