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Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für die Sendung „Bolschaja Igra“ („Großes Spiel“) des Senders „Perwy Kanal“, Moskau, 13. Januar 2022

27-13-01-2022

Wjatscheslaw Nikonow: Wir befinden uns nicht in unserem gewöhnlichen Studio in „Ostankino“, sondern im historischen Gebäude des Außenministeriums Russlands in der Spiridonowka-Straße. Hier wurde der Vertrag über das Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter dem Wasser unterzeichnet, und 1996 fand hier das erste G8-Gipfeltreffen statt.

Wir besprechen Probleme des völlig unerwartet begonnenen Jahres 2022. Alle hatten erwartet, es würde rasant beginnen, aber niemand hätte gedacht, dass dermaßen rasant. Im Mittelpunkt dieser Ereignisse steht der Mann, der einer der einflussreichsten Politiker, Diplomaten in unserem Land und in der Welt ist: Sergej Lawrow. Dimitri Simes ist uns aus Washington zugeschaltet.

Derzeit sind alle Blicke auf die Verhandlungen gerichtet, die Ihre Stellvertreter in Genf, Brüssel und heute in Wien geführt haben – die Verhandlungen über Fragen der europäischen Sicherheit. Es sieht so aus, dass das Imperativ der russischen Vorschläge, die in den Entwürfen des Sicherheitsvertrags mit den USA und des Abkommens mit den Nato-Ländern zum Ausdruck gebracht wurden, die westlichen Partner vorerst nicht erreicht hat. Sie sind es nicht gewohnt, gleichberechtigt nicht nur unter ihren eigenen Bedingungen zu verhandeln. So, wie diese Verhandlungen verlaufen sind, wie lassen sie sich bezeichnen? Als Erfolg oder als Scheitern? Verlaufen sie besser oder schlechter, oder ungefähr so, wie Sie auch erwartet hatten? Und wie geht es weiter?

Sergej Lawrow: In diesem Gebäude fand noch ein Ereignis statt, das für die Weltgeschichte von einer großen Bedeutung war. Im Herbst 1943 haben die Außenminister der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA eine Erklärung unterzeichnet, in der zum ersten Mal nach dem Sieg gegen den Faschismus die Notwendigkeit der Bildung einer Weltorganisation erwähnt wurde. Damals gab es noch nicht den Begriff „UNO“. Das ist symbolisch. Heute besprechen wir die Situation, die großenteils deswegen entstanden ist, weil der Westen versucht, die universale Legitimität der UNO infrage zu stellen, statt des Völkerrechts seine „Regeln“ erfindet, nach denen alle anderen leben sollten.

Die Verhandlungen widerspiegeln eine ernsthafte Konfrontation in der internationalen Arena: den Versuch des Westens, seine Dominanz zu untermauern und kompromisslos alles zu erreichen, was er für nötig hält, um seine Interessen voranzubringen. Das kam im Laufe der Verhandlungen klar und deutlich zum Ausdruck. Ich kann bestätigen, dass sie sachlich gewesen sind. Die ziemlich harte, teilweise arrogante, sture und kompromisslose Position des Westens wurde im Allgemeinen ruhig und sachlich geschildert. Das lässt damit rechnen, dass man in Washington die stattgefundenen Verhandlungen überdenken wird.

