Antworten des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, in der Sendung „Bolschaja Igra“ des TV-Senders „Perwy Kanal“ am 25. April 2020 in Moskau
Marina Kim: Das ist die TV-Sendung „Bolschaja Igra. Diplomatie während der Pandemie“. Gibt es Raum für internationale Kontakte in einer Welt, die von der Selbstisolation ergriffen ist? Wie wandelt sich die Außenpolitik unter dem Druck des Coronavirus? Bei uns ist heute der Außenminister Russlands, Sergej Lawrow. Guten Tag!
Sergej Lawrow: Guten Tag!
Wjatscheslaw Nikonow: Herr Lawrow, hier sprechen wir nicht nur über Coronavirus, sondern auch erinnern uns daran, was vor 75 Jahren war. Die Geschichte war damals sehr stark zusammengepresst. Am 25. April 1945, vor genau 75 Jahren, wie in Jalta vereinbart wurde, versammelte sich die erste Sitzung der Vereinten Nationen. Am selben Tag trafen sich die Truppen der 1. Ukrainischen Front von Iwan Konew und die Truppen der 12. Armeegruppe von Omar Bradley an der Elbe bei Torgau. Damals wurde die UNO ins Leben gerufen.
Jetzt erinnern sich die Nationen auf der einen Seite an dieses Ereignis, es wird, wie wir wissen, der Gipfel der Gründerstaaten der UNO vorbereitet. Zugleich wird immer öfter darüber gesprochen, dass die Coronavirus-Krise dazu führte, dass die Menschheit zunehmend zersetzt wird, dass jeder Staat für sich selbst ist und es keine internationalen Anstrengungen, die zum Kampf gegen Coronavirus erforderlich sind, zu erkennen sind. Wie schätzen Sie die Situation aus der Sicht der Tätigkeit der internationalen Gemeinschaft ein?
Sergej Lawrow: Das ist die Hauptfrage bei allen Diskussionen, die jetzt bei uns, im Ausland, in der UNO, im Rahmen der politologischen Zentren laufen. Ich bin davon überzeugt, dass wir bislang nicht über alle Fakten verfügen, die eine umfassende Schlussfolgerung ermöglicht, was geschah und welche Lehren daraus zu ziehen sind. Klar ist eins – die Tendenzen, die sich in den letzten einigen Dutzend Jahren angehäuft haben, beschleunigten sich wegen der Covid-19-Pandemie und verschärften sich. Sehen sie zumindest, was zwischen den USA und China vor sich geht. Die Briten, Australier, mehrere europäische Länder unterstützen aktiv die USA, wobei von China beinahe eine Entschädigung gefordert wird, wobei mit Beschlagnahmung des Vermögens und Konten gedroht wird, damit Peking für die „Fehler“, die ihm in den ersten Monaten der Ausbreitung dieser Infektion vorgeworfen werden, zahlt.
Sehen sie, was innerhalb der EU vor sich geht, wo erbitterte Streitigkeiten darüber laufen, wer für alles zahlen und die entscheidende Rolle übernehmen wird. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung – es ist eine stark zunehmende Rolle der Nationalstaaten zu erkennen. In jedem Teil der Welt, wo es Integrationsvereinigungen gibt oder nicht, übernehmen Nationalstaaten die Hauptrolle bei der Gewährleistung der Sicherheit ihrer Staatsbürger. Diese Tendenz ist natürlich nicht hundertprozentig, es gibt auch Streben, gemeinsame Anstrengungen in der EU aufzunehmen. Ich würde auch die Aufmerksamkeit erwähnen, die unseren gemeinsamen Aufgaben des Kampfes gegen diese Drohung in der EAWU gewidmet wird. Dennoch überwiegt das Streben der Nationalstaaten, mehr mit sich selbst zu rechnen. Das widerspiegelt wohl auch nicht nur das aktuelle Problem der Überwindung der Pandemie, sondern auch bestimmte Müdigkeit, darunter in der EU, dass sich die multilaterale übernationale Bürokratie häufig als zu belastend verhält. Im Rahmen der EAWU bemühten wir uns immer, das zu verhindern und nach Konsens- und Kompromiss-Herangehensweisen zu suchen. Dennoch muss ich sagen, dass das nicht immer gelingt. Das ist die erste Tendenz, die ich betonen möchte.
Die zweite – der Einfluss auf die Weltwirtschaft, die Trennung von vielen Wirtschaftsverbindungen (rein physische Trennung in vielen Richtungen), der Rückgang des BIP, Schock für viele nationale Wirtschaften, wenn nicht für die Mehrheit, und die Weltwirtschaft im Ganzen. Natürlich sollen wir darauf aufmerksam machen, dass das alles durch das Wachstum der Konflikte, Vertrauensmangel begleitet wird. Wir beobachten deutlich mehr Versuche, zu unlauterem Wettbewerb, einseitigen Spiel, Handlungen im Sinne jeder für sich selbst zu greifen. Doch die Schädlichkeit dieser Versuche wird meines Erachtens schon eindeutig für alle internationalen Akteure. Ich will sehr hoffen, dass im Ergebnis das Verständnis dominiert, dass man nur gemeinsam diese Drohungen bekämpfen kann, die die Grenzen zwischen den Staaten nicht kennen. Die Pandemie verbreitet sich unabhängig von Kontinenten, Klima, davon, bei welchen Temperaturen sich Menschen derzeit befinden, unabhängig von Währungsreserven bzw. Atomwaffen eines jeweiligen Landes. Deswegen ist unser Kurs, den wir seit langem verteidigen, auf den Schutz der Gleichberechtigung aller Staaten, Prinzipien und Ziele der UN-Charta gezielt, wo die Forderungen des Respektes der souveränen Gleichheit, friedlichen Mittel zur Regelung der Streitigkeiten festgelegt sind – er soll unter Bedingungen sehr gefragt sein, wenn man die aktuelle und andere ähnliche Krisen nicht ohne gegenseitige Unterstützung, Respekt der kulturell-zivilisatorischen Vielfalt der modernen Welt, Respekt des Rechtes der Länder, selbstständig ihr Schicksal zu bestimmen und Anstrengungen auf dieser Grundlage und nicht auf Grundlage von „Führendem“ und „Geführtem“ zu unternehmen, überwinden kann. Vielleicht klingt das für einige idealistisch, romantisch, doch ich bin davon überzeugt, dass das die Grundlage der ernsthaften Politik werden soll.
Wjatscheslaw Nikonow: In Washington befindet sich unter den Bedingungen einer strengen Selbstisolation im Zentrum der weltumspannenden Pandemie Dimitri Simes, der die wichtigsten Ereignisse der Welt- und US-Politik verfolgt, auf. Bitte sehr.
Dimitri Simes: Ich bin natürlich vom Studio in Moskau isoliert, doch wir schaffen es hoffentlich konstruktiv zu sprechen. In Washington gibt es keine besondere Isolation. Als ich heute morgen aufwachte, wartete ich mit Ungeduld auf Nachrichten, ob das Repräsentantenhaus der USA 480 Mrd. Dollar Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen bereitstellt, doch ich kann diese Informationen nicht bekommen. Das Repräsentantenhaus befasste sich mit ganz anderen Sachen – bestimmte die Parameter der Untersuchung gegenüber US-Präsident Donald Trump bezüglich neuer Vorwürfe wegen Verbrechen und Missbrauch. Es stellt sich heraus, dass er falsch gegen die Pandemie kämpft.
