Rede und Antworten des russischen Außenministers Sergej Lawrow auf Fragen bei einem Treffen mit Studenten und Dozenten der Moskauer Staatlichen Hochschule für internationale Beziehungen (MGIMO) am 1. September 2015
Sehr geehrter Herr Torkunow,
sehr geehrter Herr Baschanow,
meine Kollegen, meine Freunde,
ich freue mich sehr, Sie bei unserem traditionellen Treffen begrüßen zu dürfen, das am Anfang des Studienjahres stattfindet. Im vergangenen Jahr hat die Moskauer Staatliche Hochschule für internationale Beziehungen ihr 70-jähriges Jubiläum begangen, und damit hat eine neue Phase ihrer Entwicklung als allgemein anerkanntes Forschungs- und Bildungszentrum auf dem Gebiet internationale Beziehungen begonnen, in dem die Reife und Nachhaltigkeit mit der Dynamik und dem Drang nach der Selbstvervollkommnung kombiniert sind, was nicht nur die gesamte Hochschule, sondern auch jeden von Ihnen entsprechend charakterisiert.
In einer feierlichen Versammlung anlässlich des Jubiläums der MGIMO vor einem Jahr hatte Präsident Wladimir Putin die Aktivitäten der Universität als Kaderschmiede für die russische Diplomatie und damit verwandte Gebiete hoch geschätzt und als eines der „Flaggschiffe“ des russischen Bildungswesens sowie als aktiven Teilnehmer – neben der Diplomatischen Akademie Russlands – des Prozesses der Entwicklung von staatlichen Beschlüssen im außenpolitischen Bereich bezeichnet.
Der Präsident verwies damals darauf, dass die MGIMO etliche russische akademische Schulen vereinige, darunter auf Gebieten Landeskunde und Linguistik. Ich darf erinnern, dass die MGIMO nicht nur über die Forschungstraditionen, sondern auch über pädagogische Kader und die einmalige Bibliothek der Moskauer Hochschule für Orientalistik verfügt, die ihrerseits quasi die Nachfolgerin des Instituts für orientalische Sprachen „Iwan Lasarew“ ist. Deshalb kann man sagen (wenn man die Geschichte der MGIMO aus dieser Sicht betrachtet), dass die Traditionen der Universität bei der Ausbildung von Experten für internationale Beziehungen viel länger als 70 Jahre zählen und ihre Wurzeln ausgerechnet in der „Lasarew“-Hochschule haben. Diese begeht in diesem Jahr ihr 200-jähriges Jubiläum. Deshalb können Sie, Herr Torkunow, wohl auch ein neues Datum erwägen, das begangen werden sollte.
Heutzutage sind die Erfahrungen und das Potenzial der MGIMO gefragt wie nie zuvor. Ich habe schon öfter gesagt: Trotz jeglicher „digitalen Revolutionen“ ist die Fähigkeit, Gespräche zu führen, die Kultur von hochprofessionellen Verhandlungen zwecks Suche nach Kompromissen, und zwar nicht per E-Mail, sondern bei Vier-Augen-Gesprächen – das ist heute gefragt wie nie zuvor. Persönliche Kontakte haben eine außerordentliche Bedeutung. Das lernt man in der Familie, um unter anderen Menschen normal zu leben. An der MGIMO kann man lernen, wie man verhandeln kann, wie man seinen Gesprächspartner verstehen kann, wie diese Fähigkeiten im Berufsleben anzuwenden sind, egal ob es sich dabei um Diplomatie, Journalistik oder Business handelt, darunter auf internationaler Ebene. Wenn wir uns einmal an die Geschichte der europäischen Diplomatie erinnern, dann können wir feststellen, dass im gesamten 19. und im größten Teil des 20. Jahrhunderts diverse Koalitionen und militärische Allianzen gebildet wurden, die einander widerstanden. Jetzt brauchen wir solche Eigenschaften, die uns die Bildung eines neuen internationalen Systems in allen Aspekten – im politischen, wirtschaftlichen und humanitären – gestatten würden, aber nicht nach katastrophalen Militärkonflikten, sondern nach einer harten diplomatischen Arbeit auf Basis einer echten Partnerschaft. Dabei sollten wir allerdings keine Illusionen haben, dass die Welt bereits eine transparente Wahl zwischen der Logik der Zusammenarbeit und Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen auf der einen Seite und den Konzeptionen zur Sicherung der eigenen Überlegenheit mit allen möglichen, darunter mit gewaltsamen, Methoden auf der anderen Seite getroffen hat. Natürlich nicht.
Wir sind darüber besorgt, dass ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer immer noch die Philosophie zur Bildung von Hürden und Sperren im Interesse der eigenen einseitigen Präferenzen herrscht, wobei die jeweiligen Länder damit rechnen, eine Situation zu provozieren, in der sie Prozesse in anderen Ländern kontrollieren und sich gleichzeitig gegen eine negative Einwirkung von außerhalb wehren könnten. Wenn wir in einem solchen Fall die weitere Entwicklung von solchen Tendenzen zulassen, werden wir auf die Perspektive stoßen, dass der Trend zur Vertiefung der gegenseitigen Abhängigkeit der modernen Welt, der bereits unumkehrbar zu sein schien, doch zurückgeht.
Meines Erachtens sind die Globalisierungsprozesse, die von der weiteren sehr intensiven Entwicklung von Technologien angespornt werden, inzwischen dermaßen weit gegangen, dass man kaum noch damit rechnen darf, sich von globalen Problemen mit diversen Mauern, Zäunen (egal ob sie real oder nur virtuell bzw. ideologisch sind) absperren kann, die unter anderem die Entwicklung einer gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa behindern. Es wird wohl auch weiterhin die Versuche geben, anderen Völkern, Kulturen und Zivilisationen gewisse Ansichten und Werte von außen aufzuzwingen. Das ruft in der ganzen Welt Sorgen hervor. Vor kurzem hat die britische Zeitung „Guardian“ interessante Statistiken bzw. Analysenergebnisse angeführt: Ihr zufolge haben inzwischen etwa 100 Staaten Schritte unternommen, die ihre inneren Angelegenheiten auf diese oder jene Weise vor einer aktiven Einmischung seitens von ausländischen bzw. von außerhalb kontrollierten Strukturen bzw. Organisationen schützen.
Von unserer Seite ist der Rezept zur Überwindung von negativen Tendenzen, die mit Meinungsverschiedenheiten, Missverständnissen zwischen den Menschen zusammenhängen, die verschiedene zivilisatorische Bereiche vertreten, ziemlich einfach. Man sollte nicht mit Worten, sondern mit Taten die internationalen Beziehungen auf Grundlage der Prinzipien ändern, die im UN-Statut vorgesehen sind – Gleichberechtigung, Gleichheit, gegenseitiger Respekt, Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten, friedliche Regelung der Streitigkeiten. Wenn alle Länder dieser Welt diesen Prinzipien folgen, braucht man sich kaum mit Diskussionen darüber befassen, ob ein neuer Kalter Krieg begonnen hat oder nicht u.a.
Inzwischen rief ein Politiker, der viel zum Überwinden des Kalten Krieges getan hat, der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dieter Genscher, vor einigen Tagen in einem Interview dazu auf, sich Gedanken darüber zu machen, was die Europäer bei der Beendigung der bipolaren Konfrontation erreichen wollten – die Teilung Europas zu beenden oder aber die Grenze zu ihrem Gunsten zu verschieben, die Europa trennte?