Genauso hart haben wir Russlands Position geschildert. Wir hatten Argumente, die der Westen nicht hat. Sie galten dem Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit. Die USA und ihre Kollegen aus der Nordatlantischen Allianz beriefen sich während der Gespräche darauf, dass unsere wichtigste Forderung nach juristischen Garantien der Nichterweiterung der Nato nach Osten nicht erfüllt werden könne. Denn in der Nato gebe es die Ordnung: Nur die Mitgliedsländer können entscheiden, wen sie aufnehmen und wen nicht, falls ein solcher Antrag komme. Aber wir verwiesen ihnen beharrlich nicht auf die Nato-Ordnung, sondern auf die Vereinbarung, die im Rahmen der ganzen Euroatlantischen Gemeinschaft und im Rahmen der OSZE erarbeitet worden waren. Sie entziffern tatsächlich die Unteilbarkeit der Sicherheit als Freiheit jedes Landes, sich Verbündete auszuwählen. Aber im selben Satz – ohne jegliche Punkte oder Kommas – steht auch geschrieben: unter der Bedingung, dass die Mitgliedsländer in diesem Kontext „ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen“. Kein einziger Staat bzw. kein einziges Staatenbündnis darf dominante Positionen in der Euroatlantischen Region beanspruchen. Das alles wurde in einem Paket vereinbart und schlussendlich bei einem OSZE-Gipfel in Istanbul im Jahr 1999 bestätigt, wobei die Charta der europäischen Sicherheit verabschiedet wurde. Der Westen greift nur darauf zurück, was für ihn günstig ist. Wir gehen davon aus, dass die Freiheit zur Wahl von Bündnissen ein nichtwegzudenkender Teil der Unzulässigkeit von Schritten ist, die die Sicherheit Russlands und jedes anderen Staates zerstören würden.

Wjatscheslaw Nikonow: Aber trotzdem: Was hatten Sie erwartet? Und sind die Verhandlungen besser oder schlechter verlaufen?

Sergej Lawrow: Wie wir erwartet hatten. Ich denke, wir kennen die amerikanischen Unterhändler gut genug. Wir hatten uns mit ihnen häufiger aus verschiedenen Anlässen getroffen, unter anderem im Kontext der Verhandlungen über das iranische Atomprogramm, des New START-Vertrags. Wir hatten uns ungefähr vorgestellt, was das für Gespräche werden könnten. Für uns war es prinzipiell wichtig, den unmittelbaren Auftrag Präsident Putins umzusetzen. Er hatte gesagt, dass wir diese Fragen, die die ganze Architektur der europäischen Sicherheit betreffen, maximal hart aufwerfen sollten. Dabei ging es nicht nur um die einseitige Forderung Russlands, es nicht zu stören und nichts zu tun, was unsere Unzufriedenheit hervorruft, sondern auch um die Prinzipien, die auf Förderung der Sicherheit aller Seiten ausgerichtet sind, wobei jemands Interessen beeinträchtigt und jemands Sicherheit gefährdet werden könnten.

Dimitri Simes: Sie hatten nicht erwartet (und konnten nicht erwarten), dass die USA und die Nato Verhandlungen über das Verbot des Nato-Beitritts der Länder Osteuropas, vor allem der Ukraine und Georgiens, zustimmen würden. Sie haben völlig richtig gesagt, dass die Ergebnisse vorhersehbar gewesen seien. Bei Gesprächen mit Vertretern der Administration und des Kongresses in Washington wird klar, die Reaktion Russlands kaum vorhersagbar ist. Es wurde vorgeschlagen, die Verhandlungen über Raketen mittlerer Reichweite weiter zu führen (jedenfalls sagt man das im US-Außenministerium und im Weißen Haus), über mögliche Einschränkung von Militärmanövern, über ihre bessere Benachrichtigung über Militärmanöver. Was die Nato-Erweiterung, die Verlegung ihrer Infrastruktur nach Osteuropa angeht, so wurde Russland ein vehementes „Nein“ gesagt. Alle interessieren sich dafür, wie Russlands Antwort sein wird. Werden die Verhandlungen fortgesetzt, oder geht es zurück, oder lassen sich andere Handlungen erwarten, beispielsweise im militärtechnischen oder militärischen Bereich.

Sergej Lawrow: Die von Präsident Putin bestimmte Position besteht in juristischen Garantien der Nichterweiterung der Nato nach Osten, in juristischen Garantien der Nichtaufstellung von Offensivrüstungen auf den an uns grenzenden Territorien, die für Russlands Sicherheit gefährlich wären, sowie in der prinzipiellen Rückkehr zur europäischen Sicherheitsarchitektur von 1997, als die Russland-Nato-Grundakte unterzeichnet wurde. Auf ihrer Basis wurde später der Russland-Nato-Rat gegründet. Das sind die drei wichtigsten Forderungen. Die anderen Vorschläge hängen davon ab, wie die Gespräche über diese drei Richtungen verlaufen.

