Rede und Antworten des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, bei der Regierungsstunde in der Staatsduma der Föderalversammlung der Russischen Föderation am 15. Juni 2016 in Moskau
Sehr geehrter Herr Naryschkin,
Sehr geehrte Abgeordnete der Staatsduma,
zuallererst möchte ich mich für die weitere Einladung bedanken, bei der Regierungsstunde in der Staatsduma der Föderalversammlung der Russischen Föderation aufzutreten.
Wir schätzen im Außenministerium Russlands die ständige Aufmerksamkeit der Abgeordneten an unsere Arbeit und Anstrengungen zur Umsetzung des von Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, gebilligten außenpolitischen Kurses. Ich möchte gleich hervorheben, dass ein enges Zusammenwirken zwischen der außenpolitischen Behörde und der Föderalversammlung der Russischen Föderation es ermöglicht, nicht nur die Herangehensweisen zu den wichtigsten internationalen Problemen abzustimmen, sondern auch eine maximale Effizienz der gemeinsamen Anstrengungen der Legislative und Exekutive in der Praxis im Interesse der Stärkung der Positionen des Landes in internationalen Angelegenheiten möglichst zu gewährleisten.
Sie kennen natürlich die Einschätzungen der internationalen Situation, die Russlands Präsident Wladimir Putin in der letzten Zeit mehrmals äußerte, darunter bei seinen jüngsten Besuchen in Weißrussland, Kasachstan, Griechenland, bei dem Russland-ASEAN-Gipfel in Sotschi. Präsident Wladimir Putin nennt offen die Dinge bei ihren Namen, unterstreicht die Notwendigkeit, das Wachstum des Konfliktpotentials in der Welt nicht zuzulassen. Er bestätigt die Bereitschaft Russlands, zusammen mit allen Staaten an der Schaffung eines modernen, blockfreien internationalen Sicherheitssystems zu arbeiten.
Die internationalen Beziehungen erleben heute eine Wende, die mit der andauernden Bildung einer neuen polyzentrischen Architektur verbunden ist. Das ist eine objektive Tendenz, die die kulturell-zivilisatorische Vielfalt der modernen Welt, die Entstehung und Stärkung der neuen Macht- und Einflusszentren, einen natürlichen Wunsch der Völker widerspiegelt, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Zugleich nimmt die globale Konkurrenz zu, deren Ergebnisse in vielerlei Hinsicht die künftigen Konturen der Weltordnung bestimmen.
Vor dem Hintergrund der Zuspitzung der Terrorgefahr, Vertiefung der Regionalkonflikte, Instabilität der Weltwirtschaft ist immer eindeutiger das Streben unserer Partner im Westen mit den USA an der Spitze zu erkennen, die globale Dominanz mit allen Mitteln zu erreichen.
Die Ereignisse der letzten Zeit zeigten die Trughaftigkeit solcher Einschätzungen. Es liegt auf der Hand, dass kein Staat, selbst der stärkste, bzw. eine Gruppe der Länder nicht alleine die zahlreichen Probleme der heutigen Zeit lösen können.
Unter diesen Bedingungen ist eine gemeinsame diplomatische Arbeit auf Grundlage einer wahren Gleichheit der wichtigsten internationalen Akteure im Interesse des Findens von optimalen Antworten auf gemeinsame großangelegte Herausforderungen und Bedrohungen zu erkennen.
Russland folgt solcher außenpolitischen Philosophie und Praxis und verteidigt seine nationalen Interessen unter Bedingungen, wenn die USA und ihre Verbündeten eine antirussische Abschreckungsfront nach dem Vorbild des Kalten Kriegs schaffen wollen. Doch auch sie können nicht mehr die Notwendigkeit des Zusammenwirkens mit Russland, Nachgefragtheit der russischen Position bei aktuellen Fragen verneinen.
Russlands Präsident Wladimir Putin unterbreitete von der UN-Tribüne im September des vergangenen Jahres eine Initiative zur Schaffung einer breiten Antiterrorfront auf einer festen Völkerrechtsgrundlage und unter Schirmherrschaft der UNO.
Zur Unterstützung dieser Initiative durchkreuzten unsere Fliegerkräfte, die sich in Syrien auf Bitte der Behörden dieses Landes befinden, zusammen mit der syrischen Armee und den Aufständischen die Pläne der Extremisten zur Schaffung eines Aufmarschgebiets in der strategisch wichtigen Region des Nahen Ostens.