Wie Sie wissen, wenn Sie sich für Außenpolitik Russlands interessieren, verteidigen wir kontinuierlich nicht die Trennung, sondern die Vereinigung verschiedener Prozesse, darunter Integrationsprojekte. Wir richten uns nach diesen Prinzipien, wenn wir die Eurasische Wirtschaftsunion entwickeln, unterstützen die bekannte Initiative zur Anbindung des Eurasischen Wirtschaftsprojekts an das Projekt der Volksrepublik China, des so genannten Wirtschaftsgürtels der Seidenstraße. Wir richten uns nach denselben Prinzipien bei der Entwicklung von SOZ, BRICS und unserer Initiative, die auf Harmonisierung der Integrationsprozesse in Europa und Eurasien gezielt ist. Das ist eine alte Initiative. Unsere westlichen Kollegen betrachteten sie lange gleichgültig, in der letzten Zeit zeigen sie Interesse, doch bislang waren es nur Worte.
Wir sind im Ganzen dafür, auf engstirnige egoistische Einschätzungen zu verzichten und sich an die Suche nach den wichtigsten Herausforderungen der heutigen Zeit zu machen.
Die heutige Entfremdung der großen Staaten könne zu schlimmen Folgen führen. Zunehmend mehr ernsthaftere Politiker und Forscher geben zu, dass das Wachstum der Terrorgefahr die größte Gefahr für den Wohlstand der Staaten in verschiedenen Regionen ist. Sie sehen, was die Extremisten des so genannten „Islamischen Staates“ machen, welche barbarische Verbrechen sie begehen, auf das Vertreiben derjenigen setzen, die ihre Ideologie des Rechtsextremismus nicht annehmen. Die Zerstörung der kulturhistorischen Denkmäler im Irak und vor kurzem im syrischen Palmyra zeigen, dass diese Menschen nicht einfach nach Macht auf riesengroßen Gebieten streben, sondern auch das Fundament der gesamten humanen Kultur absichtlich untergraben. Ich denke, dass in dieser Situation sehr aktuell die Aufgabe zum Schutz der kulturellen Werte auf Grundlage der UN-Konvention 1954 ist. Ich denke, wir sollten in UNESCO konkrete Schritte zur Sicherung solcher Position der internationalen Gemeinschaft durcharbeiten.
Wir schätzen sehr hoch den Beitrag der MGIMO, der Diplomatischen Akademie des Außenministeriums Russlands zur Entwicklung der internationalen Wissenschaftskontakte, das Zusammenwirken zwischen den Hochschulen verschiedener Länder. Im Oktober findet auf Basis von MGIMO der Globale BRICS-Universitätsgipfel statt, bei dem Dutzende Veranstaltungen, Seminare, Plenarsitzungen stattfinden.
Es ist für uns angenehm, dass die vor kurzem geschaffene Tradition zur Durchführung der internationalen Foren der MGIMO-Absolventen fortgesetzt wird. Das erste Forum fand in Baku statt, das zweite im vergangenen Jahr in Moskau. Das dritte Forum soll in diesem Jahr in Jerewan stattfinden. Ich bin davon überzeugt, dass auch die Länder des fernen Auslands Interesse daran zeigen werden, dass bei ihnen ebenfalls solche Foren der MGIMO-Absolventen organisiert werden.
Zum Schluss möchte ich betonen, dass der Rektor von MGIMO Anatoli Torkunow vor einigen Tagen 65 Jahre alt wurde. Ich möchte ihm noch einmal zum Geburtstag gratulieren. Herr Torkunow leistete einen enormen Beitrag zur Entwicklung unserer Alma Mater und führt die Universität weiterhin zu neuen Erfolgen unter den heutigen Bedingungen mit der für ihn typischen Zielstrebigkeit, Professionalismus. Gratulation, dass Sie solch einen erfahrenen und für junge Menschen verständlichen Leiter haben.
Frage: In diesem Jahr fanden in Ufa die SOZ- und BRICS-Gipfel statt. Auf der Hand liegt das zunehmende Interesse Russlands an diesen Kooperationsformaten. Wie sehen Ihrer Meinung nach die vorrangigen Aufgaben der BRICS und SOZ aus? Welche Ziele hat Russland bei diesen Formaten?
Sergej Lawrow: Ich habe dieses Thema bereits angeschnitten. Sowohl bei diesen Formaten als auch bei jeden anderen haben wir es zum Ziel gesetzt, die internationale Zusammenarbeit in jeden Bereichen zu fördern, wo es übereinstimmende Interessen, Aussichten der gegenseitigen Vorteile für die Länder und die Bevölkerung aus der Sicht der sozialwirtschaftlichen Entwicklung, Heranziehung zu neuen Technologien, Umsetzung der Transportmöglichkeiten, Infrastrukturprojekte gibt, die die Wirtschafts-, Kultur- und andere Kommunikation effektiver machen sollen.
SOZ entstand als Organisation, die vor allem mit der Gewährleistung der Sicherheit an der Grenze der Länder verbunden ist, die sie bildeten – die meisten zentralasiatischen Länder, China und Russland. Das Ziel der Gewährleistung der Stabilität und Sicherheit in dieser Region bleibt eine der wichtigsten Richtungen ihrer Tätigkeit. Es wurde die Regionale Antiterrorstruktur der SOZ gebildet, die wir jetzt vorschlagen, in einen komplexeren Mechanismus darunter zum Widerstandleisten gegen Drogenverkehr und Terror und andere Herausforderungen und organisierte Kriminalität umzuwandeln. Es werden gemeinsame Anti-Terror-Übungen durchgeführt. Besondere Aufmerksamkeit wird natürlich Problemen gewidmet, die mit der Notwendigkeit zusammenhängen, den Bedrohungen aus Afghanistan Widerstand zu leisten. Diese Bedrohungen spitzten sich zu, als der größte Teil der westlichen Kontingente der so genannten Friedenskoalition Afghanistan verließ, wobei Aufgaben nicht gelöst wurden, die gestellt wurden. Deswegen dehnt sich der „Islamische Staat“ bereits nach Afghanistan aus, darunter im Norden dieses Landes, nahe der Grenze zu unseren Verbündeten – solchen Ländern wie Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, was uns besonders beunruhigt. SOZ befasst sich ebenfalls damit, darunter unter Teilnahme Afghanistans, das ebenfalls zur SOZ als Beobachterland gehört und an der vollberechtigten Mitgliedschaft interessiert ist.
SOZ unternahm einen großen Schritt zur Förderung der Wirtschaftskooperation, es wurden Finanzinstrumente geschaffen, es werden aussichtsreiche Projekte entwickelt, die das nutzen, dass die Organisation geografisch ein einheitliches Gebilde ist. Ich erwähnte bereits die Initiative der Ankopplung der Arbeit im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Prozesse der eurasischen Wirtschaftsintegration im Ganzen an die Arbeit an der chinesischen Initiative des „Wirtschaftsgürtels der Seidenstraße“. Wir bezeichnen die SOZ-Plattform als optimal, um sich mit dieser Ankopplung zu befassen und den Teilnehmerkreis dieses Prozesses zu erweitern. Das sind keine geschlossenen Initiativen, sie sind transparent zur Teilnahme anderer Staaten. In Bezug auf die Transparenz und Offenheit würde ich eine wichtigste Entscheidung erwähnen, die beim SOZ-Gipfel in Ufa getroffen wurde – den Beginn des Beitritts Indiens und Pakistans zur SOZ als offizielle vollberechtigte Mitglieder. Dies würde natürlich der SOZ mehr politisches Gewicht verleihen. Am wichtigsten ist, dass dies die Projekte aus der Sicht der Infrastruktur, Wirtschaft und vor allem Energie im ganzen geopolitischen Raum noch effektiver machen soll.