Die Nato-Mitglieder und die Amerikaner lehnen tatsächlich unser Recht kategorisch ab, auf einer Nichterweiterung der Nato zu bestehen. Ich habe bereits die Argumente angeführt, die zeigen, dass sich unsere Positionen nicht auf Nato-Unterlagen stützen (wir haben damit nichts zu tun, wie auch die mit uns nichts zu tun haben), sondern auf Dokumente, die auf höchster Ebene in der OSZE verabschiedet wurden, insbesondere beim Gipfeltreffen 1999 in Istanbul, Wladimir Putin die Freiheit zur Wahl von Bündnissen unmittelbar durch die Notwendigkeit bedingt ist, die Unteilbarkeit der Sicherheit zu gewährleisten, damit niemand irgendwelche Maßnahmen in eigenen Interessen auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten ergreifen dürfte.

Wenn wir beim Thema OSZE sind: Im Jahr 1975, als die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet wurde, sagte der frühere US-Präsident Gerald Ford: „Die Geschichte wird über diese Beratung nicht daran urteilen, was wir hier heute sagen, sondern daran, was wir morgen tun; nicht an den Versprechen, die wir geben, sondern an den Versprechen, die wir erfüllen.“ Hinsichtlich der Nato-Nichterweiterung gab man uns solche Versprechen. Der frühere US-Außenminister James Baker sagte im Februar 1990 dem Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, die militärische Jurisdiktion der Nato würde sich um keinen einzigen Zoll östlich der Oder erweitern.  Später sprach der ehemalige britische Premierminister John Major mit dem damaligen Verteidigungsminister der Sowjetunion, Dmitri Jasow. Auf Jasows direkte Frage, ob wir eine positive Reaktion auf die damaligen Forderungen Polens und Ungarns, sie sollten in die Nato aufgenommen werden, fürchten müssten, beteuerte John Major, es hätte keine diesbezüglichen Pläne gegeben, und das stünde nicht zur Diskussion.

Für diejenigen, die sagen, niemand hätte jemandem etwas versprochen, wurde das alles in den Erinnerungen des britischen Botschafters in Russland in den späten 1990er-Jahren, Rodric Braithwaite, beschrieben, die 2002 erschienen. Es ist komisch, dass niemand darauf zurückgegriffen hat. Dort steht geschrieben, dass dies alles passiert ist, dass diese Versprechen Michail Gorbatschow und anderen unseren Leadern von Personen gegeben worden sind, die es damals eilig hatten und sich vor allem auf die Lösung von anderen Aufgaben konzentrierten, die dringend gelöst werden mussten. Und als sie diese Versprechen gaben, wollten sie angeblich niemanden verwirren. Das ist ja eine faszinierende englische Erläuterung dieser Lügen.

Wir hoffen, dass die Versprechen, die jetzt in Genf und Brüssel gegeben wurden, in Erfüllung gehen werden. Es geht dabei darum, dass die USA und die Nato ihre Vorschläge auf dem Papier formulieren werden. Wir haben ihnen klar und deutlich – und mehrmals – erläutert, dass wir eine Reaktion auf unsere Dokumente brauchen – Artikel für Artikel. Falls irgendeine Bestimmung nicht passt, dann sollte man uns erklären, warum sie nicht passt, und zwar auf dem Papier. Falls etwas mit bestimmten Veränderungen passt, dann sollte man das auch schriftlich formulieren.  Wenn man etwas hinzufügen oder streichen will, dann haben wir dieselbe Bitte. Wir haben unsere Überlegungen vor einem Monat schriftlich geschildert. In Washington und Brüssel hatte man genug Zeit. Die einen und auch die anderen versprachen uns, ihre Reaktionen auf dem Papier zusammenzufassen.

Wjatscheslaw Nikonow: Ein Monat ist inzwischen vorbei, und die Reaktionen bleiben vorerst aus. Es gab sogar Erklärungen, dass nicht alle Mitglieder der US-Delegation die Möglichkeit gehabt hätten, unsere Vorschläge zur Kenntnis zu nehmen. Es ist klar, dass der Westen (und das war auch zu erwarten) jetzt dazu tendiert, die bestehenden Vorschläge weg bzw. kaputtzureden, auf das Niveau der Prinzipien zu gehen und konkreten Gesprächen auszuweichen. Wie lange können wir noch auf Gegenvorschläge warten? Wie lange können die Verhandlungen noch gehen? Wie lange können wir die Verhandlungen führen, um praktische Entscheidungen zu treffen, von denen Präsident Putin sprach?