Es gibt auch gute Nachrichten. Im letzten Moment stimmte das Repräsentantenhaus für die Bereitstellung der Mittel für Unterstützung der US-Wirtschaft. Wie sie wissen, ist die Situation in den USA aus der Sicht der Medizin und Wirtschaft sehr ernsthaft. Heute wurde eine wichtige Marke überschritten – 50.000 Amerikaner sind gestorben. Jeder sechste Amerikaner hat keinen Job, mehr als 26 Mio. Menschen beantragten Arbeitslosenhilfe. Heute am Morgen sagte die Bürgermeisterin Washingtons, dass sie mit Donald Trump absolut nicht einverstanden ist, dass das Licht am Ende des Tunnels zu sehen sei. Sie sagte, dass es noch schlimmer sein wird und der größte Schlag durch Pandemie gegen Washington erst Mitte Mai versetzt wird.
Ich hörte Ihre Erklärungen davon, was in der Welt von sich geht. Man will sehr ihnen nicht zustimmen, doch das ist schwer. Wir leben in einer zerstrittenen Welt. Um gegen Pandemie irgendwie zu kämpfen, sollen wir eigene nationale Maßnahmen ergreifen – das ist wohl die einzige mögliche Reaktion. Russland trifft Isolationsmaßnahmen nicht nur gegenüber den westlichen Ländern (und auch Westen gegenüber Russland), sondern auch Russland und China müssen zu entsprechenden Isolationsmaßnahmen greifen. Das ist zwar traurig, doch vernünftig. Wir sahen, wie die erste Reaktion auf Pandemie war. Das ist wie in der ersten Woche des Kriegs – als die Pandemie einen Angriff versetzte, war niemand dazu wirklich bereit. Deswegen ist Verzweiflung zu erkennen, oft funktionieren die schlimmsten Instinkte. Sehen Sie in ihren Gesprächen (auch wenn informellen) mit den Anführern der USA, EU irgendwelche Merkmale des Interesses daran, Spielregeln zu ändern und irgendwelche gemeinsame Lösungen zu finden? Oder sieht das bis heute ziemlich finster aus?
Sergej Lawrow: Wenn man Pandemie als größten Gegenstand der Verhandlungen nimmt, die heute geführt werden, gibt es ein ernsthaftes, aktives Streben nach der Aufnahme der internationalen Kooperation. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür. Die UN-Vollversammlung verabschiedete kurz nach Beginn der Ausbreitung dieser Erkrankung eine Resolution mit Ausdruck der Solidarität beim Kampf gegen Coronavirus, danach noch eine, wo bereits konkrete Aufgaben gestellt wurden, die darauf gerichtet sind, dass die Errungenschaften bei der Entwicklung der Gegenmittel gegen diese Bedrohung allen Ländern der Welt zugänglich würden. Ich denke, dass es ein wichtiges Prinzip ist. Wollen wir auch nicht daran vergessen, dass die G20 (trotz aller Widersprüche, die entstanden, dass einige versuchten zu bestimmen, wer schuld ist, ob man mit Finger auf einen bzw. einige Länder, WHO zeigen soll) entsprechende Beschlüsse traf. Wir gehen davon aus, dass diese Beschlüsse jedoch das Interesse aller führenden Staaten und wohl aller Länder der Welt im Ganzen zeigen, um die Anstrengungen zu vereinigen.
Sie haben absolut Recht, die Quarantäne-Maßnahmen zur Nichtzulassung der großen und fernen Bewegungen der Menschen sind gerechtfertigt und sollen getroffen werden, vor allem auf nationaler Ebene. Dabei werden Grenzen zwischen den Staaten wie auch Grenzen zwischen Häusern und Wohnungen, Straßen und Plätzen in jedem Land kontrolliert. Ich würde nicht darin eine lange Tendenz sehen. Obwohl sich zeigte, dass die Möglichkeiten der multilateralen Strukturen im Vergleich zur Operativität und Entschlossenheit der nationalen Staaten natürlich in diesem Wettbewerb verlieren.
Dennoch will man nicht, dass dieses Streben nach Vereinigung der Anstrengungen politisiert wird. Ich beobachte die Merkmale dieser Politisierung bei Angriffen auf WHO, in denen meines Erachtens die Versuche zu erkennen sind, bestimmte Handlungen, die zu verspätet, nicht ausreichend waren, zu rechtfertigen. Ich denke, dass die WHO, die gemäß ihrer Satzung als leitendes und koordinierendes Organ bei Gesundheitsfragen vorgehen muss, ihre Rolle meistert. Natürlich nicht perfekt, doch niemand ist perfekt, wie Helden des großen Hollywood-Films „Manche mögen’s heiß“ sagten.
Wollen wir nicht daran vergessen, dass die WHO an sich Organisation ist, deren Tätigkeit die Staaten bestimmen und umsetzen. Bis zum letzten Zeitpunkt äußerten sie keine Ansprüche gegen sie. Wenn WHO-Sekretariat gemeint ist, würde ich ein paar Worte über die US-Kritik sagen. Die USA sind der größte Zahler in den Haushalt der WHO, sowie in die Haushalte der überwiegenden Mehrheit anderer UN-Organisationen. In diesem Sinne hat Washington das Recht, in den Sekretariaten, darunter in der WHO, auf einem deutlich höheren Niveau repräsentiert zu sein, als jene Länder, die geringere Beiträge in den Haushalt dieser Struktur zahlen. Wenn man also relative Zahlen nimmt, sind es unter Spezialisten, die die Tätigkeit des WHO-Sekretariats bestimmen, vor allem Staatsbürger der USA, darunter auf den leitenden Positionen. Ich habe Zweifel daran, dass die Amerikaner isoliert von ihrer Regierung in diesen Jahren arbeiten. Sie, wie Staatsbürger jedes anderen Landes, müssen unabhängig sein, doch kein Mitarbeiter des Sekretariats unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft, verzichtet auf Kontakte mit Delegationen der Mitgliedsstaaten, wenn sie irgendwelche Fragen haben.
Ich würde jetzt nicht „Haltet ihn fest!“ schreien und nach Schuldigen suchen, sondern mich vor allem auf die Maßnahmen für die Entwicklung von Impfstoffen konzentrieren – parallel mit Vorsichtsmaßnahmen, Selbstisolation, Quarantäne. Und erst dann (im Hinblick auf eine längerfristige Perspektive) würde ich daran denken, wie wir internationale Kontakte, das Zusammenwirken im Gesundheitsbereich vervollkommnen könnten.
Unsere französischen Kollegen, insbesondere mein Freund, Außenminister Jean-Yves Le Drian, reden bereits von der Notwendigkeit der Bildung eines hochrangigen Rats für Gesundheit von Menschen und Tieren, der der WHO helfen würde. In der Weltgesundheitsorganisation gibt es bereits die Praxis zum Zusammenwirken mit Wissenschaftlern. Wenn dieser Rat irgendwelchen „Mehrwert“ haben könnte, dann lassen Sie uns diesen Vorschlag erwägen. Ich möchte nicht, dass die Initiativen, die gerade geäußert werden, das Ziel verfolgen, diejenigen irgendwie zu beruhigen, die jetzt mit unbewiesenen Vorwürfen gegen die respektierte Weltorganisation auftreten.