Neben der russisch-chinesischen Grenze gibt es in BRICS keine gemeinsamen Grenzen. BRICS ist eine einmalige Vereinigung, zu der die Länder von allen fünf wichtigsten Regionen und Kontinenten gehören – Eurasien, Afrika, Lateinamerika, Europa und Asien. Wir rechnen damit, dass diese Vereinigung weiter ihre Hauptfunktion erfüllen wird. Sie bildete sich, um die Interessen dieser „neuen Länder“ im Rahmen der internationalen Finanzbeziehungen zu sichern, darunter IWF und Weltbank. Das ist nicht eine Laune, sondern die Widerspiegelung der objektiven Realität. Die Anteile der USA, der EU und Japans am weltweiten BIP gingen seit 1990 deutlich zurück, der Anteil der BRICS-Länder, wenn ich mich nicht irre, stieg von 7,7 auf 22 Prozent, also um das Dreifache. Der BRICS-Anteil stieg wegen des Abbaus der Anteile der USA, der EU und Japans. Diese Tendenz erfordert natürlich die Wiederspiegelung in Mechanismen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, um die Weltwirtschaft und Finanzen zu regeln. Diese Tendenz erfordert ebenfalls die IWF-Reform. Die BRICS-Länder streben aktiv die Erfüllung der Beschlüsse an, die bereits 2010 von der G20 getroffen wurden, die jetzt ausschließlich durch die USA blockiert werden, die sich auf die Position des Kongresses berufen, der angeblich diese Reform nicht ratifizieren will. Man soll nach anderen Wegen suchen. Das ist eines der Beispiele, doch das Ziel der Stärkung der gegenseitigen Positionen und Aufbau der Solidarität in Bezug auf die Reform des internationalen Währungs- und Finanzsystems, um es gerechter zu machen, ist eine der wichtigsten Aufgaben im Rahmen unserer BRICS-Tätigkeit. Parallel entwickelt BRICS die Kooperation in konkreten Bereichen. Es funktionieren mehr als zehn sektorale Dialoge zu den Themen Verkehr, Landwirtschaft, es wurden solche Mechanismen wie BRICS-Jugendgipfel gestartet, der die zivilen Gesellschaften vereinigt, der Humanitäre BRICS-Gipfel, Geschäftsgipfel von BRICS. Es wird die Virtuelle Universität der SOZ und BRICS geschaffen u.a. In BRICS werden die neue Entwicklungsbank und der Pool der bedingten Währungsreserven geschaffen. Jeder von diesen Mechanismen wird jeweils hundert Milliarden US-Dollar beinhalten, was unabhängiger und effektiver die Projekte umsetzen lässt, die den Teilnehmer der Vereinigung als gegenseitig vorteilhaft erscheinen.
In den letzten drei bis vier Jahren und bei den Treffen der Außenminister der BRICS-Länder (ein weiteres Treffen findet im Herbst in New York im Rahmen der Session der UN-Vollversammlung statt) und bei den BRICS-Gipfel werden Dokumente verabschiedet, die Gemeinsamkeit unserer Herangehensweisen zu den wichtigsten politischen Problemen darunter Situation im Nahen Osten, ein negatives Verhalten zu den einseitigen Sanktionen sowie die Richtlinie zur allumfassenden Stärkung des Völkerrechts, Respekt der Prinzipien des UN-Statuts, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten festlegen. Diese Herangehensweisen sind sowohl im allgemeinen als auch in Bezug auf konkrete Krisen und Konflikten in den Dokumenten der letzten BRICS-Gipfel festgeschrieben. Das ist ebenfalls sehr wichtig – die außenpolitische Dimension der Tätigkeit dieser einmaligen Vereinigung.
Wir sind damit zufrieden, dass unser Vorsitz bedeutende Ergebnisse brachte und wir weiter an der Tagesordnung unter Führung unserer Partner arbeiten.
Frage: Im letzten Jahr stärkte der „Islamische Staat“ deutlich seine Positionen in einem Teil des Territoriums Syriens und Iraks, doch internationale Anstrengungen brachten bislang keine bedeutenden und klaren Ergebnisse. Ist unter den jetzigen Bedingungen die Schaffung von effektiven Maßnahmen der Koalition gegen den so genannten „Islamischen Staat“ möglich? Wann kann Ihrer Meinung nach dem Unwesen dieser Terrororganisation ein Ende bereitet werden?
Sergej Lawrow: Die Antwort auf diese Frage hängt unmittelbar davon ab, ob man in der Richtung effektiv vorgehen kann, von der Sie gesprochen haben – eine effektive Vereinigung der Anstrengungen von allen denjenigen, die die Ideologie bzw. Praxis des so genannten „Islamischen Staates“ nicht annehmen. Bekannt ist, dass Terroristen es zu ihrem Ziel erklärten, ein Kalifat von Portugal bis Pakistan zu schaffen darunter das Ergreifen der islamischen Heiligtümer in Saudi Arabien – Mekka und Medina, Zerstörung dieser Heiligtümer, weil sie einen „falschen“ Islam symbolisieren. Wie ebenfalls jetzt christliche und andere Heiligtümer im Irak, Syrien und anderen Ländern dieser großen Region zerstört werden.
Man muss dagegen kämpfen, doch ohne Doppelstandards. Wir warnten von Anfang an, dass das Kokettieren mit Extremisten zum Erreichen von äußerst eigennützigen geopolitischen Zielen nichts Gutes bringen wird. Diese Geschichte beginnt, wie Sie wissen, bereits im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, in Afghanistan, als im Kampf gegen die Sowjetunion die so genannten Mudschaheddin unterstützt wurden, aus denen die Al-Qaida entstand, was später als Bumerang am 11. September 2011 in Manhattan zurückkehrte. Damals wurden von Terrorgruppen, die zwei Flugzeuge in ihre Gewalt nahmen, die Twin Towers zerstört. Dann wollte man persönlich den Präsidenten Iraks Saddam Hussein loswerden, weil er als Diktator wahrgenommen wurde und seinen westlichen Kollegen nicht zuhörte. Es wurde ein Vorwand ausgedacht – als ob es im Irak Massenvernichtungswaffen gibt. Es gab ernsthafte begründete Verdächtigungen, mehrere Jahre lang war die UN-Kommission tätig. Als diese Kommission 2003 mitteilte, dass sie für eine endgültige Schlussfolgerung weitere zwei Monate braucht, sagten unsere ungeduldigen westlichen Kollegen, dass man nicht mehr warten kann. Es wurde der UN-Sicherheitsrat einberufen. Mein lieber Freund, US-Außenminister, Colin Powell, zeigte allen ein Probierglas mit dem weißen Pulver und sagte, drinnen sei Milzbrand und es keine Streitigkeiten geben und man den Krieg gegen Saddam Hussein beginnen soll. Damals ließen Russland, Deutschland und Frankreich dies nicht machen. Der UN-Sicherheitsrat opferte nicht seinen Ruf und genehmigte nicht einen Krieg unter einem ausgedachten Vorwand. Inzwischen sagte der jetzige US-Botschafter in Moskau, John Tefft vor kurzem in einem Interview: „Wir haben damals im Irak einen Fehler begangen und haben dies zugegeben“. Das war nicht ein Fehler. Ja, Colin Powell wurde betrogen, als ihm ein Behälter mit weißem Pulver gegeben wurde, wobei gesagt wurde, es sei Milzbrand. Doch diejenigen, die diesen Behälter ihm gaben, wussten sehr genau, dass drinnen ein harmloses Pulver ist, vielleicht Zahnpulver. Das war nicht ein Fehler, sondern ein bewusstes Handeln. Jetzt gehört dies bereits zur Geschichte.