Bis die Partner die Ernsthaftigkeit der Herausforderung seitens ISIL, Dschebhat an-Nusra u.a. sowie der Notwendigkeit der Koordinierung der Anstrengungen mit uns begreifen, war Zeit notwendig. Allerdings wurde geschafft, bei der Aufnahme einer praktischen Arbeit Fortschritte zu erreichen. Unter Kovorsitz Russlands und der USA wurde eine Internationale Gruppe zur Unterstützung Syriens gebildet, die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats angenommen, bei denen ein komplexer Plan gebilligt wurde, der die Aufgaben der Einstellung der Kampfhandlungen, Gewährleistung des humanitären Zugangs zu den Bedürftigten in den gesperrten Gebieten und Förderung des Prozesses der politischen Regelung ohne Vorbedingungen und äußere Einmischung vorsieht.
Russland wird auch weiter eine initiativreiche, selbstständige, verantwortungsvolle Politik durchführen, die sich auf die Hoheit des Völkerrechts, gemeinsame Methoden zur Lösung von internationalen Problemen bei der zentralen UN-Rolle, Anerkennung der Rechte der Völker, ihre Schicksal selbst zu bestimmen, stützen wird.
In der UNO, BRICS, SOZ, G20 und anderen multilateralen Formaten fördern wir eine vereinigende Tagesordnung, wobei das Gleichgewicht der Weltpolitik gewährleistet wird. Wir sind offen zur Entwicklung einer gleichberechtigten gegenseitig vorteilhaften Kooperation mit allen Staaten und ihren Integrationsvereinigungen, die ebenfalls Gegeninteresse zeigen.
Dabei soll niemand Zweifel daran haben, dass wir die Sicherheit unseres Landes und unserer Bürger unter jeden Bedingungen gewährleisten werden.
Wir sehen andauernde Versuche, uns unter Druck zu setzen, eine antirussische Kampagne mit dem Ziel zu entfachen, uns dazu zu bewegen, auf prinzipielle Herangehensweisen zu Problemen der Weltordnung zu verzichten.
Es ist ebenfalls der Wunsch zu erkennen, auf unsere Kosten die transatlantische Disziplin zu verbessern und die russischen Positionen als Konkurrent auf den Energie- und Waffenmärkten zu untergraben.
Wir wollen uns in eine uns aufdringende Konfrontation weder mit den USA noch mit der Nato oder der EU hineinziehen lassen. Es liegt auf der Hand, dass die Konfrontationsideen, geopolitische Spiele mit einem Nullergebnis die Anstrengungen zur Gewährleistung einer stabilen Weltentwicklung nur bremsen, Krisen wie die Ukraine-Krise generieren. Wir rechnen damit, dass der Westen die Schädlichkeit der Nachgiebigkeit gegenüber den Radikalen begriff und eine strikte Umsetzung der Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar 2015 durch Kiew via einen direkten Dialog zwischen den ukrainischen Behörden mit Donezk und Lugansk anstreben wird. Wir sind bereit, zum Erreichen dieses Ziels zu kooperieren, bei der Schaffung der günstigen Bedingungen zur Lösung der großen Probleme der Ukraine zu helfen.
Die Konflikte im GUS-Raum sowie in jeder anderen Region können nur friedlich, mit politisch-diplomatischen und anderen nichtmilitärischen Mitteln gelöst werden. Das betrifft auch die innenukrainische Krise sowie die Probleme Transnistriens und Bergkarabachs. Am wichtigsten ist, die erreichten Vereinbarungen der Seiten zu respektieren, ihre Revision nicht zuzulassen.
Wir sind davon überzeugt, dass alle diesen Krisensituationen viel einfacher geregelt werden könnten, falls System-Defekte im Bereich gesamteuropäische Kooperation, Beseitigung der bestehenden Trennlinien überwunden werden. Wir rufen zur Arbeit an der Schaffung eines gemeinsamen wirtschaftlichen und humanitären Raums von der Atlantik bis zum Pazifischen Ozean, der sich auf die Architektur der gleichen und unteilbaren Sicherheit stützen wird. Ein wichtiger Schritt in dieser Richtung könnte die Harmonisierung der Prozesse der europäischen und eurasischen Integration sein.
Die Eurasische Wirtschaftsunion zeigt Erfolge als moderne internationale Organisation trotz bekannter Schwierigkeiten.
Die bei der Sitzung des Obersten eurasischen Wirtschaftsrats in Astana am 31. Mai getroffenen Beschlüsse zielen auf das Erreichen konkreter Ziele der Entwicklung der dazu gehörenden Länder, Erhöhung ihrer Konkurrenzfähigkeit. Im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht die Stärkung des Unionsstaates Russland und Weißrussland, Gewährleistung der effektiven Tätigkeit des OVKS, Vervollkommnung der Methoden der Arbeit der Gemeinschaft der unabhängigen Staaten GUS.