Sergej Lawrow: Die Verhandlungen mit den USA haben erst vor drei Tagen begonnen, und mit der Nato fanden sie gestern statt. Die Amerikaner versprachen, sich Mühe zu geben (allerdings sagten wir ihnen, sie sollten sich viel Mühe geben) und ihre Gegenvorschläge in der nächsten Woche zu machen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich im Namen der Nordatlantischen Allianz auch bereit, seine Reaktion auf dem Papier zu schildern. Ich denke, diese kommt innerhalb einer Woche. Und dann werden ich und Verteidigungsminister Sergej Schoigu Präsident Putin darüber berichten, denn wir handeln in seinem direkten Auftrag – das war seine Initiative. Und danach werden wir uns entscheiden, wie wir darauf reagieren, was uns unsere westlichen Partner als Gegeninitiativen vorgeschlagen haben.

Dimitri Simes: Wenn ich richtig verstanden habe, halten Sie es für möglich und sinnvoll, die Verhandlungen fortzusetzen. Sie gehen davon aus, dass den nächsten Schritt Washington und Brüssel machen sollten – und Russland ihre Gegenvorschläge schriftlich vorlegen. Ich verstehe nicht ganz: Das Weiße Haus beschreibt klar und deutlich, was man gegenüber Russland tun würde, falls es die Vorschläge der USA und der Nato nicht annehmen sollte. Es werden konkrete Listen von Sanktionen veröffentlicht. Heute wird eine von ihnen im US-Senat abgestimmt werden. Höchstwahrscheinlich wird die Abstimmung negativ ausfallen, weil das Weiße Haus dagegen ist. Aber es gibt auch eine andere Liste, die mehr Erfolgschancen hat. Sie widerspiegelt schon nicht nur die Position der Demokraten im Senat, sondern auch die des Weißen Hauses. Was wird Moskau tun, falls Russlands Initiativen mehr oder weniger delikat wieder ignoriert werden?

Sergej Lawrow: Wir werden nie so vorgehen, wie die USA das tun. Für sie sind Sanktionen in den letzten Jahren zum wichtigsten außenpolitischen Instrument geworden. Bei ihnen ist die Kultur der Diplomatie und der Kompromisse praktisch verloren gegangen. Die US-Linie in der internationalen Arena wird von ihrer Überzeugung von der eigenen Außerordentlichkeit geprägt. Das wird nicht einmal negiert. Die US-Präsidenten (unter anderem Barack Obama) verwendeten ja den Begriff „außerordentliche Nation“. Das ist wohl gut, wenn der jungen Generation der Respekt für die eigene Geschichte beigebracht werden muss. In der Weltpolitik ist das aber absolut inakzeptabel.

Warum wir unsere Vorschläge vorgelegt haben? Wir wollen zu den Verhandlungsmethoden bei der Problemlösung zurückkehren. Wie Präsident Putin gesagt hat, hatte man uns seit den frühen 1990er-Jahren konsequent reingelegt. Jetzt fragt man, was wir ihm geben würden, wenn wir etwas in unseren Interessen tun wollen. Wir haben schon alles gegeben. Als wir damit rechneten, dass man im Westen Verständnis für uns haben würde, reagierten wir nicht besonders scharf auf äußerst grobe Verstöße gegen die Vereinbarungen zur Nichterweiterung der Nato in den Osten, wie auch auf viele andere Versprechen, die unter anderem auch dem Papier formuliert worden waren. Ich meine das Versprechen, keine permanenten Truppenverbände auf dem Territorium der neuen Nato-Mitglieder zu stationieren. Das ist alles schon lange her. Die Drohungen und Sanktionen sind dermaßen arrogant, dass jedermann das versteht. Solche absurden Beschlüsse fasste der US-Kongress schon häufiger. Ich kann nichts ausschließen. Wir werden reagieren. Präsident Putin sagte bei seinem jüngsten Telefonat mit US-Präsident Biden: Wenn sie diesen Weg gehen, würden sie unsere Beziehungen zerstören. Wir wollen niemandem Angst machen, werden aber unsere Entscheidungen angesichts der konkreten Situation treffen, die nach diesen oder jenen Handlungen der USA und ihrer westlichen Verbündeten entsteht.