Saddam Hussein wurde jedenfalls gestürzt. Jetzt hält sich der Irak schwierig in einheitlichen Grenzen, weil die zentrifugalen Tendenzen sehr stark sind. Die US-Amerikaner vertrieben nach dem Sturz von Saddam Hussein alle Mitglieder der Baas-Partei, vor allem Sunniten, die die Armee bildeten, den Sicherheitsdienst, die Rechtsschutzorgane. Alle Sicherheitsstrukturen, die die Ordnung im Staat sicherten, brachen zusammen. Die meisten Offiziere, die im Dienst der Armee von Saddam Hussein standen, kämpfen jetzt im „Islamischen Staat“, einfach weil sie dort gut bezahlt werden, und sie sind sehr gut ausgebildete Militärs. Die Wurzeln des „Islamischen Staates“ stecken auch dort.
Danach haben unsere Nato-Kollegen leider das Mandat des UN-Sicherheitsrats in Bezug auf die Libyen-Regelung grob verletzt. Statt den Luftraum Libyens (das wurde durch die Resolution des UN-Sicherheitsrats genehmigt) zu patrouillieren, bombardierten sie die Kräfte des Anführers des Landes Muammar al-Gaddafi, unterstützten aus der Luft die Extremisten, die die Gegner der libyschen Armee waren. Sie wissen, wie im Ergebnis der ehemalige libysche Anführer vernichtet wurde und wie danach die Extremisten, die von unseren westlichen und einigen anderen Partner bewaffnet wurden, sich mit diesen Waffen in etwa einem Dutzend Länder begaben, darunter Mali, wo die Situation bis heute unruhig bleibt. Der „Islamische Staat“ eroberte nicht nur einen großen Raum im Irak und Syrien, sondern geht aktiv auch in Libyen vor.
Jetzt, wie auch bei der Vernichtung von Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi, wurde eine große chaotische Unterstützung an jede Kräfte geleistet, darunter die schlimmsten Extremisten, die bereit sind dabei zu helfen, den Diktator zu stürzen, versuchen, bei den Handlungen der Weltgemeinschaft zur Syrien-Regelung, auf Sturz, Eliminierung bzw. Rücktritt des Präsidenten Syriens Baschar al-Assad zu setzen, weil er angeblich illegitim ist. Erstens ist er legitim nicht nur weil er der gewählte Präsident eines Mitgliedsstaates der UNO ist. Falls jemand eine Bestätigung dafür brauchte, wurde vor zwei Jahren unsere Initiative umgesetzt, die von Russlands Präsident Wladimir Putin an US-Präsident Barack Obama zur Chemiewaffen-Abrüstung Syriens vorgeschlagen wurde, es wurden Beschlüsse im Rahmen der Konvention für das Verbot der C-Waffen verabschiedet, die den Beitritt Syriens zu dieser Konvention unter Führung von Baschar al-Assad sowie der Resolution des UN-Sicherheitsrats begrüßten, wo die Kooperation des Assad-Regimes mit der internationalen Gemeinschaft zur Vernichtung der chemischen Stoffe ebenfalls begrüßt wurde. Wie kann es sein, dass das Assad-Regime zur Vernichtung von chemischen Stoffen als legitim und für den Antiterror-Kampf als illegitim betrachtet wird? Hier fehlt es an Logik.
Wegen dieses Vorgehens unserer westlichen Kollegen kommt es zu Problemen. Weil die Koalition, die von den USA zum Kampf gegen den „Islamischen Staat“ geschaffen wurde, sich zum Ziel gesetzt hat, Luftangriffe auf die Stellungen dieser Terrorgruppe im Irak und Syrien zu fliegen. Mit dem Irak wurde eine Vereinbarung erreicht, obwohl kein formelles Abkommen veröffentlicht wurde. Doch es gibt wenigstens eine Bestätigung, dass Bagdad bei dieser Operation kooperiert. Mit den Syrern wurde erst gar nicht versucht, eine Vereinbarung zu erreichen. „Assad ist illegitim, weshalb wir einfach die Gebiete bombardieren, wo der ‚Islamische Staat‘ aktiv ist, und wir die Syrer warnen werden, dass sie uns daran nicht hindern sollen“. Wir verstehen nicht, warum diese Initiative zum Kampf gegen den „Islamischen Staat“ nicht via den UN-Sicherheitsrat mit Zustimmung nicht nur der Regierung Iraks sondern auch der Regierung Syriens formuliert wurde, die jetzt in Bezug auf die syrische Armee die handlungsfähigste Kraft ist, die auf dem Boden gegen den „Islamischen Staat“ kämpft. Allen ist klar, dass das Übel mit den Luftangriffen nicht bekämpft werden kann, weshalb der Präsident Russlands, Wladimir Putin, bei seinen Treffen mit dem Nachfolger des Erbprinzen Saudi Arabiens Mohammed bin Salman, bei dem Treffen mit den Außenminister Syriens, Walid Muallem, in den letzten einigen Monaten die Vorschläge formulierte, die darin bestehen, dass alle, die eine ernsthafte Gefahr verstehen, die vom „Islamischen Staat“ und anderen Terrorgruppen ausgeht, ihre Anstrengungen vereinigen, Handlungen koordinieren und einander nicht stören und gegenseitige Zusammenstöße vermeiden sollen. Es handelt sich vor allem um die syrischen und irakischen Armeen, die Aufständischen unter Kurden in Syrien und im Irak und Einheiten der syrischen Opposition, die aus syrischen Staatsbürgern und nicht aus Söldnern bestehen. Natürlich sollte dies mit der Tätigkeit der Koalition koordiniert werden, darunter Angriffe auf die Stellungen des „Islamischen Staates“ aus der Luft, Teilnahme der Länder der Region, die Finanz- und andere Hilfe an verschiedene Einheiten der syrischen Opposition leisten. Falls wir kontraproduktive Forderungen des Rücktritts des Präsidenten Syriens Baschar al-Assad als Vorbedingung für einen Antiterrorkampf beseitigen, die jetzt bei mehreren unseren Partnern existieren, können wir effektiv arbeiten. Darauf ist die Initiative des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, gerichtet, die wir bei den Kontakten mit den Golf-Staaten, den USA und Europäern fördern.
Frage: In der letzten Zeit wird Europa von der größten Flüchtlingswelle aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens in der Nachkriegszeit erschüttert. Deutschland sprach bereits von einem möglichen Austritt aus dem Schengener Raum, um die Zahl der illegalen Einwanderer zu reduzieren. Welche Mechanismen sollte nach Ihrer Meinung die Weltgemeinschaft ausarbeiten, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen?