Die Integrationsprozesse im GUS-Raum entwickeln sich. Zusammen mit den Partnern streben wir die Erweiterung der Möglichkeiten für gegenseitig vorteilhafte Projekte mit anderen Ländern an. Es wird ein Abkommen über die handelswirtschaftliche Kooperation zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und China vorbereitet, es wurde eine Vereinbarung zur Suche nach den Wegen zur Ankopplung der Pläne der Entwicklung der Eurasischen Wirtschaftsunion und des Projekts „Wirtschaftsgürtel der Seidenstraße“ erreicht; es laufen Verhandlungen über die Schaffung der Freihandelszonen mit mehreren Staaten in verschiedenen Regionen der Welt.
Neue Horizonte eröffnet die Initiative des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, zum Beginn der Konsultationen der Teilnehmer der Eurasischen Wirtschaftsunion, SOZ und ASEAN zur Bildung einer allumfassenden eurasischen Wirtschaftspartnerschaft in der Zukunft. Diese Idee wurde mit großem Interesse bei dem am 19. und 20. Mai in Sotschi stattgefundenen Russland-ASEAN-Gipfel wahrgenommen.
Bei der weiteren Arbeit in diesen Richtungen werden wir uns auf die strategische Partnerschaft mit China, Indien, Vietnam stützen, das Zusammenwirken mit anderen Ländern der Asien-Pazifik-Region erweitern, darunter bei der Lösung der großangelegten Aufgaben des Aufstiegs Sibiriens und des Fernen Ostens.
Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit wird ein wichtiger Garant der regionalen Stabilität und Sicherheit. Ihr Potential wird mit dem Beitritt Indiens und Pakistans als vollberechtigte Mitglieder wachsen.
Auch die Konsolidierung der BRICS nimmt zu. In diesem Format werden ständige Mechanismen des Zusammenwirkens geschaffen, gemeinsame Herangehensweisen zur Lösung der Aufgaben der Demokratisierung der internationalen Beziehungen ausgearbeitet.
Sehr geehrte Kollegen,
bevor ich meinen Auftritt beende, möchte ich mich bei den Abgeordneten für die Billigung des Föderalen Gesetzes „Zum Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter der Russischen Föderation (im ausländischen Staat) und dem Ständigen Vertreter (Vertreter, ständigen Beobachter) der Russischen Föderation bei einer internationalen Organisation (in einem ausländischen Staat)“ bedanken. Soviel ich verstehe, wurde eine solche Unterstützung bereits ebenfalls von dem Föderationsrat der Föderalversammlung der Russischen Föderation gezeigt. Wir schätzen sehr hoch die Anstrengungen, die sie zur Unterstützung unseres diplomatischen Dienstes unternehmen. Das fördert natürlich eine effektive Umsetzung des außenpolitischen Kurses Russlands.
In den nächsten Tagen soll die Wahlkampagne zur Wahl der Abgeordneten in die Staatsduma der Föderalverssammlung der 7. Einberufung starten, die am 18. September stattfindet. Das Außenministerium Russlands legt große Aufmerksamkeit auf eine eindeutige Vorbereitung und organisierte Durchführung der Wahlen im Ausland, unternimmt alle notwendigen Maßnahmen, damit sie erfolgreich verlaufen. Das ist ein weiterer Bereich, in dem wir mit den Abgeordneten der Staatsduma der Föderalversammlung sehr eng seit mehreren Jahren kooperieren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Vor Beginn der heutigen Sitzung gab es schriftliche Fragen von verschiedenen Fraktionen, auf die schriftliche Antworten gegeben wurden. Ich bin aber bereit, jede weitere Fragen zu beantworten.
Frage: Die ganze Welt verfolgt den Antiterrorkampf in Syrien und im Irak. Zugleich versucht ISIL, seinen Einfluss auf Nordafrika auszudehnen, darunter das 2011 wegen Nato-Aggression und Abrechnung mit Muammar Gaddafi zerstörte Libyen. Heute versuchen die USA mithilfe der UN-Mission an der Macht die ihr unter Kontrolle stehenden Vertreter beizubehalten, darunter offene Terroristen. Libyen ist nicht ein fremdes Land für uns. In der Sowjetunion und Russland wurden viele zivile und Militärspezialisten ausgebildet, wir hatten breite Wirtschafts- und militärtechnische Kooperation gehabt. Nach vorhandenen Angaben erteilen jetzt gesunde Kräfte der libyschen Gesellschaft Abwehr gegen ISIL. Denken Sie, dass es im Interesse Russlands wäre, solche Kräfte zu unterstützen, deren Grundlage die Menschen bilden, die historisch freundschaftlichen Gefühle zu unserem Land haben?