Wjatscheslaw Nikonow: Herr Lawrow, Dimitri Simes hat gerade etwas gesagt, was mich in einem gewissen Sinne beinahe in Verlegenheit bringt: Sie haben informelle Kontakte mit ausländischen Partnern. Sind jetzt überhaupt informelle Kontakte auf internationaler Ebene möglich, wenn man bedenkt, dass alle Kontakte online verlaufen und alle verstehen, dass sie nicht vertraulich sind? Wie können sie denn informell sein?
Bei der Diplomatie handelt es sich großenteils um den Austausch mit vertraulichen Informationen. Jetzt wird das praktisch unmöglich. Das ist ungefähr so, als würde man auf einen Platz im Stadtzentrum mit einem Sprachrohr gehen und dort Verhandlungen führen. Denn selbst wenn es irgendwelche geschlossenen Informationskanäle gibt, weiß man nie, wer am anderen Ende der Leitung sein wird. Einerseits ist klar, dass es in einer gewissen Hinsicht leichter wird, so dass man mehr internationale Kontakte gleichzeitig pflegen kann. Wir beobachten ihre Intensivierung, unter anderem im multilateralen Online-Format. Es ist klar, dass Sie jetzt mehr Möglichkeiten haben, sich zu Hause auszuschlafen – und nicht im Flugzeug. Das ist natürlich ein großer Vorteil auch für die russische Diplomatie. Andererseits kann man nicht mehr wirklich unter vier Augen sprechen. Das spielt wohl eine gewisse Rolle, nicht wahr? Was ist für Sie aktuell die Online-Diplomatie?
Sergej Lawrow: Herr Nikonow, Sie haben gerade alles aufgezählt, was mit der jetzigen Zeit in den diplomatischen Kontakten verbunden ist. Natürlich lässt uns das die Möglichkeiten besser begreifen, die uns die modernen Technologien bieten; wir können berücksichtigen, dass es sie gibt und dass sie für dringende Kontakte tauglich sind, wenn man seinen Partnern etwas auf der Stelle mitteilen oder von ihnen gewisse Informationen bekommen muss. Sie haben absolut Recht: Möglicherweise werden sie auch deshalb informell genannt, weil sie kaum mit irgendwelchen ernsthaften Vereinbarungen enden können, für die vertraulichere Gespräche nötig sind. Ich meine vor allem direkte Kontakte zwischen Diplomaten, insbesondere unter vier Augen. Wir werden wohl nicht große Geheimnisse besprechen (selbst im realen Leben), werden keine Verschwörungen schüren. Aber manchmal können Informationen, die mit diesem oder jenem Partner geklärt werden müssen, nicht öffentlich besprochen werden. Um eine richtige Linie in Bezug auf diverse Probleme im Sinne der Völkerrechtsnormen zu erarbeiten, müssen manchmal Dinge besprochen werden, die online lieber nicht erwähnt werden sollten.
Dimitri Simes: Herr Minister, ich habe eine undiplomatische Frage an Sie: Was Sie heute besprochen haben – Ihre Eindrücke und die Analyse der internationalen Situation, das ist wohl etwas, was Sie schon seit langem spürten und dachten. Sie und Präsident Putin sagten häufiger, dass die Rolle souveräner Staaten unterschätzt werde. Ich denke, für Sie war es keine Überraschung, dass es in der Welt an Ressourcen des „guten Willens“ mangelt, wie auch an Möglichkeiten für internationales Zusammenwirken, insbesondere in kritischen Situationen.
Ich habe nie gehört, wie Sie die Ideen der liberalen Weltordnung gelobt hätten, die davon ausgeht, dass Demokratien idealer und humaner wären und gewisse besondere Rechte in der internationalen Arena hätten. Sie sagten das öfter, und vieles davon sahen wir in den letzten Wochen. Aber gab es für Sie irgendwelche Überraschungen? Haben Sie etwas gesehen, was Sie fasziniert hätte und möglicherweise in einem gewissen Sinne wieder zeigen würde, dass die Situation nicht einfach schlimm ist, sondern noch schlimmer, als Sie dachten? Vielleicht irgendwelche neuen Möglichkeiten?
Sergej Lawrow: Dimitri, vielen Dank, Sie haben völlig Recht. Ich will nicht den Eindruck verleihen, ich hätte überhaupt keine Selbstkritik, aber im Großen und Ganzen sehen wir, dass die Ideale und Ideen, die wir vor dem Ausbruch der Corona-Seuche voranbrachten, immer mehr gefragt werden.
Es geht nicht darum, dass wir das Prinzip der Demokratie an sich kritisieren. Sie haben völlig richtig gesagt, dass das klassische System der liberalen Demokratie, der liberalen Ideologie, der neoliberalen Vorgehensweisen, das die Absolutisierung von all dem vorsieht, was eine Persönlichkeit will, sich erschöpft hat – unter den Bedingungen, wenn die gegenseitige Verbindung und Abhängigkeit der modernen Welt die Grenzen zerstört hat, unter anderem auch für solche Gefahren wie Terrorismus, Drogenhandel, organisierte Kriminalität und jetzt auch ansteckende Krankheiten (die WHO und wir alle machen uns immerhin schon seit langem Sorgen darum). Wir verwiesen auch darauf, dass man angesichts der Notwendigkeit der Kräftebündelung im Kampf gegen gemeinsame Gefahren keineswegs die Rolle souveräner Staaten unterschätzen geschweige denn kleinreden darf. Dabei versuchten „übernationale“ bürokratische Strukturen, souveräne Staaten zu unterdrücken. Das führte (heute habe ich das bereits erwähnt) schon vor langer Zeit – lange vor der Pandemie – zu großen Kontroversen innerhalb der EU und ist Gegenstand von diversen Diskussionen. Eine dieser Diskussionen wurde auf Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron begonnen – darüber, wie man weiter zu leben hat, worum es bei Europa geht, wie es sich entwickeln wird. Sie wissen ja über die Ideen von konzentrischen Kreisen.
Ich stimme Ihnen zu. Bei allen Unterschieden in den demokratischen Ländern versuchten sogar unsere amerikanischen Kollegen einst, Staaten aus der Sicht ihres Verhaltens zur Demokratie in verschiedene Kategorien einzustufen: liberale Demokratien, weniger liberale Demokratien, autoritäre Demokratien und undemokratische autoritäre Regimes. Es wurde irgendwann so etwas zum Ausdruck gebracht. „Demokratie“ ist immerhin ein ziemlich umfassender Begriff, der viele Staatssysteme umfasst, unter anderem solche, die einige Politologen als autoritär bezeichnen oder die nach ihrer Meinung Merkmale des Autoritarismus haben.
Madeleine Albright, mit der ich sowohl in meinen Zeiten in der UNO als auch nach ihrer Ernennung zur US-Außenministerin zusammenarbeitete, trat einst mit der Initiative zur Bildung einer Allianz von demokratischen Staaten auf. Sie wird immer noch in der einen oder anderen Form umgesetzt. Die USA haben die Kriterien festgelegt und nahmen im Grunde im Alleingang die Länder in die Allianz auf, die sie zunächst als Kandidaten bestimmt hatten. In Wahrheit war das natürlich ein Versuch, die Autorität von multilateralen, universalen Organisationen, vor allem des UN-zentrischen Systems, zu zerstören. Die UNO ist eine Struktur mit einer einmaligen Legitimität, praktisch mit universaler Mitgliedschaft. Ihre Charta und ihre Prinzipien sind und bleiben akut – voll und ganz. Es muss aus meiner Sicht erwähnt werden an dem Tag, an dem konkrete Verhandlungen über die Charta der Organisation begannen, die später in San Francisco unterzeichnet wurde. Im Oktober werden wir den 75. Jahrestag des Beginns der vollwertigen Arbeit der UNO begehen.