Sergej Lawrow: Ich würde zwei Aspekte nennen – Maßnahmen, die dringend getroffen werden sollen, weil das Problem mit jedem Tag und Stunde größer wird, und die System-Fragen dieses Problems. Die Flüchtlingsströme kamen nicht unerwartet, das ist ein Ergebnis der konkreten Handlungen vor allem der Länder, wohin sich die Flüchtlinge jetzt begeben. Es handelt sich darum, was im Irak, Libyen und natürlich um Syrien geschieht. Diese Region wurde in eine „graue Zone“ verwandelt. Ich möchte vor allem Libyen nennen. Das ist ein riesengroßes Territorium, wo es keine einheitlichen Behörden gibt. Jetzt gibt es dort die von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Regierung in der Stadt Tobruk sowie eine nicht anerkannte Regierung in der Hauptstadt Tripolis. Einige Gebiete wurden vom „Islamischen Staat“ ergriffen, andere Gebiete von Extremisten, die niemandem unterstellt und von niemandem kontrolliert werden. Dieses „graue“ und vielleicht sogar „schwarze“ Loch eignet sich, um illegale Einwanderer nach Europa aus Afrika, darunter seine „arabischen“ und „schwarzen“ Teile, zu schicken. Das betrifft die Gründe. Die Krise in Syrien und die Hartnäckigkeit derjenigen, die meinen, dass der Rücktritt von Baschar al-Assad als vorläufige Bedingung für die politische Regelung wichtiger als der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ist – dadurch spitzt sich die Krise in Europa zu.
In diesem Zusammenhang schlugen wir im Rahmen unseres Vorsitzes im UN-Sicherheitsrat vor, am 30. September eine Sonder-Ministersitzung des UN-Sicherheitsrats zum Thema „Internationaler Frieden und Sicherheit. Aspekte verschiedener Konflikte und Terrordrohung im Raum Naher Osten und Nordafrika“ durchzuführen. Wir müssen darüber sprechen und die Frage danach stellen, dass die Inakzeptanz der Kooperation mit Extremisten- und radikalen Kräften formuliert werden soll.
Das alles betrifft nicht nur die bereits erwähnte Region. Ich meine die gestrigen Ereignisse in Kiew. Das waren die Extremisten aus der Freiheitspartei, die dem Innenminister der Ukraine Arsen Awakow zufolge für den Mord an einen Mitarbeiter der Nationalgarde und für die Verletzung von Dutzenden friedlichen Einwohnern verantwortlich ist. Im Statut der Partei ist die Anhänglichkeit an die Dokumente der ukrainischen Nationalisten festgeschrieben, die 1941 den Kurs Hitlers in Europa unterstützten. Als die Freiheitspartei bei den Parlamentswahlen in der Ukraine 2012 einige Prozente bekam, die es ihr ermöglichte, Abgeordnete in die Oberste Rada zu schicken, machte die Europäische Union eine Sondererklärung, wobei die ukrainischen Politiker aufgerufen wurden, mit dieser Extremisten- und Nationalistenpartei nicht zu kooperieren. Damals legte niemand in der Ukraine wert darauf. Als es zum Staatsstreich kam und diese Partei in die Koalition aufgenommen wurde, erinnerten wir unsere europäischen Kollegen daran, wie sie sich zu dieser Extremistenvereinigung vor einigen Jahren verhielten. Doch uns wurde gesagt, dass alles in der Ukraine normal sein wird. Wie mein französischer Kollege öffentlich sagte, „gibt es nichts Schlimmes daran, dass die Freiheitspartei in der Koalition ist, nach ihrer heutigen Gesinnung bewegt sie sich in Richtung politischer Mainstream“. Die Freiheitspartei zeigte wohl „politischen Mainstream“ nach dem Verständnis der Ukrainer.
Man darf nicht mit Extremisten kokettieren. Das betrifft sowohl die Freiheitspartei als auch den Rechten Sektor. Wir sehen, dass die Versuche, diese Radikalen zu zähmen, nur mit Kompromissen gegenüber ihnen und nicht mit dem Verzicht auf ihre inakzeptablen und antieuropäischen Herangehensweisen enden.
Wenn man zum Nahen Osten zurückkehrt, soll das Gespräch komplex sein. Man darf nicht die Wurzeln ignorieren, aus denen die politischen Gruppierungen entstehen (vor allem der „Islamische Staat“). Man darf auch die Wahrheit nicht verzerren. Einige US-Forscher betonen jetzt, hätte es keine Diktatoren gegeben, hätte es auch keinen „Islamischen Staat“ gegeben. Seine Entstehungsgeschichte ist nicht sehr kompliziert. Es gibt viele US-Forscher und Spezialisten, die erzählen, wie viele jetzige Anführer dieser Terrorgruppe (alle Namen sind bekannt, darunter Baghdadi), sich in den US-Gefängnissen in Afghanistan befanden, wo sie dann nach der Verbüßung der Strafe für verschiedene Verbrechen freigelassen wurden, wonach sie aktiv in der Region für Anhänger werben und vorgehen. Wir wollen jetzt nicht sagen, dass jemand schuld ist und wir davor gewarnt hatten. Das ist nicht in unserem Interesse. Wir wollen nicht Schadenfreude zeigen, jemandem etwas vorwerfen. Wir wollen nur Eins – damit alle, die eine ernsthafte Gefahr verstehen, die vom „Islamischen Staat“ ausgeht, ihre Prioritäten bestimmen. Es gibt nur eine Priorität – die Vereinigung der Anstrengungen, alles andere soll verschoben werden. Ich rechne damit, dass man uns zuhört. Die Reaktion unserer US- und europäischen Kollegen sowie der meisten arabischen Golf-Staaten und anderer Länder der Region zeigt, dass sie zu verstehen beginnen, was jetzt wichtiger ist – irgendwelche künstliche Ultimaten in Bezug auf die Syrien-Regelung oder eine gemeinsame Arbeit beim Kampf gegen ein gemeinsames Übel.
Dabei weigert sich niemand, die Verpflichtungen zur Regelung der Syrien-Krise zu erfüllen. Wir befassen uns damit aktivst. Erst gestern traf ich mich abermals mit Vertretern der syrischen Opposition. Unser Ziel besteht darin, dass sich verschiedene Oppositionsgruppierungen auf Basis einer konstruktiven Plattform vereinigen, um mit dem Regime Baschar al-Assads einen Dialog zu führen und solche Vereinbarungen bezüglich der künftigen politischen Entwicklung Syriens zu treffen, die sich auf allgemeine Akzeptanz stützen würde. Dieses Prinzip wird von niemandem angezweifelt. Aber die Worte, die ich eben zitierte, wurden noch im Jahr 2012 im so genannten Genfer Kommuniqué festgeschrieben. Immer neue Länder verstehen allmählich, dass man in dieser Richtung arbeiten muss, damit die ganze Opposition am Verhandlungstisch zusammenkommt. Wir haben zwei solche Treffen in Moskau organisiert – im Februar und April dieses Jahres. Im April wurde die so genannte „Moskauer Plattform“ verabschiedet, die von vielen begrüßt wurde, sogar von denjenigen, die an diesen Verhandlungen nicht teilgenommen hatten. Ähnlich bemühten sich auch unsere ägyptischen Freunde. Wir koordinieren unsere Arbeit mit ihnen. Vor kurzem fand in Doha ein Treffen der Außenminister Russlands, Saudi-Arabiens und der USA statt, bei dem wir uns ebenfalls darauf geeinigt haben, dass unsere gemeinsame Aufgabe zurzeit die Vereinigung aller Oppositionskräfte ist, damit sie zum Dialog mit der Regierung Baschar al-Assads bereit werden und über Syriens Zukunft, darunter über verschiedene Reformen, Gesetze usw. auf Basis der gegenseitigen Verständigung, verhandeln. Damit sollte man die parallele Arbeit an der Terrorbekämpfung und der politischen Regelung in Syrien als eine durchaus objektive Kombination wahrgenommen werden, die den Interessen aller Seiten entspricht und die Basis für die weitere Kooperation bilden soll.