Sergej Lawrow: Wir haben nie Verbindungen zu diesen Menschen gebrochen. Sie haben absolut Recht, dass Libyen das Beispiel der katastrophalen Ergebnisse der unvernünftigen Gewaltpolitik zum Regimewechsel, einer Katastrophe, das von denjenigen verursacht wurde, die die Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Flugsperrzone grob verletzten, bietet. Jetzt haben wir das, was wir haben. Die Folgen der Libyen-Krise sind nicht nur in den benachbarten Ländern Nordafrikas, sondern auch in der Sahara-Sahel-Zone zu spüren – Tschad, Zentralafrikanische Republik, Mali. ISIL-Extremisten und die mit ihnen verbündeten Terrorgruppierungen kämpfen mit den illegitimen Waffen, die trotz UN-Embargo aus Europa und einigen Nahostländern geliefert wurden, die das Gaddafi-Regime stürzen wollten. Jetzt spüren wir, dass unsere westlichen Kollegen und insbesondere Kollegen in der Region wie Ägypten sehr gut die Notwendigkeit verstehen, die Folgen des unvernünftigen Verhaltens des Westens zu überwinden und alles zu machen, um die nationale Einheit des libyschen Volkes wiederherzustellen.
Ich weiß von Versuchen, ziemlich große Einheiten der libyschen Stämme zu ignorieren, die am effektivsten gegen ISIL kämpfen, der in vielen Teilen Libyens bereits Wurzeln hat. Es gibt einen von UN-Sicherheitsrat gebilligten Beschluss, der in Marokko am 17. Dezember 2015 geschlossen wurde. Das Skhirat-Abkommen, laut dem die Regierung der nationalen Einheit gebildet wurde, soll von Libyens Parlament gebilligt und ratifiziert werden, das in Tobruk ansässig ist und von der internationalen Gemeinschaft als legitim anerkannt wird. Unsere westlichen Partner haben eine Versuchung, diesen Teil der Vereinbarungen auszulassen und sich auf der Unterstützung der Menschen zu konzentrieren, die die Regierung der nationalen Einheit leiten, jetzt jedoch nicht nach Tripolis kommen können, weil sie sich aus Sicherheitsgründen auf dem Luftwaffenstützpunkt nahe der Stadt befinden.
Wir sind von der Notwendigkeit überzeugt, alle libyschen Kräfte zu vereinigen und sich erst dann auf die Bitten an die internationale Gemeinschaft zu richten, die vom einheitlichen libyschen Volk geäußert werden. Ich will ihnen versichern, dass die Menschen, die sich an unsere Verbindungen erinnern, nie den Kontakt zu uns abbrachen. Wir kooperieren mit ihnen und unterstützen sie bei ihrem Streben nach einem nationalen Dialog und Einigung.
Frage: Ich bin mir sicher, dass Sie Sport lieben und in Ihren dichten Terminkalender jedoch Zeit finden, um die Fußball-EM in Frankreich zu verfolgen. Die Unruhen im Stadion in Marseille und in der Stadt haben keine Rechtfertigung und sollten eine Strafe nach sich ziehen. Allerdings ist seitens der französischen Behörden eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber russischen Fans zu erkennen. So wurde gestern ein Bus mit russischen Fans von Polizisten aus Cannes für mehr als zehn Stunden festgehalten, ohne Angabe von Gründen. Ihnen wurde kein Wasser gegeben, sie konnten aus dem Bus nicht aussteigen, bis der russische Konsul kam. Wie wird das russische Außenministerium die sich in Frankreich befindlichen Fans unterstützen?
Sergej Lawrow: Ich stimme Ihnen absolut zu. Es gab einen absolut inakzeptablen Vorfall, als ein Bus mit mehr als 40 russischen Fans gestoppt wurde. Sie mussten zur Prüfung der Dokumente aussteigen. Französische Behörden hätten sofort bei der Festnahme die russische Botschaft bzw. Generalkonsulat in Marseille darüber informieren müssen. Das wurde nicht getan. Die Vertreter unserer ausländischen Einrichtungen kamen unverzüglich an den Ort, als sie darüber aus Sozialen Netzwerken erfuhren, wo die Fans ihre Einträge dazu posteten. Es stellte sich heraus, dass die Franzosen bereit waren, Sicherheitseinheiten zur Erstürmung des Buses zu rufen. Das wäre eine absolut inakzeptable Situation, doch unsere Diplomaten haben es geschafft, sie zu lösen und einen Dialog aufzunehmen. Dass sich die Franzosen wider der Verpflichtungen der Wiener Konvention verhielten – das ist eine Tatsache. Ich übergab bereits eine entsprechende mündliche Botschaft an den Außenminister Frankreichs, Jean-Marc Ayrault, mit der Forderung, keine solchen Verletzungen mehr zuzulassen.