Aktuell beobachten wir noch eine interessante Tendenz, die mit multilateralen Strukturen verbunden ist. Im vorigen Jahr traten Frankreich und Großbritannien mit der Idee zur Bildung einer Allianz der Multilateralisten auf, die von den zwei Ländern ausgerufen wurde und in die gewisse Länder eingeladen wurden, damit sie dann eine „Weltordnung auf Basis von Regeln“ fördern. Wir haben diesen Begriff schon vor längerer Zeit erfahren – und versuchten, zu klären, wie sich diese „Ordnung“ vom Völkerrecht unterscheidet, das alle bisher verteidigt hatten. Wir haben jedoch keine klare Antwort bekommen. Aber wenn man bedenkt, wer zur Förderung des Multilateralismus im Interesse der „Ordnung auf Basis von Regeln“ eingeladen wird, kann man bestimmte Schlüsse ziehen.
Als Frankreich und Großbritannien diese Initiative einbrachten, erklärten sie, dass die Hauptrolle bei der Umsetzung des Multilateralismus die europäischen Institutionen spielen werden, und die EU selbst der Grundstein des multilateralen Systems, also des Multilateralismus ist. Auf dieser Philosophie basieren bereits bestimmte sektorale Vereinigungen, Allianzen. Es wurde der Pariser Appell zum Vertrauen und Sicherheit im Cyberraum beschlossen. Daran nehmen etwas mehr als 60 Staaten teil. Das wurde vor dem Hintergrund unserer beharrlichen Anstrengungen zur Förderung des Themas Cybersicherheit im universellen Format und nicht im engen Kreis der Gleichgesinnten gemacht. In der UNO läuft die Arbeit, an der alle Mitgliedsstaaten dieser Organisation teilnehmen, an der Ausarbeitung der Regeln des verantwortungsvollen Verhaltens im Cyberraum. Frankreich, Deutschland, alle mögliche haben ein volles Recht, an dieser Arbeit teilzunehmen. Doch es bildet sich ein einzelner Mechanismus für Probleme des Vertrauens und Sicherheit im Cyberraum. Parallel zu den UN-Strukturen wurde auch der Aufruf zu Handlungen zur Festigung der Normen des internationalen humanitären Rechts, an dem mehr als 40 Länder teilnehmen, erklärt. Doch stützt sich das internationale humanitäre Recht nicht auf universelle Konventionen, an denen alle UN-Teilnehmerstaaten teilnehmen? Wozu soll eine parallele Struktur gebildet werden? Das dritte Beispiel – die internationale Partnerschaft zur Unterstützung der Informationsfreiheit. Das war die Initiative der Reporter ohne Grenzen. Jetzt wurde da auf Initiative Frankreichs 30 Staaten aufgenommen. Wollen die anderen nicht zur Unterstützung der Informationsfreiheit arbeiten? Ich möchte daran erinnern, dass noch zu Beginn der 1990er-Jahre, im letzten Jahr der Existenz der Sowjetunion, begann die KSZE eine Reihe der Dokumente anzunehmen, die von jedem Teilnehmerland forderten, einen vollständigen Zugang zu den Informationen für ihre Journalisten und die ganze Bevölkerung zu gewährleisten. Jetzt werden Russia Today und Sputnik der Zutritt zum Élysée-Palast verweigert, es wird versucht, in Großbritannien zu bestrafen, es wird in anderen Ländern unterdrückt. In Estland wurde Sputnik einfach nach der Androhung einer strafrechtlichen Verfolgung gesperrt. Natürlich wollen wir alle, dass der Zugang zu Informationen und die Informationsfreiheit gewährleistet werden, doch unsere westlichen Kollegen bevorzugen es, das in einem engen Zirkel zu machen, und wollen nicht, dass wir diese Prinzipien in einem universellen Format besprechen, die sie interessieren.
Das Problem ist ernsthaft. Das ist der Unterschied „der auf Regeln ruhenden Weltordnung“ von den universellen völkerrechtlichen Instrumenten, und der Versuch, Quasi-Strukturen außerhalb der universellen Organisationen, außerhalb der UNO, zu bilden. Sobald unsere westlichen Partner zu einem Thema im Rahmen der universellen Verhandlungen auf die Notwendigkeit stoßen, nach Kompromissen, Konsensen zu suchen, passt das ihnen nicht. Sie wollen, dass ihre Herangehensweisen, Einschätzungen dominieren und als multilateral, vielseitig, universell anwendbar wahrgenommen werden. Doch das ist der Wechsel der Begriffe.
Wjatscheslaw Nikonow: Doch stimmen Sie zu, dass wenn alle diese Aufgaben früher mithilfe der traditionellen euroatlantischen Strukturen, der Nato, EU gelöst wurden, sie nun außerhalb dieses Formats verlaufen. Meines Erachtens bedeutet das die Krise der liberalen Weltordnung, die meines Erachtens jedoch nie liberal war, weil sie unipolar war, niemals global war, weil sie auf ein Lager bzw. ein Land gerichtet war und war nicht eine Ordnung, weil es die Welt des globalen Chaos war.
Bitte, jetzt werden die Zahlen gezeigt – die Länder, die am stärksten von Coronavirus betroffen wurden, sowohl aus der Sicht der Ausbreitung der Infektion, als auch aus der Sicht der Todesrate – das sind die USA, Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien, die Türkei, also Nato-Länder. Viele sagen jetzt, dass es eine Widerspiegelung davon ist, dass es auch eine Krise widerspiegelt, darunter die Krise dieser liberalen Ordnung. Auf der anderen Seite gibt es China, ostasiatische Länder, die ziemlich erfolgreich gegen Coronavirus kämpfen. Es wird schon gesagt, dass sich der Schwerpunkt noch mehr aus dem euroatlantischen Raum in den Pazifischen Ozean, nach Ostasien verschiebt, die Verschiebung der Kraftzentren von dort hierher, amerikanisch-chinesische Konfrontation. Das sind die globalen Verschiebungen, weil die Pandemie wie ein Erdbeben, das sehr viele wackelige Strukturen ruiniert, darunter jene, die mit der liberalen Weltordnung assoziiert waren. Diese globale Tendenz kann tatsächlich zu einer ernsthaften Änderung des Kräfteverhältnisses in der modernen Welt angesichts der Tatsache führen, dass auch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie am stärksten im Westen zu erkennen sind.
Sergej Lawrow: Ich stimme dem vollständig zu. Ich will natürlich nicht, zu dem Thema gifteln, dass die „Lehrer der Demokratie“ Schwierigkeiten haben. Im Gegenteil, wir sind mit allen solidarisch, die jetzt den schwersten Corona-Schlag auf sich nahmen, leisten Unterstützung, darunter auf Grundlage der Gegenseitigkeit. Doch im Ganzen, wenn man die Fähigkeiten der Staaten analysiert, diese Bedrohung zu bekämpfen, ist diese Statistik natürlich ziemlich überzeugend. Ich würde hervorheben, dass auch unter den Ländern, deren demokratische Basis von unseren westlichen Freunden nicht infrage gestellt wird, effektiv die Regimes, Regierungen vorgehen, die nicht zu Pionieren und Idealen von Liberalismus gehören. Ich meine die asiatischen Länder – Südkorea, Japan, Singapur – Länder mit einer ziemlich starken Vertikale, obwohl niemand ihnen den Titel der Demokratie abspricht.