Frage: In der vorigen Woche sprachen Sie im Rahmen eines Jugendforums zum Thema „Territorium der Sinne“, Russland erhalte von den USA Signale bezüglich der Wiederaufnahme des gegenseitigen Dialogs. Unter welchen Bedingungen wären Sie bereit, darauf zu antworten?
Sergej Lawrow: Das ist ganz einfach. Das müssen Bedingungen sein, die es zwischen zwei Staaten geben kann, die sich selbst respektieren. Es geht um die gegenseitige Achtung auf die gleichberechtigten Positionen und Interessen voneinander. Andere Bedingungen sind da gar nicht nötig. Viele Mechanismen, die in den letzten vier bzw. fünf Jahren errichtet worden waren, wurden von unseren US-Partnern auf Eis gelegt, die uns bestrafen wollten. In erster Linie meine ich die Präsidentenkommission, der mehr als 20 Arbeitsgruppen angehörten. Noch gab es gemeinsame Mechanismen zur Umsetzung von gemeinsamen Projekten in allen Richtungen der bilateralen Kontakte: von der Weltraumforschung und der Atomsicherheit bis zu humanitären und Jugendaustauschen. Aber Liebe kann man nun einmal nicht erzwingen. Doch falls die Amerikaner wieder zu einem gleichberechtigten und respektvollen Dialog bereit sind, dann lässt unsere Antwort nicht lange auf sich warten.
Frage: Die MGIMO und die Diplomatische Akademie werden bekanntlich vom russischen Außenministerium patroniert. Unser Präsident Wladimir Putin bezeichnete sie als „Schmiede der russischen Diplomatie“. Plant die russische Regierung, darunter das Auswärtige Amt, neue Projekte für die Ausbildung von hochqualifizierten Experten auf dem Gebiet Diplomatie?
Sergej Lawrow: Nein, ich dachte daran nicht, denn wir dachten immer, die Diplomatische Akademie und die MGIMO haben die Messlatte enorm hoch gelegt. Ich bin eben nahezu gestolpert, denn ich kann mir kaum eine Form der Ausbildung von Spezialisten vorstellen, die es in der MGIMO und der Diplomatischen Akademie nicht gegeben hätte. Falls Sie Ideen haben, auf die die beiden Rektoren, die wissenschaftlichen Räte und das Außenministerium nicht gekommen sind, dann teilen Sie sie uns gerne mit.
Frage: Könnte es zu Kontroversen zwischen Russland und seinen Verbündeten kommen, nachdem die gemeinsamen Ziele im Rahmen der BRICS, der SOZ und der Eurasischen Wirtschaftsunion erreicht worden sind?
Sergej Lawrow: Was nationale Interessen angeht, so stimmen sie im Rahmen eines Bündnisses – egal ob eines wirtschaftlichen oder militärischen – wohl nie zu 100 Prozent überein. Denn es geht dabei um unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen (wenn wir einmal über die Integrationsprozesse in der Eurasischen Wirtschaftsunion sprechen), um unterschiedliches Entwicklungsniveau, um diverse historische Besonderheiten, um unterschiedliche wirtschaftliche Spezialisierung der Bevölkerung usw. Auch die Kontakte mit äußeren Märkten sind bei allen Ländern unterschiedlich. Aber dazu sind auch Integrationsprojekte da, um solche Bedingungen zu schaffen, die eine Art „Paket“ von Kompromissen sind, damit die Ergebnisse vorteilhaft für alle sind. Ich bin überzeugt, dass die bereits getroffenen Vereinbarungen - es geht um mehr als 100 Dokumente, die die Basis der Eurasischen Wirtschaftsunion bilden – dermaßen präzise sind, dass man keine Zweifel haben sollte, dass sie den Interessen jedes an diesem aussichtsreichen Projekt beteiligten Landes entsprechen. Zwar können wir wegen der Konjunktur der internationalen Märkte, vor allem der Rohstoffmärkte, und wegen der Devisenschwankungen derzeit nicht von dieser Integration vollwertig profitieren. Aber ich habe keine Zweifel daran, dass dieses Fundament, diese Vereinbarungen sehr aussichtsreich sind und den langfristigen Interessen unserer Staaten entsprechen.
Wie ich bereits sagte, haben auch unsere chinesischen Freunde ihr Interesse dafür gezeigt. Es gibt besondere Kontakte zwischen der zuständigen Kommission der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Volksrepublik China. Umfassend gesehen, ist die chinesische Konzeption der neuen „Seidenstraße“ im Kontext ihrer Vereinigung mit den Integrationsprozessen in der Eurasischen Wirtschaftsunion wichtig. Auch die SOZ spielt dabei eine gewisse Rolle. Wenn wir die Situation genauer betrachten, dann sehen wir, dass die eurasischen wirtschaftlichen Integrationsprozesse Berührungspunkte mit den vielen Integrationsinitiativen im Asien-Pazifik-Raum im Osten und mit dem EU-Integrationsprozess im Westen haben. Wenn alle ihre eigenen politischen Ambitionen beiseiteschieben und nicht auf die Ratschläge der Kräfte hören, die sich weit entfernt von dieser Region aufhalten, und sich an ihren lebenswichtigen nationalen Interessen richten, dann schließe ich nicht aus, dass es irgendwann zu Gesprächen über die Bildung eines größeren harmonischen Raums kommen könnte, das ein und dasselbe Ziel verfolgen würde. Konzeptionell begrüßen wir seit langem eine solche Vorgehensweise. Früher sprach Charles de Gaulle von einem einheitlichen Europa vom Atlantik bis zum Uralgebirge, und in den letzten Jahrzehnten sprechen wir von einem einheitlichen Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Unsere europäischen Partner lehnen diese Idee nicht mehr als utopisch ab. Bisher gab es zwar keine konkreten Gespräche, aber es gibt ja viele Ideen, wie Sie sehen. Die Hauptsache ist, dass sie professionell und ohne einen politischen Einfluss besprochen werden, wobei eine Bilanz zwischen den Interessen aller an diesen Strukturen beteiligten Staaten eingehalten wird.
Frage: Was halten Sie von den Perspektiven der Umsetzung der Minsker Friedensvereinbarungen angesichts der jüngsten Gespräche Präsident Putins mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Francois Hollande? Wie schätzen Sie die aktuelle Situation im Allgemeinen ein?