Was den allgemeinen Hintergrund bei der Europameisterschaft angeht, so kann ich Ihnen nur zustimmen und halte es für unzulässig, wie sich einige von unseren Mitbürgern verhielten, die mit Bengalos und Knallkörpern gekommen waren. Das ist alles kategorisch verboten. Wir wissen, dass es auch in Russland absolut negiert wird, wenn solche „Fans“ anderen Menschen auf diese Weise die Stimmung verderben. Wir können allerdings nicht übersehen, dass man gleichzeitig auf absolut provokantes Vorgehen der Fans aus anderen Ländern ein Auge zudrückt. Sie haben sicherlich empörende Fernsehbilder gesehen, wie man russische Flaggen mit den Füßen trat, wie man die russische Staatsführung und Russlands führende Sportler beleidigte. Natürlich ist es unzulässig, deswegen Schlägereien auszulösen, aber es ist genauso unzulässig, wenn solche Provokateure, die versuchen, eine Krisensituation auszulösen, ignoriert werden.
Wie gesagt, unsere Diplomaten werden mit den französischen Behörden daran gemeinsam arbeiten.
Frage: Unsere westlichen Partner, vor allem die EU-Länder, erklärten öfter, die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen sei die Vorbedingung für die Aufhebung der antirussischen Sanktionen. Dabei aber begreifen sie allmählich, dass der wichtigste Grund, warum sie nicht umgesetzt werden, in der unkonstruktiven Position Kiews besteht. Könnte das etwa bedeuten, dass sie bereit wären, die Russland-Sanktionen nicht mehr an die Erfüllung der Minsker Vereinbarungen, die von Kiew blockiert wird, zu binden? Mit anderen Worten, was können wir von den EU-Ländern erwarten? Wie schätzen Sie die Perspektiven für die gegenseitige Abschaffung der Sanktionen gegen alle Parlamentarier ein, was der erste Schritt einander entgegen wäre?
Sergej Lawrow: Wir verhalten uns zu all dem tatsächlich sozusagen kreativ. Wir bitten unsere europäischen und amerikanischen Partner nicht um die Aufhebung der Wirtschafts- bzw. Finanzsanktionen, die gegen einzelne Wirtschaftsbereiche gerichtet sind. Wir sind überzeugt, dass so etwas unwürdig für die Russische Föderation wäre. Wer diese Sanktionen verhängt hat, muss selbst entscheiden, wie der Ausweg aus dieser Sackgasse in den gegenseitigen Beziehungen sein sollte. Und es wird inzwischen tatsächlich nach Auswegen aus dieser Sackgasse gesucht, was die Teilnehmerliste des morgen beginnenden Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums beweist.
Wir hören von unseren europäischen Kollegen immer wieder, die Sanktionen könnten aufgehoben werden, sobald die Minsker Vereinbarungen umgesetzt worden seien, wobei sie offenbar wirklich davon ausgehen, dass nur Russland sie umsetzen müsste. Das haben unsere europäischen Kollegen ausgedacht, um einen Kompromiss zu ermöglichen zwischen denjenigen, die gegen die weiteren Sanktionen auftraten, und denjenigen, die auf den fristlosen Sanktionen bestanden – selbst nach der Regelung der Ukraine-Krise, weil sich Russland angeblich „in der internationalen Arena schlecht verhält“. Das ist kein Scherz von mir – das ist wirklich ein Zitat aus einer Diskussion innerhalb der EU. Das ist wirklich so: Die Europäer diskutieren inzwischen heftig darüber.
Wir werden nie das Thema Sanktionen als erste aufwerfen. Die Europäer behaupten, bei uns würde sich alles wieder normalisieren, wenn die Ukraine-Krise geregelt werde, und überreden einander, dass Russland wieder in die G8 aufgenommen werden sollte. Wir werden nie mit solchen Initiativen auftreten. Wir haben schon oft genug gehört, dass kein „Business as usual“ möglich wäre. Und das ist vor allem unsere Position. Wir werden nicht mehr warten, bis man uns irgendwohin einlädt. Wir werden unsere außenpolitischen Aufgaben im Kontext der Kooperation mit den Europäern lösen – auf Basis des Prinzips der absoluten Gleichberechtigung und des beiderseitigen Nutzens.