Was die liberale Gefahr betrifft, inwieweit sie tatsächlich richtig ist und dem Ideal „alles für den Mensch, alles für Menschenrechte“ entspricht. Lange vor den heutigen Ereignissen hatten wir die Möglichkeit sich darin zu vergewissern, dass die liberalen Staaten, deren Länder der liberalen Weltordnung folgen, in den Fällen, wenn es sich um lebenswichtige eigennützigen Interesse handelt, ziemlich nichtliberal agieren können. Erinnern Sie sich daran, wie diese „Liberalen“ das frühere Jugoslawien, den Irak unter einem absolut falschen Vorwand bombardierten und Tony Blair sich anschließend dafür entschuldigte, als er zugab, dass es keine Massenvernichtungswaffen gab. Und natürlich was mit Libyen geschah – was die USA jetzt mit Venezuela zu machen versuchen – das sind nun überhaupt keine liberalen Methoden, die darauf gerichtet sind, dass das Hauptkriterium der Wohlstand des Menschen ist.
Traurig ist auch, dass einige nichtliberale Länder jetzt im Rahmen der Pandemie, in der Situation, wenn in erster Linie Menschen gerettet werden sollen, sie mit notwendigen Medikamenten Lebensmitteln versorgt werden sollen, Veranstaltungen durchgeführt werden, die aus der Sicht der sanitären Bedingungen erforderlich sind, versuchen, auch hier Geopolitik zu implementieren. Und die Situation mit der Hilfe, die Russland Italien auf direkte Bitte des Premiers leistet, kennen wir sehr gut. Einige italienische Medien hören nicht auf und versuchen, das beinahe als militärische Invasion in ein Nato-Gebiet zu präsentieren. Aus verschiedenen Quellen erfahren wir ein weiteres interessantes Beispiel: In mehreren europäischen Ländern, darunter in EU und Nato, die auch den Weg der italienischen Erfahrung gerne gehen würden und uns um bestimmte Arten der Hilfe bitten würden, bei denen wir tatsächlich gute vergleichende Vorteile haben, wird das von „großen Kameraden“ nicht erlaubt.
Ein weiterer Fall. Ich glaubte selbst nicht daran, doch ich sah die Originale der Dokumente, um die es sich handelt. Ein großer Fußballklub in Europa, einer der Großen des europäischen und Weltfußballs wandte sich an seine Bekannten in Russland, an einen Nichtregierungsfonds, der sich mit Wohltätigkeit befasst, organisierte den Kauf und die Verteilung von Ausrüstung und Medikamenten, die zur Bekämpfung des Coronavirus erforderlich sind. Dieser Fußballklub mit Weltruf schrieb einfach einen Brief an diesen Fonds und bat um die Erörterung der Möglichkeit der Bereitstellung von elementaren Sachen, meines Erachtens auch gegen Entgelt, doch das spielt auch keine Rolle. Als der Fußballklub eine positive Antwort vom russischen Nichtregierungsfonds bekam, schrieb er plötzlich noch einen Brief: „Entschuldigung, doch aus unklaren Gründen kann dieser Deal nicht zustande kommen, uns wird das nicht erlaubt“.
Wenn der Liberalismus sich in solchen Dingen zeigt, dann diskreditiert er sich wohl damit mehr als jede Kritiker. Doch ich wiederhole nochmals, hoffentlich, wenn wir diese Situation überwinden, werden die Länder und die Wähler ihre Schlüsse daraus ziehen. Man sollte sich schon jetzt darüber Gedanken machen. Wir sollten in eine Situation kommen, in der die Multipolarität keine leeren Worte sind, sondern vor unseren Augen in konkrete Dinge verkörpert wird. Es ist wichtig, diese Dinge mit richtigem Inhalt zu füllen. Es ist unmöglich, den Fakt zu vermeiden, dass es mittlerweile deutlich mehr Großmächte, große Zentren des globalen Wachstums, des globalen Einflusses gibt, als ein oder drei. Davon sollte man ausgehen und sich darauf vorbereiten, dass man trotzdem nach einem Konsens suchen, auf Grundlage der Prinzipien arbeiten sollte, die in der UNO festgelegt sind und bis heute ihre Aktualität beweisen. Darauf ist der Vorschlag des Präsidenten Wladimir Putin gerichtet, den er im Januar dieses Jahres vorlegte, um einen Gipfel der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats vorzubereiten, und die Oberhäupter dieser Fünf ihre besondere Verantwortung für die Förderung des internationalen Friedens und Sicherheit, die durch die UN-Charta auferlegt wurde, begreifen. Natürlich sollte es ein Gespräch auf diesem Gipfel (wir verhandeln darüber schon jetzt mit unseren Kollegen) über ein sehr breites Herangehen zur Gewährleistung der strategischen Stabilität, globalen Sicherheit in allen ohne Ausnahme Dimensionen geben. Hoffentlich wird dieser Gipfel in diesem Jahr stattfinden und wird für die ganze Weltgemeinschaft nützlich sein.
Marina Kim: Könnten Sie bitte präzisieren, wird es ein Präsenztreffen der Staats- und Regierungsoberhäupter sein?
Sergej Lawrow: Ja, es handelt sich um ein Präsenztreffen der Oberhäupter. Jetzt wird zusätzlich zu dieser Initiative, die unabhängig vom Coronavirus eingebracht wurde, die Möglichkeit eines Online-Kontaktes im Format einer Videokonferenz besprochen, damit die Anführer der Fünf ihre Herangehensweisen zum Coronavirus zusätzlich zu dem, was bereits von der G20 und UN-Generalversammlung gesagt wurde, zum Ausdruck bringen können. Das war ein Vorschlag des Präsidenten Frankreichs, wir stimmten ihm zu, wie auch andere Teilnehmer der Fünf. Jetzt werden das Datum und das Communiqué abgestimmt, das wir nach einem solchen Gespräch annehmen möchten. Doch das geschieht separat von dem Vorschlag des Präsidenten Wladimir Putin, der nicht ein enges, konkretes Problem zu diskutieren, auch wenn es so akut wie Coronavirus ist, sondern direktes Gespräch zu der Notwendigkeit durchzuführen anstrebt, wie wir weiterhin die Beziehungen in der heutigen Welt im Interesse ausnahmslos aller Staaten auf Grundlage des Völkerrechts gestalten werden. Und die Rolle, die in der UN-Charta auf die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zugesprochen wird, erfordert von ihnen Initiative und Verantwortung. Darin besteht das Wesen der Initiative des Präsidenten Wladimir Putin.