Sie haben Mittel- und Kurzstreckenraketen angesprochen. Unter den Vorschlägen, die wir vorerst mündlich erhalten haben, haben die Amerikaner und Vertreter anderer Nato-Länder als Beispiele für mögliche weitere Verhandlungsbereiche Senkung von Risiken, Besprechung von Vertrauensmaßnahmen (unter anderem im Weltall und im Cyberraum) sowie Rüstungskontrolle erwähnt, insbesondere die Vereinbarung zur Einschränkung von Raketen mittlerer und kurzer Reichweite. Das ist ein kennzeichnender Moment. Vor mehr als zwei Jahren, nachdem die Amerikaner den INF-Vertrag zerstört hatten, haben wir praktisch allen OSZE-Mitgliedern die Initiative Präsident Putins vorgelegt. Wir schlugen ihnen vor, sich unserem einseitigen Moratorium für Stationierung von bodengestützten Mittel- und Kurzstreckenraketen anzuschließen. Die Bedingung dafür wäre der Verzicht auf Stationierung ähnlicher Systeme amerikanischer Produktion. Wir schlugen vor, daraus ein gemeinsames Moratorium zu machen. Sobald wir dieses Moratorium ausriefen, sagten die Amerikaner, Europäer und Nato-Mitglieder auf einmal, wir wären so listig und hätten bereits „Iskander“-Raketen im Gebiet Kaliningrad aufgestellt, und jetzt wollen wir nicht, dass sie eine solche Möglichkeit haben. In dieser Initiative schlug Präsident Putin vor zwei Jahren vor, Verifizierungsmaßnahmen abzusprechen, die unser Verteidigungsministerium später erläuterte. Wir meinten die Einladung nach Kaliningrad, wo zuständige Experten die dortigen „Iskander“-Systeme besichtigen und sich vergewissern könnten (wie wir öfter vorschlugen), dass die Verbote im Sinne des INF-Vertrags für diese Systeme nicht gelten. Dann könnten wir die US-Raketenabwehrstützpunkte in Rumänien und Polen besuchen und sehen, worum es sich bei den Raketenstartanlagen MK-41 handelt. Sie werden vom Konzern Lockheed Martin hergestellt, und auf seiner Website sind sie als Dual-use-Anlagen bezeichnet: für Raketenabwehr und für den Start von Marschflugkörpern. Das ist, was wir damals vorschlugen. Nato-Vertreter sagten darauf, das würde ihnen „nicht passen“. Nur der französische Präsident Emmanuel Macron zeigte sich gesprächsbereit, aber nicht unter vier Augen mit Russland. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg brachte wieder seine Zweifel zum Ausdruck und sagte, das wäre „ein schmutziger Vorschlag“. Und niemand sagte, dass die Initiative ursprünglich eine Verifizierung vorsah.

Jetzt ist das eines der konkreten Ergebnisse, die wir auf dem Papier formuliert bekommen wollen. Sie sagten selbst, sie wären bereit, das neue Regime hinsichtlich der Mittel- und Kurzstreckenraketen zu besprechen. Es gibt Nuancen, dass sie bereit wären, auf solche Raketen mit Atomsprengköpfen zu verzichten. Wenn es um Raketen mit üblichen Sprengköpfen geht, dann würden sie es sich überlegen. Es gibt keinen Unterschied: Eine Rakete mit oder ohne Atomsprengkopf würde als direkte Gefahr für die Russische Föderation wahrgenommen werden. Darüber muss man sprechen. Sie haben ein Element von unseren Vorschlägen „ausgepickt“ – die Initiative, auf Stationierung von Offensivrüstungen unweit der russischen Grenzen zu verzichten. Das wäre eine nützliche Sache, aber separat von der wichtigsten Forderung (Verzicht auf Nato-Osterweiterung) hätte sie keine wesentliche Bedeutung.