Neben den Wirtschafts- bzw. Finanzsanktionen muss ich noch etwas erwähnen: Reiseverbote für Parlamentarier – das ist etwas absolut Unerhörtes. Meines Erachtens ist es wichtig, diese Beschränkungen aufzuheben, vor allem weil die Volksvertreter aus Europa und Eurasien dann direkt kommunizieren können. Wer solche Sanktionen verhängt, hat offenbar Angst vor direkten Kontakten der Parlamentarier. Das ist beschämend.
Frage: Sehr geehrter Herr Lawrow, erst gestern hat eine britische PR-Firma, die möglicherweise nicht gerade freundlich uns gegenüber ist, zum ersten Mal Russland auf die Liste von 30 Ländern gesetzt, die die „Soft Power“ für die Voranbringung ihrer Werte auf der Welt besonders effizient einsetzen. Dafür arbeitet vieles – von der Intensivierung der Arbeit mit unseren Landsleuten im Ausland und bis zur Erweiterung des Sendeumfangs von Russia Today. Diese Errungenschaften müssen allerdings ständig verteidigt werden. Meine Frage ist: Falls die Informationen über das Verbot der kostenlosen Sendungen von Russia Today durch die neuen argentinischen Behörden bestätigt werden sollten, dürfen wir damit rechnen, dass diese unfreundliche Geste nicht unbeantwortet bleibt?
Sergej Lawrow: Meines Erachtens sollte die Effizienz der so genannten „Soft Power“ nicht mit diesen oder jenen Ratings, sondern mit konkreten Ergebnissen in verschiedenen Ländern gemessen werden. Die Tatsache, dass es in Großbritannien und den USA öfter Versuche gab, dem Sender Russia Today Steine in den Weg zu legen, spricht für sich selbst. Das bedeutet, dass dieser Sender effizient ist. Seine Mitarbeiter haben bewiesen, dass sie der Bevölkerung der jeweiligen Länder den alternativen Standpunkt vermitteln, und das beunruhigt die Behörden in diesen Ländern. Auch die Tatsache, dass in der Ukraine praktisch alle russischen bzw. russischsprachigen Medien verboten wurden, spricht dafür, dass ihre Arbeit effizient ist.
Was Argentinien angeht, so haben uns offizielle Vertreter dieses Landes gleich nach den ersten Mitteilungen über die Streichung von Russia Today aus der Liste der kostenlosen Sender informiert, dass diese Entscheidung noch nicht getroffen worden sei und dass derzeit erwogen werde, wie einige regionale TV-Sender in dieses kostenlose Netzwerk inkorporiert werden könnten. Und sie baten uns, diese Situation nicht als eine antirussische Aktion wahrzunehmen, als wäre alles bereits entschieden worden. Wir werden schon sehen, wie es weiter geht. Sollte diese Idee der zuständigen Behörden in die Tat umgesetzt werden, werden wir das natürlich nicht als eine freundliche Geste betrachten können, die der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und Argentinien entspricht, und nicht als eine Geste, die der Atmosphäre entsprechen würde, in der unsere Präsidenten unlängst telefonierten und die Nachhaltigkeit unserer Beziehungen bestätigten. Wir werden es schon sehen.
Frage: Herr Lawrow, wir sind Ihnen natürlich sehr dankbar für Ihr Zusammenwirken, unter anderem in der Situation um Syrien, vor allem mit dem Präsidentenbeauftragten für den Nahen Osten und die Länder Afrikas, Vizeaußenminister Michail Bogdanow.
Ich weiß, dass Sie sich an der Vorbereitung eines großen China-Besuchs des Präsidenten Wladimir Putin beteiligen. Vor kurzem fanden die Treffen des Vorsitzenden der Staatsduma, Sergej Naryschkin, und des Vorsitzenden des ZK der KPRF, Gennadi Sjuganow, mit der chinesischen Führung statt. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage: Wie sind Ihres Erachtens die Möglichkeiten für die Förderung des Zusammenwirkens des Parlaments und des Außenministeriums Russlands bei der Lösung von äußerst wichtigen Fragen unserer Kooperation mit China – vor allem im Kontext der Terrorbekämpfung und der gemeinsamen Projekte auf Gebieten wie Flugzeugbau und Weltraumforschung? Könnte Ihres Erachtens das Parlament an der Lösung dieser Fragen, vor allem im Vorfeld des Präsidentenbesuchs, intensiver teilnehmen?