Dimitri Simes: Herr Minister, Sie erwähnten die Suche nach einem internationalen Konsens. In gewissem Maße basiert das UN-Konzept auf der Idee, dass ein solcher Konsens im Prinzip möglich ist. Und ist er möglich? Ich war vor kurzem bei einer Sitzung in Washington. Aufgrund der Bedingungen dieser Sitzung darf ich nicht mitteilen, wer sie durchführte, doch das war eine Person auf Ihrer Ebene. Bei der Sitzung ging es ziemlich ernsthaft zu. Ich hatte die Möglichkeit, diese Person zu fragen, als er die Idee erläuterte, dass China und Russland sich in dieser Situation nicht gut verhalten, was Probleme für die USA schafft. Ich bat ihn konkret zu sagen, was Peking und Moskau machen, was Washington nicht passt. Zu China gab es meines Erachtens eine ziemlich klare Antwort. Ich sage nicht, dass er Sie überzeugen würde, doch es war klar, was diese Person meint. Zu Russland wurde äußerst wenig gesagt. Vor allem, dass es sich vielleicht wieder in die US-Wahlen einmischt, nach dem Prinzip – „was könnte man noch von Russland erwarten“. Ich sprach danach mit einigen anderen Personen, die an der Sitzung teilnahmen, und fragte nach ihrer Meinung. Worin bestehen die wichtigsten Forderungen der USA gegenüber Russland? Wie mir scheint, habe ich eine ziemlich faire Antwort bekommen. Es geht nicht um die Ukraine, Auseinandersetzungen in Syrien, konkrete Streitigkeiten um Öl, Venezuela. Ich will nicht sagen, dass diese Probleme nicht ernsthaft sind, doch sie sind vor allem Reizfaktoren. Das Hauptproblem, und Sie sprachen darüber mehrmals in einem anderen Kontext, besteht darin, dass Russland in den Jahren, nachdem Wladimir Putin Präsident wurde, beschloss, eine unabhängige Rolle in der internationalen Arena zu spielen. Die russische Interpretation der unabhängigen Rolle bedeutete, dass das Land sich nicht in den Rahmen der neuen Weltordnung einfügen wird. Sie haben heute darüber faktisch gesprochen. Wenn Sie sehen, was vor dem Ersten Weltkrieg war, gab es auch viele konkrete Auseinandersetzungen. Doch es war vor allem ein Streit über den Platz in der Welt und darüber, wer diese Welt bestimmt. In erster Linie ein Streit zwischen Deutschland und Großbritannien. Denken Sie nicht, dass es auch heute solche fundamentalen Auseinandersetzungen gibt, die sich unterschiedlich an verschiedenen Orten zeigen? Der Beschluss Russlands, ein großer globaler Akteur zu sein, der anderen daran hindern wird, die Spielregeln zu formulieren, bildet die Grundlage dieser Konfrontation. Ich will nicht sagen, dass dies zu einem neuen Weltkrieg führen wird. Das ist eine völlig andere Situation, eine andere Welt und andere Gefahren. Aber glauben Sie nicht, dass wir für eine gewisse Zeit einen internationalen Konsens vergessen können und uns darauf konzentrieren sollten, unsere souveränen Interessen zu verteidigen und die Kontroversen zu regeln, ohne zu hoffen, sie abzuschaffen?
Sergej Lawrow: Was die Behauptung angeht, Russland wolle nicht „anderen erlauben, die Spielregeln im Alleingang zu bestimmen“, so stimmt das: Es will nicht, dass die Spielregeln von nur einem bzw. von zwei Ländern festgelegt werden. Wenn jemand uns so etwas vorwirft, dann halte ich das für eine sehr hohe Einschätzung unserer Außenpolitik. Falls die Franzosen, die Amerikaner oder die Engländer, wie Sie gesagt haben, unzufrieden sind, dass wir wollen, dass sich die Spielregeln auf einen Konsens stützen, dann ist das wahr: Das ist genau das, was wir wollen. Möglicherweise ist das aktuell nicht so leicht zu erreichen. Aber man darf keineswegs diese Aufgabe vom Tisch räumen. Sonst werden diejenigen, die jetzt die Spielregeln bestimmen und glauben, dass sie anderen nicht zuhören müssen, sich von ihrer Meinung noch mehr überzeugen. Das wird aber nicht passieren, weil das nicht mehr möglich ist: Ihnen stehen Kräfte gegenüber, die alle Möglichkeiten haben, um ihre Rechte auf die Teilnahme an der Bestimmung der internationalen Tagesordnung zu verteidigen.
Sie haben den wichtigsten Moment erwähnt, der unsere westlichen Partner so stark verärgert. Das ist nicht irgendeine „Umrisskrise“, irgendein Konflikt oder die Situation auf internationalen Märkten, sondern es geht um die Bestrebung, eine unabhängige Politik auszuüben, die unsere westlichen Kollegen für sich entdeckten, nachdem Wladimir Putin Präsident Russlands geworden war. Das sagte Präsident Putin selbst häufiger. Er erinnerte auch daran, wie die Auflösung der Sowjetunion als „Ende der Geschichte“ wahrgenommen worden war. Man dachte ja damals, dass die westlichen Liberalen, die Sie eben erwähnten, das neue Russland und auch den geopolitischen Raum in seiner Umgebung (die neuen unabhängigen Länder) schon „in der Tasche“ hätten. Viele westliche Politologen, auch Sie, Dimitri, sagten ebenfalls, dass Russlands Bestrebung, ein gleichberechtigter (ich betone dieses Wort) Teil der westlichen Welt zu sein, unterschätzt worden wäre. Wir legen sehr viel Wert auf Ihre Analyse. Aber wenn man bedenkt, dass alle Versuche, zu sprechen und Vereinbarungen zu treffen, im Grunde als Schwächezeichen wahrgenommen wurden, ließ sich in unserer Gesellschaft der Bedarf an einer Person wie Wladimir Putin spüren. Und er hat diesen Bedarf voll und ganz befriedigt – und tut das immer weiter.
Sie erwähnten, dass man sich über die Weigerung Russlands ärgert, im „Fahrwasser“ der USA oder der EU zu bleiben und ihnen zu folgen. Da kann ich sagen, dass es im Weltozean viel mehr „Fahrwasser“ gibt, viel mehr noch solidere und stärkere „Schiffe“, die hinter sich noch größere Spuren hinterlassen. Und es finden sich viele Länder, die in diese „Fahrwasser“ passen wollen. Ich muss aber besonders betonen, dass wir das Modell mit etlichen „Fahrwassern“, die es im Weltozean gibt und die in ganz verschiedene Richtungen führen, sich manchmal überqueren und aneinander geraten, nicht für ideal halten. Denn dann werden diejenigen, die sich im „Fahrwasser“ des einen oder anderen „Schiffes“ befinden, in Kollisionsgefahr schweben. Und wir wollen verschiedene Interessen harmonisieren. Ja, sie erscheinen heute ziemlich aggressiv, würde ich sagen. Es ist gar nicht leicht, sie zu einem gemeinsamen Nenner zu bringen, und das wird ein sehr langer Prozess sein. Wir betonen ja nicht umsonst immer wieder, dass die Bildung einer multipolaren Welt ein objektiver, aber langfristiger Prozess ist. Das wird eine ganze Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit sein. Wir werden diesen Prozess wohl nicht abschließen können, der im Grunde noch nicht einmal begonnen hat. Wir müssen nicht nur denken, sondern auch auf etwas bestehen und konkrete Vorschläge machen, wie die Welt eingerichtet werden sollte, wie wir dazu bereit sein sollten, dass wir heutzutage neue Regeln entwickeln müssen, indem wir uns auf die souveräne Gleichheit der Staaten, auf den Respekt voreinander, auf Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten voneinander stützen – auf alles, was in der UN-Charta verankert ist. Ich würde mich freuen, festzustellen, dass ich mich irre, aber falls unsere westlichen Partner diese Prinzipien der Charta unterzeichneten und dabei davon ausgingen, dass die mehr als 500-jährige Dominanz der westlichen Normen und Regeln bei der praktischen Organisation des gesellschaftlichen Lebens aufrechterhalten würden, dann waren sie damals unehrlich. Ich hoffe, dass dies nicht so ist und dass die Gründungsväter daran glaubten, was sie schrieben und unterzeichneten.