Sergej Lawrow: Natürlich ist das zurzeit das größte Problem der europäischen Politik. Es spannte sich jedoch nicht auf unsere Initiative an. Wie sich diese Krise entwickelte, wurde schon öfter ausführlich geschildert. In zwei Worten, kam es Ende 2013 zu einer innenpolitischen Krise: Es kam zu „Maidan“-Protesten und Auseinandersetzungen; es gab Aufrufe zur Einstellung dieser Auseinandersetzungen von allen Seiten; es wurde eine Vereinbarung zwischen dem Präsidenten und den Oppositionellen getroffen, die unter anderem von den Außenministern von insgesamt drei europäischen Staaten signiert wurde. Am nächsten Tag wurde aber diese Vereinbarung zertreten, und statt einer darin vorgesehenen „Regierung der nationalen Einheit“ wurde eine „Regierung der Sieger“ gebildet, an der unter anderem derjenige Oleg Tjagnibok beteiligt war, der jetzt an der Spitze der „Freiheitspartei“ steht, die die Europäer ursprünglich für intolerabel hielten, später aber sich damit abfinden mussten, dass sie Teil der neuen ukrainischen Macht ist. Erst gestern hat ein aktives Mitglied dieser Partei einen Menschen getötet und viele andere verletzt. Das ist im Grunde alles. Es kam zu einem Staatsstreich, dessen erste Aktion die Außerkraftsetzung aller Gesetze durch das Parlament wurde, die die Rechte der sprachlichen Minderheiten gesichert hatten. Dieser Gesetzentwurf wurde zwar nie endgültig unterzeichnet, aber eine diesbezügliche Abstimmung fand statt. Eine dieser Minderheiten war natürlich die russische, wobei Russisch alles andere als Sprache einer Minderheit war bzw. ist, denn der größte Teil der ukrainischen Bevölkerung denkt und spricht diese Sprache. Dann kam es zu einer Eskalation auf der Krim, wohin der Führer des „Rechten Sektors“, Dmitri Jarosch, so genannte „Freundschaftszüge“ mit bewaffneten Kämpfern schickte. Dann kam es zu einem Versuch zur Eroberung des Obersten Sowjets der Krim. Das ist allgemein bekannt. Als die Einwohner der Krim und der Südostukraine sagten, dass sie die Ergebnisse des Staatsstreichs nicht anerkennen und in Übereinstimmung mit ihren Traditionen leben wollen, wurden zu ihnen Kommissare geschickt, die von Gouverneuren oder Leitern gewisser Militäradministrationen ernannt worden waren. Sie haben aber ihre eigenen „Volksgouverneure“ gewählt. Donezk und Lugansk griffen niemanden an – sie haben lediglich ihre Volksgouverneure gewählt und wollten so leben, wie sie eben wollen: ohne Russisch und andere Sprachen zu diskriminieren, ohne ihre eigene Kultur aufzugeben, ohne auf den Tag des Großen Sieges am 9. Mai zu verzichten. In der Westukraine wird dieser Tag nicht mehr geeiert, und die neuen Behörden bestätigten inzwischen, die Geburtstage von Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch, den Gründungstag der Ukrainischen Aufständischen Armee feiern zu wollen. Diese Armee war übrigens unter anderem für Massaker an Polen verantwortlich. Die Einwohner des Donezbeckens sagten, sie wollen selbst entscheiden, wie sie weiter leben. Sie waren nicht diejenigen, die den Krieg entfesselt haben.
Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als der „Maidan“ tobte und das Abkommen zwischen Janukowitsch und der Opposition noch nicht unterzeichnet wurde. Die Verteidigungsminister der Nato-Länder machten damals viele Erklärungen und forderten den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch auf, auf den Einsatz der Armee gegen das Volk zu verzichten. Das hat er auch getan. Er gab keinen Befehl ab, die Streitkräfte gegen die Demonstranten einzusetzen. Dort gab es nur Beamte der polizeilichen Spezialeinheit „Berkut“, die am Anfang nicht einmal bewaffnet waren. Dann kam es zu Provokationen – es erschienen Scharfschützen, die auf die „Berkut“-Mitglieder und auf Demonstranten schossen. Geschossen wurde aus dem Haus, wo damals der „Maidan“-Stab saß. In diesem Haus wurde Andrej Parubi gesehen. Diese Geschichte, an deren Ermittlung sich die EU-Kommission beteiligte, wurde immer noch nicht endgültig ermittelt. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass irgendwann herausgefunden wird, was damals passierte, genauso wie am 2. Mai 2014 in Odessa. Jedenfalls wurden für das Verbrechen in Odessa nur Mitglieder der so genannten „Anti-Maidan“-Gruppe festgenommen, und die Personen, die auf die Menschen schossen, die aus dem brennenden Haus sprangen, sind irgendwohin verschwunden.
Als die neuen Machthaber nach dem Staatsstreich erfuhren, dass die Einwohner des Donezbeckens und der Krim ihn nicht akzeptieren, verfügten sie die so genannte „Anti-Terror-Operation“. Wir fragten unsere westlichen Kollegen, ob sie die neuen Behörden zum Verzicht auf den Armeeeinsatz gegen das eigene Volk auffordern könnten, wie sie das im Fall Janukowitsch getan hatten. Sie antworteten allerdings nichts und riefen die neuen ukrainischen Behörden (die sie als solche anerkannt haben) auf, im Laufe der Anti-Terror-Operation Gewalt „angemessen“ anzuwenden. Wie gefällt Ihnen das? Das ist Scheinheiligkeit bis zum Gehtnichtmehr. Wenn ich mit meinen westlichen Kollegen dieses Thema anspreche, verstecken sie ihre Augen. Denn Janukowitsch hatten sie aufgerufen, keine Streitkräfte gegen sein Volk einzusetzen, und die neuen Behörden, die an die Macht nach einem Staatsstreich gekommen sind, durften Gewalt gegen ihr Volk anwenden, auch wenn nur „angemessen“. Wer kann aber diese „Angemessenheit“ schon einschätzen?
Es hat uns sehr viel Mühe gekostet, die Situation mit politischen Mitteln wieder mehr oder weniger zu beruhigen, obwohl der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko nach seinem Wahlsieg die Fortsetzung der Anti-Terror-Operation befahl, obwohl er immer behauptete, er wäre „ein Präsident des Friedens“. Es gab verbissene Kämpfe im August 2014, und erst nach einem heftigen Widerstand zeigte sich die ukrainische Armee, die große Verluste tragen musste, bereit zu Verhandlungen. Am 5. September 2014 wurden die ersten Minsker Vereinbarungen getroffen. Und am 15. September verhängte die EU neue Sanktionen gegen Russland, obwohl sie unseren Beitrag zu den ersten Minsker Vereinbarungen akzeptiert hatte. Auf unsere Frage, ob das etwas mit dem politischen Prozess zu tun hätte, bekamen wir keine vernünftige Antwort. Dann stellte sich heraus, dass das Verfahren zur Verhängung der neuen Sanktionen absolut intransparent gewesen war. Viele Präsidenten und Ministerpräsidenten der EU-Länder wussten einfach nicht, was Brüssel in ihrem Namen tat. Jetzt behaupten die Behörden in Kiew, dass die im September des vorigen Jahres verhängten Sanktionen verlängert werden, weil Russland die Minsker Vereinbarungen nicht erfülle. Vielleicht hat der ukrainische Präsident Poroschenko ausgerechnet darüber mit Angela Merkel und Francois Hollande verhandelt. Wir heben das Thema nur in der Hinsicht hervor, dass die russische Bevölkerung auf solche „Eskapaden“ unserer westlichen Partner gefasst ist, damit sie von ihnen auf den Gebieten nicht abhängen, die für unser Land lebenswichtig sind.