Sergej Lawrow: Ich bin überzeugt, dass das Unterpfand unseres Erfolgs in der internationalen Arena die Förderung der gut koordinierten Aktivitäten aller Machtzweige ist. Angesichts der besonderen Beziehungen zwischen der Staatsduma und verschiedenen Fraktionen auf der einen Seite und den chinesischen Gesetzgebern auf der anderen Seite bin ich mir sicher, dass dies eine wichtige Komponente unserer Strategie in der chinesischen Richtung ist. Unsere Beziehungen mit der Volksrepublik China erleben eine richtige Renaissance und wohl die besten Zeiten in der ganzen Geschichte. Unsere Beziehungen umfassen alle möglichen Bereiche. China ist das einzige Land, mit dem wir einen dermaßen umfassenden Mechanismus haben, so dass praktisch keine Bereiche im Abseits bleiben. Unser Vizepremier leitet mehrere Ausschüsse, die an der Vorbereitung der jährlichen Treffen der Ministerpräsidenten beteiligt sind, während die Ministerpräsidenten ihrerseits die wichtigsten Fragen für jährliche Gipfeltreffen vorbereiten. Unsere gemeinsamen Projekte mit der Volksrepublik sind wirklich beeindruckend und umfassen immer neue High-Tech-Bereiche: Flugzeugbau, Atomenergetik. Ich bin überzeugt, dass die Staatsduma und der Föderationsrat nicht nur die unterzeichneten Abkommen ratifizieren könnten. Wir sind daran interessiert, dass wir bei der Vorbereitung von neuen Ideen und Initiativen Ihre Einschätzungen berücksichtigen. Und meines Erachtens wird diese Arbeit auch geführt. Wir sind bereit, sie weiter zu intensivieren.
Frage: Es gibt Medienberichte, und auch an uns wenden sich Bürger, deren Verwandte, Staatsbürger Russlands, in der Ukraine ohne jegliche Gründe festgenommen wurden. Davon werden alle betroffen, darunter sogar Rentner und Frauen. Dabei werden keine konsularischen Regeln berücksichtigt, und unsere Seite wird darüber manchmal gar nicht informiert - das ist ja wie im Mittelalter. Aus wahren und ausgedachten Gründen werden alle Menschen festgenommen, die russische Pässe haben. Dabei nehmen unsere Nachbarn natürlich Rücksicht auf ihre Mentoren aus Übersee: Einen Fall fabrizieren, jemanden in die Falle locken und festnehmen, wie das Viktor But und Konstantin Jaroschenko passiert ist.
In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage: Verfügt das Außenministerium Russlands über zuverlässige Informationen bzw. über die Listen der in der Ukraine festgenommenen Russen? Es geht nicht um allgemein bekannte Prozesse, sondern um Menschen, die so gut wie vermisst werden.
Sergej Lawrow: Diese Arbeit wird geführt, und daran beteiligt sich nicht nur das Außenministerium Russlands. Wir arbeiten auch mit anderen Behörden zusammen. Wir haben eine solche Liste, die allerdings möglicherweise nicht vollständig ist. Denn oft wird über das Verschwinden unserer Bürger gar nicht mitgeteilt. Selbst ihre Verwandten wissen darüber nichts, und wenn diese Menschen keine Verwandten haben, dann können wir solche Informationen erst gar nicht bekommen. Wir verlangen natürlich ständig Klarheit in diesen Fragen. Im Rahmen der bilateralen Kontaktgruppe werden die Perspektiven des Gefangenenaustausches abgesprochen, damit alle festgenommenen Personen – egal ob im Rahmen der Minsker Vereinbarungen oder nicht – identifiziert werden. Wir sind bereit, uns mit dem Schicksal jedes einzelnen von unseren Mitbürgern zu beschäftigen. Derzeit werde ich über keine Einzelheiten reden, aber diese Frage ist absolut legitim, und das ist einer der wichtigsten Bereiche unserer Arbeit in der ukrainischen, amerikanischen und europäischen Richtung – denn ohne das Zusammenwirken mit dem Westen können wir wohl kaum damit rechnen, dass Kiew auf diesem Gebiet normal handelt.
Frage: In Sotschi fanden vor anderthalb Jahren die Zweiten Weltspiele unserer jungen Landsleute statt, die im Rahmen eines von der Partei Geeintes Russland initiierten Projekts ausgetragen wurden. Die Kinder waren entzückt. Diesmal kamen etwa 600 Kinder aus 46 Ländern nach Sotschi. Diese Spiele wurden nicht nur von den Kindern selbst, sondern auch von allen sehr positiv eingeschätzt, die diese Spiele beobachtet hatten, darunter von Präsident Wladimir Putin. Könnten diese Spiele Ihres Erachtens traditionell gemacht werden, denn sie werden nicht so stark von der Bürokratie beeinflusst und werden von Kindern in vielen Ländern sehr positiv wahrgenommen. Dürfen wir bei der Vorbereitung der Dritten Kinderspiele mit Ihrer Unterstützung rechnen?