Was die Vorwürfe angeht… Ich werde jetzt nicht einmal die Argumente in Bezug auf die Ukraine, Syrien, Venezuela, Erdöl aufzählen. Darüber sprachen wir ja oft genug. Falls es irgendein konkretes Interesse für diese oder jene Situation gibt, dann bin ich bereit, darauf zu antworten. Ich sage nur, dass unsere amerikanischen Partner sich unfähig zeigen, wenn sie von der „Einmischung in die Wahlen“ reden. Von Anfang an, als die US-Administration Barack Obamas noch im Laufe des Präsidentschaftswahlkampfes 2016 solche Vorwürfe gegen uns zum Ausdruck brachte, schlugen wir ihnen vor, gleich drei geschlossene Kommunikationskanäle zwischen Moskau und Washington einzusetzen, um diese oder jene Situationen zu klären, die zu nicht absichtlichen Zwischenfällen führen könnten. Wir unterbreiteten der US-Seite unsere Vorschläge, äußerten unsere Besorgnisse und sagten, dass wir bereit wären, alle ihre Besorgnisse zu beantworten. Doch darauf gab es keine Reaktion. Sowohl damals, im Jahre 2017, als auch später (und immer noch) warf man uns eine Einmischung in die Wahl 2016 vor. Dann traten wir mit der Initiative auf, ehrlich die Gespräche im Rahmen der geschlossenen Kommunikationskanäle zu veröffentlichen, als wir hochprofessionelle und ernsthafte Antworten auf alle Besorgnisse geboten hatten. Doch man sagte uns, die USA wollen nicht diese Gespräche veröffentlichen. Erst vor einigen Tagen sprach ich abermals mit dem US-Außenminister Mike Pompeo (das war quasi die Fortsetzung der sehr intensiven Telefonkontakte zwischen den Präsidenten Trump und Putin, die über das Coronavirus, über die Situation auf dem Ölmarkt und darüber, wie unser Dialog über alle Probleme der strategischen Stabilität wiederaufgenommen und neu fortgesetzt werden könnte, gesprochen hatten). Unter anderem erinnerte ich Mike Pompeo nicht nur daran, dass wir von unseren amerikanischen Kollegen konkrete Initiativen in Bezug auf die Wiederaufnahme des Dialogs zum Thema strategische Stabilität erwarten, sondern auch daran, dass auf dem Verhandlungstisch noch ein Vorschlag von uns liegt: zur Wiederaufnahme der Arbeit der bilateralen Gruppe für Cybersicherheit, in deren Rahmen wir bereit wären, auf gegenseitiger Basis alle Fragen aufzuwerfen und alle Besorgnisse zu beantworten. Ich sagte direkt, dass wir spüren, dass es eine neue Welle von Anschuldigungen geben wird, wir würden uns auch in die jetzige Wahlkampagne „einmischen“, und deshalb sollte ein Mechanismus gebildet werden, der von den Präsidenten bevollmächtigt werden sollte, alle besorgniserregenden Fragen zu besprechen. Diese Vorschläge bleiben auf dem Tisch. Ich hoffe, dass dieser Vorschlag nach dieser „antirussischen Pandemie“, die gerade wieder an Intensität gewinnt (und Herr Simes hat das am Anfang unserer Sendung erwähnt), von richtigen Profis und nicht von Politikastern behandelt wird.
Wjatscheslaw Nikonow: Ich denke, die amerikanischen Gründungsväter waren sehr aufrichtige Menschen, aber die meisten von ihnen waren nun einmal Sklavenhalter.
Eine Frage zur Ukraine. Ja, das ist einer der verärgernden Momente, aber er wird ja immer im Kontext der russisch-amerikanischen Beziehungen auftauchen. Es wurde ein Online-Ministertreffen im "Normandie-Format" angekündigt, das nächste Woche stattfindet. Wie werden die Beschlüsse des Pariser Gipfels umgesetzt? Worum wird es sich in erster Linie handeln? In der Ukraine gibt es meines Erachtens sehr ernsthafte Veränderungen: Michail Saakaschwili hat ein Angebot bekommen, Vizepremier für Reformen zu werden. Man muss sagen, dass die Tragödie der Ukraine darin besteht, dass er vor dem Hintergrund des jetzigen ukrainischen Teams als ein richtiger „Gigant des Denkens“ aussieht – trotz all seiner Scheitern, trotz der Tatsache, dass er ein „Profi-Verlierer“ ist. Inwieweit hat sich die ukrainische Position, die ukrainische Diplomatie nach dem Machtwechsel verändert? Kann man jetzt mit Kiew über etwas verhandeln?
Sergej Lawrow: Wir haben tatsächlich für die nächste Woche eine Videokonferenz der Außenminister des "Normandie-Formats" geplant. Als sich im Dezember des vorigen Jahres in Paris die Spitzenpolitiker der vier Länder versammelten, einigten sie sich darauf, dass ihre außenpolitischen Berater und Außenminister auf die Erfüllung der in Paris getroffenen Vereinbarungen aufpassen werden. Von diesen Vereinbarungen wurde nur eine erfüllt, und zwar nur in einem ziemlich geringen Umfang: Es hat ein Gefangenenaustausch stattgefunden. Kiew auf der einen Seite und Donezk und Lugansk auf der anderen Seite haben weniger als 30 Personen ausgetauscht. Alles andere, was in Paris besprochen worden war, wurde leider nicht erfüllt, und zwar nicht wegen des fehlenden guten Willens seitens Donezks und Lugansks.
Was dabei gemeint wird? Die Hauptfrage ist natürlich die Sicherheit für das Leben der Menschen, die Einstellung von Beschüssen und der Gewalt. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenski sagte öfter, für ihn sei am wichtigsten, ukrainische Bürger, ihre Leben zu retten. Jetzt rufen uns unsere Kollegen aus Deutschland, Frankreich, den USA, der OSZE regelmäßig auf, dass wir das Volksheer beeinflussen und Verletzungen des Waffenstillstands, der Waffenruhe unterbinden. Um das garantiert zu erreichen, gibt es einen ganz einfachen Weg: die Kräfte und Mittel auseinanderführen. Wir sehen die aktuellen statistischen Daten zur Verletzung der Waffenruhe, die von der OSZE bereitgestellt werden. Diese Angaben bestätigen keineswegs die Behauptungen, nur Donezk und Lugansk würden Verletzungen der Waffenruhe initiieren, während ukrainische Soldaten nur unschuldige Opfer wären. Das stimmt jedoch gar nicht – die Situation ist gerade umgekehrt. Aber, wie gesagt: Um solche Gefahren vom Tisch zu räumen, sollten zunächst die Kräfte und Mittel auseinandergeführt werden. Die entsprechende Vereinbarung (und das sollte an der ganzen Trennungslinie passieren) stand im Entwurf des von außenpolitischen Beratern und Außenministerien des "Normandie-Formats" im Vorfeld des Pariser Gipfels vereinbarten Dokuments auf der ersten Stelle. Als dieses Dokument in Paris vorgelegt wurde, sagte der ukrainische Präsident Wladimir Selenski, er könnte nicht als verantwortungsbewusster Mann die Notwendigkeit signieren, die Auseinanderführung der Kräfte und Mittel an der ganzen Trennungslinie zu sichern. Die Spitzenpolitiker Deutschlands und Frankreichs fanden das frappant, aber Herr Selenski ließ sich nicht überreden. Das einzige, was er akzeptierte, war die Vereinbarung, dass im Rahmen der Kontaktgruppe drei zusätzliche Abschnitte bestimmt werden, wo die Kräfte und Mittel auseinandergeführt werden. Da es keine besseren Varianten gab, wurde das vereinbart. Alles hätte spätestens bis Ende März erfüllt werden sollen, doch das ist immer noch nicht passiert, weil die ukrainische Seite in jeder Sitzung der Kontaktgruppe immer neue Argumente anführt, die sie als Vorwand nutzt, die Absprache der Abschnitte für die Auseinanderführung zu verweigern.