Dank der ersten Minsker Vereinbarungen konnte die Situation zunächst etwas abgespannt werden, aber im Januar erhielt die ukrainische Armee leider wieder den Befehlt zu einer gewaltsamen Verlegung der Frontlinie, die noch als Trennungslinie bezeichnet wird. Sie stieß dabei aber wieder auf Widerstand, und dann zeigte sich Kiew abermals zu Verhandlungen bereit. Dann wurden die zweiten Minsker Vereinbarungen („Minsk-2“) getroffen. Die Gespräche über dieses Dokument haben fast 17 Stunden gedauert, und daran nahmen die Präsidenten Russlands, Frankreichs und der Ukraine sowie die deutsche Kanzlerin persönlich teil. Bei diesem Dokument handelt es sich nicht um irgendeine politische Willkür – es wurde vom UN-Sicherheitsrat befürwortet. Das ist nicht mehr eine Situation, in der man die Umsetzung einer politischen Deklaration ignorieren kann.
Wir kennen Beispiele dafür, dass selbst auf höchster Ebene getroffene politische Deklarationen irgendwann später nichts wert waren. Ich meine unter anderem Vereinbarungen im Rahmen der OSZE und des Russland-Nato-Rats, dass niemand seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer festigen würde. Das waren politische Deklarationen. Als aber die USA begannen, ihr Raketenabwehrsystem zu entwickeln, wurde offensichtlich, dass das europäische Segment dieses Systems unsere Sicherheit beeinträchtigen würde. Wir verwiesen darauf und schlugen vor, eine politische Deklaration über die Unteilbarkeit der Sicherheit für alle als juristische Verpflichtungen zu formulieren. Diese Initiative wurde jedoch abgelehnt. Noch schlugen wir vor, einen entsprechenden Vertrag abzuschließen. Aber unsere Partner aus der Nato wollen einen solchen Vertrag nicht einmal besprechen.
Noch eine politische Deklaration wurde 1997 vereinbart, als der Russland-Nato-Rat gebildet wurde: Damals einigten wir uns darauf, dass sich in den neuen Nato-Mitgliedsländern keine großen Truppenteile permanent aufhalten werden. Wir verstanden aber, dass unsere Nato-Partner seit mehreren Jahren (noch vor der Ukraine-Krise) Übungen austrugen, die permanent wurden, und ihre Truppenverbände nach dem Rotationsprinzip auf dem Territorium der neuen Mitgliedsländer der Allianz, nämlich in der Nähe unserer Grenzen stationierten. Als wir unsere Besorgnisse zum Ausdruck brachten, sagte man uns, das wären „keine wesentlichen Kräfte“ gewesen. Als wir fragten, was „wesentliche Kräfte“ eigentlich wären, bekamen wir zu hören: „Lasst uns über diese Details vorerst nicht reden.“ Als wir ein rechtlich verbindliches Abkommen zwischen Russland und der Nato initiierten, in dem festgelegt werden sollte, was als „wesentliche Kräfte“ nach der Zahl der Soldaten und verschiedener Waffenarten gelten sollte, wollte man mit uns nicht einmal reden. Deshalb gibt es manchmal entsprechende politische Deklarationen, aber keine rechtlichen Verpflichtungen.
Ich habe diese Beispiele angeführt, um zu zeigen, dass die Situation um das Minsker Friedensabkommen etwas anders ist. Zwar gibt es eine politische Deklaration, die in Minsk vereinbart wurde, aber es gibt auch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, in der die Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar einstimmig gebilligt wurden. Und dort steht alles so geschrieben, dass man den Inhalt kaum entstellen kann, was derzeit mit der Verfassungsreform passiert. Man muss sich nur hinsetzen und das Minsker Dokument lesen. Dort steht nämlich geschrieben, dass die ukrainischen Verfassungsänderungen, die das Donezbecken betreffen, mit der Führung dieser Territorien abzusprechen sind und konkrete Elemente der Dezentralisierung enthalten sollen. Diese Elemente der Dezentralisierung haben in Minsk Angela Merkel und Francois Hollande persönlich formuliert. Dabei geht es um die russische Sprache und um besondere wirtschaftliche Möglichkeiten für diese Regionen, um ihre Beteiligung an der Ernennung von Staatsanwälten auf ihrem Territorium, um ihr Recht auf die Bildung ihrer eigenen Volkspolizei usw. Im Minsker Dokument steht geschrieben, dass das alles in der ukrainischen Verfassung verankert werden sollte. Stattdessen wurde in der Verfassung lediglich eine Phrase festgeschrieben, die in die so genannten „Übergangsbestimmungen“ aufgenommen wurde, denen zufolge es in einzelnen Teilen der Ukraine eine besondere Selbstverwaltungsordnung geben kann und alle anderen Punkte dieser Bestimmungen in einigen Jahren nicht mehr gelten sollten. Das dürfte eine Art Andeutung sein, was für ein Schicksal auf diese Regionen wartet. Statt der verschwommenen Versprechungen sollten die Machthaber in Kiew ausführliche Bestimmungen über die Selbstverwaltung und den Sonderstatus dieser Teile des Donezbeckens im Grundgesetz verankern. Ich wiederhole: Das ist keine politische Deklaration, die man ignorieren oder umgehen könnte, sondern eine Resolution des UN-Sicherheitsrats und eine Verpflichtung im Sinne der Völkerrechte.
Wir treten dafür ein, dass die Minsker Vereinbarungen vollständig und ohne jegliche Tricks umgesetzt werden. Wir sind bereit, dabei zu helfen. Wir tun unser Bestes dafür, dass Donezk und Lugansk trotz des arroganten Verhaltens Kiews am Verhandlungstisch bleiben und auch weiterhin den Minsker Vereinbarungen treu bleiben, bei denen es um die Erhaltung der Integrität der Ukraine bei gleichzeitiger Gewährleistung der Rechte der Donezbecken-Einwohner geht.
Wir haben Verständnis für die innenpolitischen Schwierigkeiten, für die unterschiedlichen Ansichten, die in der Obersten Rada zum Ausdruck gebracht werden, die unter anderem auch mehr Vollmachten für andere Teile der Ukraine betreffen. Das ist alles aber Gegenstand von entsprechenden Verhandlungen. Wir sind bereit, dabei zu helfen, wenn wir Möglichkeiten dafür haben. Wir pflegen gute Beziehungen mit einzelnen Regionen der Ukraine. Andere Länder pflegen gute Beziehungen mit Kiew und mit verschiedenen politischen Kräften in der Obersten Rada.
Ich bin mir sicher, dass die gestrigen Massenunruhen unmöglich gewesen wären, wenn die westlichen Länder, die Kiews Verhalten beeinflussen können, alle diese politischen Kräfte versammelt und ihnen empfohlen hätten, sich so zu benehmen, wie es vereinbart wurde. Dann würden auch die Minsker Vereinbarungen ins Leben umgesetzt. Chancen dafür sind immer noch da.
Heute finden ein neues Telefongespräch und eine Skype-Konferenz im Rahmen der Arbeitsuntergruppen für Sicherheit und für politische Angelegenheiten statt, die im Rahmen der Kontaktgruppe handeln. Eine Sitzung der Untergruppe für politische Fragen wird auch nächste Woche fortgesetzt. Nach dem jüngsten Telefonat Präsident Putins mit Francois Hollande und Angela Merkel haben wir vorgeschlagen, innerhalb von zehn bzw. zwölf Tagen ein Außenministertreffen im "Normandie-Format" (Russland, Ukraine, Frankreich, Deutschland) zu organisieren, um das Thema Verhandlungsfähigkeit aller Teilnehmer der Minsker Vereinbarungen zu erörtern. Wir erwarten eine positive Antwort von unseren Partnern. Jedenfalls haben Angela Merkel und Francois Hollande in ihrem Gespräch mit Präsident Putin diese Idee aktiv befürwortet.