Wir werden auch weiter warten, aber das kann nicht lange dauern. Präsident Putin sagte das klar und deutlich in der erweiterten Sitzung des Kollegiums des Außenministeriums und auch bei seinen späteren Auftritten. Die Antwort sollte schnell erfolgen. Wir wissen, dass die Nato-Vertreter diesen ganzen Prozess verzögern wollen. Wir hörten, dass die Amerikaner und ihre wichtigsten Verbündeten die OSZE zur wichtigsten Plattform machen wollen. Ich kann dazu sagen, dass wir in die OSZE keine Initiativen eingebracht haben. Wir haben unsere Vorschläge vor allem dem Hauptakteur vorgelegt, der alle Entscheidungen trifft: den USA. Dann auch der Nato, denn mit der Nato haben wir die Grundakte. Und ausgerechnet mit der Allianz trafen wir die entsprechenden Vereinbarungen. An den Russland-Nato-Verhandlungen nahmen weder die EU noch die OSZE teil – sie richteten keine Informationen offiziell. Der EU-Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, macht sich „Sorgen“ (und zeigt sich dabei emotional und nicht besonders höflich) darüber, dass die EU „außen vor“ geblieben sei, dass Russland die EU ignoriere. Dabei ist er aber selbst ins Abseits geraten, wenn es um das Thema europäische Sicherheit geht. Meines Erachtens sind das alles Versuche, eine neue Vorgehensweise zu bilden, eine strategische Autonomie, einen Kompass – im Interesse Europas. Wir haben Verständnis für die Initiativen Frankreichs. Der EU wird niemand etwas erlauben. Die USA haben schon alles dafür getan, dass ihre „Unterstützungsgruppe“ in der Nato und der EU, die ihnen gehorcht, behauptet, die Allianz wäre die Sicherheitsstütze, insbesondere für die EU. Dennoch haben wir die Unterlagen den Amerikanern und der Nato überreicht.

Ich will, dass es klar wird: Wir haben keine Verhandlungen in der OSZE initiiert. Dort wird schon seit Jahren über die europäische Sicherheit diskutiert. Es gibt es ein spezielles Forum – den „strukturierten Dialog“, den die Deutschen vor einigen Jahren vorgeschlagen haben. Dieser läuft inzwischen ziemlich passiv, und alles dreht sich dort um die Ukraine. Wenn das Thema europäische Sicherheit aufgeworfen wird (Sondersitzungen finden jeden Monat oder sogar noch häufiger statt), reden unsere westlichen Freunde sofort über die Ukraine. Alles dreht sich um die Ukraine. Das war auch bei den Gesprächen in Genf und Brüssel bemerkbar. Bei den heutigen Ereignissen in Wien geht es um eine seit langem geplante Sitzung, in der Polen als neuer OSZE-Vorsitzende seine Prioritäten präsentieren wird. Lediglich das. Das ist ein routinemäßiger Prozess. Dort werden alle auftreten und auf Polens Prioritäten reagieren bzw. ihre Positionen dazu äußern. Unser Vertreter wird die Initiativen erwähnen, von denen wir jetzt reden. Aber das wichtigste Format ist „Russland-USA“ und teilweise auch „Russland-Nato“.

Wjatscheslaw Nikonow: Das war eine der wichtigsten Fragen, die alle stellten: Was hat die OSZE damit zu tun? Sie haben sehr gut erklärt, dass dies nicht unsere Initiative war, sondern eine Routineveranstaltung, deren Ziel war, den Prozess zu verzögern. Aber zurück zu unseren möglichen Antworten und Sanktionen. Bei den Verhandlungen in Genf und Wien hat die westliche Seite wohl die Frage gestellt: Wenn Ihr unsere Vorschläge ablehnt, was dann? Sind unsere Diplomaten bevollmächtigt, zu erläutern, was wir mit einer militärtechnischen Antwort meinen?

Sergej Lawrow: Ich habe schon gesagt, dass wir nicht nach dem Muster der Amerikaner handeln werden, die sagen, wir sollten unsere Truppen von irgendeinem Teil unseres souveränen Territoriums abziehen, und andernfalls würden sie gegen uns Sanktionen verhängen. Das ist unanständig.