Dasselbe gilt auch für die Besprechung eines anderen Punktes der Pariser Vereinbarungen in der Kontaktgruppe. Darin steht geschrieben, dass man sich mit Minenräumung und mit Problemen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus befassen sollte. Aber wir beobachten die totale Sabotage des politischen Teils der Pariser Vereinbarungen, die Präsident Selenski übernommen hat: nämlich die Verankerung der so genannten „Steinmeier-Formel“ in der ukrainischen Verfassung zu fördern, wobei es um alle rechtlichen Aspekte des politischen Sonderstatus der Donbass-Region geht. Doch die ukrainische Seite will diese Themen gar nicht besprechen. Mehr noch: Es wurde vereinbart, dass bis zum nächsten Gipfel alles erfüllt werden sollte, was in Paris abgesprochen wurde, und gleichzeitig sollte das Abschlussdokument der künftigen Veranstaltung in Berlin vereinbart werden, in der unsere deutschen Kollegen sich vor allem auf das Thema Wahlen im Donezbecken konzentrieren wollen.
Erst vor kurzem hörten wir eine Erklärung Wladimir Selenskis, der sagte, dass es keine Wahlen geben würde, solange in der Ostukraine angeblich „Söldner“ bleiben und solange die ukrainischen Behörden die ganze Grenze an Russland unter ihre Kontrolle nicht nehmen können. Erst dann käme das Thema Wahlen infrage. Ähnlich hatte sich einst auch Pjotr Poroschenko geäußert – also hat sich in dieser Hinsicht nichts geändert. Präsident Putin reagierte öfter auf solche Versuche, alles, was in den Minsker Vereinbarungen geschrieben steht, auf den Kopf zu stellen. Auch auf die Initiative zur Einführung der UN-Besatzungskräfte in die Donbass-Region reagierten wir mehrmals. Ich muss mit Bedauern feststellen: Obwohl wir überzeugt sind dass Präsident Selenski ehrlich den Frieden will, was er auch während des Wahlkampfes sagte, sehen wir vorerst nicht, dass man es ihm gestatten würde, den Minsker „Maßnahmenkomplex“ vom Februar 2015 ehrlich in die Tat umzusetzen. Das ist sehr traurig. Beim virtuellen Außenministertreffen werden wir dieses Thema unbedingt aufwerfen.
Besonders beunruhigend finden wir die Tatsache, dass in der Ukraine nicht gerade kompetente Personen sich mit der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen befassen. Dort gibt es einen Vizepremier, der zugleich Minister für so genannte „provisorisch okkupierte Territorien“ ist, der regelmäßig Erklärungen zu Kiews Vorgehensweise im Donbass-Kontext macht und dabei die Idee total ablehnt, die der ukrainische Präsidialamtschef Andrej Jermak bei den Verhandlungen mit dem russischen Präsidialamtschef Dmitri Kosak befürwortet hatte. Ich meine die Idee zur Bildung eines Konsultationsrats, an dem sich Vertreter der Zivilgesellschaft Kiews und der Donbass-Region sowie Gesellschaftsvertreter aus Russland, Deutschland und Frankreich beteiligen würden, die die richtige Atmosphäre für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen fördern sollten. Wie gesagt: Das hat Andrej Jermak unterzeichnet, doch dann lösten die eben erwähnten Kräfte, die die ukrainische Führung bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen behindern, einen Skandal aus – und jetzt wird das alles angezweifelt. Also weigern sich die ukrainischen Unterhändler schon wieder, die Vereinbarungen zu erfüllen. Aber der Vizepremier Alexej Resnikow, der für die so genannten „okkupierten Territorien“ zuständig ist, erklärte, die Minsker Vereinbarungen wären kein völkerrechtliches Dokument, sondern höchstens gewisse politische Absprachen, die entsprechend wahrgenommen werden sollten. Also sei das keine „heilige Kuh“ und auch keine endgültige Wahrheit. Es wäre nicht schlecht, wenn richtige Experten für Außenpolitik ihm erklären würden, dass die Minsker Vereinbarungen vom UN-Sicherheitsrat gebilligt wurden und dementsprechend eben ein völkerrechtliches Dokument sind. Und deshalb sollten sie auch erfüllt werden.
Ich glaube, dass es ein wichtiges Gespräch auf der Ministerebene sein wird, denn darüber sprachen Deutschland und Frankreich häufiger. Wir baten sie, die Verpflichtung zu übernehmen, die ukrainischen Behörden zu einer fairen und konstruktiven Arbeit zu überreden, aber, ehrlich gesagt, erwarte ich von dieser Videokonferenz keine großen Fortschritte. Vielleicht werden unsere ukrainischen Kollegen wieder sagen: „Lassen Sie uns schnellstmöglich in Berlin treffen“. Für sie ist es wichtig, zu zeigen, dass sie an Treffen im "Normandie-Format" teilnehmen, gleichzeitig aber möglichst wenig Aufmerksamkeit der Kontaktgruppe zu schenken, wo sie die Möglichkeit haben, mit Donezk und Lugansk direkt diverse Fragen zu regeln. Sie weichen dieser Arbeit möglichst aus. Sie wollen, dass das "Normandie-Format" das einzige Format für die Besprechung der Minsker Vereinbarungen bleibt. Sie denken, dass es im Rahmen des "Normandie-Formats" Russland gibt – das „Aggressorland“, während Frankreich und Deutschland der Ukraine helfen, Russland zur Erfüllung von all dem zu zwingen, was die ukrainische Seite selbst erfüllen sollte, und zwar im Rahmen des direkten Dialogs mit Donezk und Lugansk. Das ist also eine schwierige Situation.
Zum Abschluss kann ich eines sagen: Wir werden wie über ein neues Gipfeltreffen verhandeln, solange all die Entscheidungen, die in Paris getroffen wurden, nicht erfüllt werden. Und für ihre Erfüllung gibt es keinen anderen Weg als sich in der Kontaktgruppe richtig zu verhalten und sich mit Donezk und Lugansk zu einigen. Wir werden da gemeinsam mit der OSZE mitwirken.
Marina Kim: Herr Lawrow, vielen Dank für Ihre Teilnahme an unserer Sendung, für das ehrliche und offene Gespräch, für Ihre ausführlichen Erläuterungen zur aktuellen Situation in der internationalen Diplomatie und zum Einfluss der Pandemie in diesem Zusammenhang.