Sergej Lawrow: Wir hatten von Anfang an diese Initiative von Geeintes Russland befürwortet, noch als die ersten solchen Spiele stattfanden. Wir hatten noch keine solchen Erfahrungen, haben aber einen großen Erfolg der Spiele gesichert, so dass sie inzwischen keine Einzelveranstaltung geblieben sind. Das ist ein großes Fest für Kinder. Das ist die beste Einschätzung davon, was auf Initiative von Geeintes Russland gemacht wurde. Ich bin dafür, dass diese Spiele jedes Jahr organisiert werden. Wir werden dazu beitragen, unter anderem im Rahmen der Beziehungen zwischen dem Außenministerium und der Staatsduma, der Partei Geeintes Russland sowie im Rahmen der Regierungskommission für die Angelegenheiten der Landsleute im Ausland, deren ständiges Mitglied Sie selbst sind. Wir sind dafür, dass solche Initiativen zu regelmäßigen Veranstaltungen werden.
Frage: Viele beobachten besorgt, wie Flüchtlinge mit einer anderen Kultur und anderen Lebensansichten das „gute alte“ Europa überfüllen. Dadurch wird nicht nur das Wirtschafts- und Sozialsystem der europäischen Länder unter Druck gesetzt, sondern auch die soziale und demografische Struktur der Bevölkerung verändert. Denn für das Überleben bzw. für die Entwicklung jeder Nation müsste das Geburtenkoeffizient bei mindestens 2,1 Prozent liegen. In Europa liegt es aber bei 1,35 Prozent. Das bedeutet, dass sich die Bevölkerungsstruktur Europas in absehbarer Zeit stark verändern könnte. Theoretisch droht auch Russland diese Gefahr. Welche Maßnahmen wären nach Ihrer Auffassung im außenpolitischen Bereich nötig, damit die russische Nation auch weiter besteht?
Sergej Lawrow: Vor allem sind wir selbst darüber sehr besorgt. Bei anderen Ländern können wir ihre positiven Erfahrungen für uns abschauen, darunter die Förderung der Geburtenzahl und den Respekt für Familie, die Propaganda des gesunden Lebensstils, darunter der gesunden Beziehungen zwischen Eheleuten, zwischen Männern und Frauen. In Russland werden Maßnahmen zur Förderung der Geburtenzahl ergriffen. Sie wissen ja über das so genannte „Mutterkapital“. Mit Ihrer Hilfe wurde dieses Projekt nicht nur verlängert – es gibt inzwischen immer neue Bereiche, in denen diese Mittel verwendet werden können.
Was das Außenministerium angeht, so treten wir bei internationalen Diskussionen über Probleme der Mutterschaft, Kindheit und Familie immer dafür ein, dass diese Probleme nicht in den Schatten gedrängt werden und dass sie nicht im Sinne der neuen übermäßigen Großzügigkeit interpretiert werden, die inzwischen für Europa typisch sind. Hoffentlich werden auch zu uns Menschen kommen. Wir haben ein Programm zur Förderung der freiwilligen Einwanderung der im Ausland ansässigen Landsleute. Die Effizienz dieses Programms steht außer Frage. Ich denke, das ist eine der Quellen für die Aufrechterhaltung der Nation, denn zu uns kommen überwiegend Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die einst in unserem gemeinsamen Land lebten, die unsere Kultur als ihre eigene Kultur wahrnehmen, die Russisch sprechen und die Geschichte unseres Landes kennen.
Falls Sie konkrete Ideen haben, die das Außenministerium einsetzen könnte, um dieses große Ziel zu erreichen, dann wären wir Ihnen dafür dankbar.
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Herr Naryschkin, vielen Dank. Ehrlich gesagt, hatte ich gar nicht vor, irgendwelche Abschlussworte zu sagen. Ich möchte mich nur bei allen Abgeordneten und allen Fraktionen für ihre Aufmerksamkeit für die Arbeit des Außenministeriums bedanken, wie auch für ihre Hinweise, auf die wir möglichst Rücksicht nehmen. Wir lassen uns dann viele interessante Ideen einfallen. Jedenfalls ist das Zusammenwirken mit der Staatsduma immer sehr fördernd. Ich bin mir sicher, dass dies auch diesmal der Fall sei wird.
Vielen Dank nochmals für Ihre Zusammenarbeit.