Wjatscheslaw Nikonow: Unter Mitwirkung der US-Administration wurde ein Gesetzentwurf von Robert Menendez eingebracht, der Sanktionen im Falle einer russischen Aggression gegen die Ukraine vorsieht. Dabei geht es unter anderem um personelle Sanktionen gegen einige Personen, auch gegen den Präsidenten, den Außenminister Russlands usw., sowie gegen die größten, systembildenden Banken Russlands. Inwieweit normal ist es – im Voraus Sanktionen zu erklären? Und zwar vor dem Hintergrund der Gespräche über die europäische Sicherheit.

Sergej Lawrow: Das war ja eine Art Nervenzusammenbruch. Diese Personen reden permanent von ihrer eigenen Größe und haben den psychologischen Punkt erreicht, der sich schwer erklären lässt. Ich lese all diese Initiativen und muss mich sehr wundern. Das sind doch auf den ersten Blick erwachsene Menschen, seriöse Politiker, die seit Jahren im Kongress arbeiten.

Solche Schritte machen ihnen wenig Ehre. Da gibt es Vorschläge, Sanktionen unabhängig davon zu verhängen, ob es zu einem „Angriff“ auf die Ukraine kommen sollte oder nicht. Nur weil wir unsere Truppen von unserem Territorium nicht abziehen. Dabei erklärte die US-Delegation in Wien, die behauptete, das wäre der Schlüssel zu allen anderen Punkten, auf unsere Gegenfragen, die Amerikaner würden ihre Truppen samt Militärtechnik in Europa nicht von unseren Grenzen abziehen. Aus meiner Sicht muss das gar nicht kommentiert werden. Das ist ja der Hochmut bis zum Gehtnichtmehr. Was die Perspektive unserer Reaktion angeht, so kann ich abermals sagen: Wir werden nicht „mit dem Knüppel herumfuchteln“ und bei den Verhandlungen drohen, dass wir sie „schlagen“ würden, falls sie nicht so oder so handeln. Wir werden auf die reale Entwicklung der Situation reagieren. Die Amerikaner und auch Jens Stoltenberg behaupten jetzt mit schäumendem Mund, Vereinbarungen bzw. ihre Verpflichtungen zur Nichtweiterverbreitung der Nato kommen keineswegs infrage, denn es gehe um die Freiheit der Wahl von Bündnissen. Aber sehen Sie nur, was die USA bzw. der Westen gegenüber den Ländern tun, die an der Nato nicht beteiligt sind! So hat das EU-Parlament vor kurzem eine Resolution verabschiedet, die verlangt, die Entwicklung des russisch-weißrussischen Unionsstaates zu stoppen. Im Ernst, es gibt so ein Dokument! Die Amerikaner versuchen, vielen Ländern militärtechnische Kooperation mit uns zu verbieten: Sie drohen der Türkei, Indien, Indonesien, Ägypten nur deswegen mit Sanktionen, weil sie offen und unter kommerziellen Bedingungen Verträge mit uns abschließen. Nord Stream 2 – da geht es nicht einmal um die freie Wahl von Bündnissen, sondern einfach um die Freiheit zu üblichen kommerziellen Aktivitäten auf dem Weltmarkt. Und es stellt sich heraus, dass Deutschland keine Freiheit genießt, eigene wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. Gerade hier sind diese Doppelstandards ganz deutlich zu sehen.

Dimitri Simes: Man sagt, Russland sollte eine „Deeskalation“ an den ukrainischen Grenzen beginnen. Ist Russland bereit zu einer solchen „Deeskalation“? Wurde der Nato in diesem Zusammenhang etwas versprochen?

Sergej Lawrow: Was die freie Wahl von Bündnissen angeht, die Sie eben erwähnt und zugleich gesagt haben, Sie verstehe, dass dies gerade die Position der Nato ist. Wir können uns nicht an der Position der Nato richten. Wir richten uns an den Vereinbarungen, die alle OSZE-Länder, insbesondere alle Nato-Mitglieder, auf höchster Ebene unterzeichnet haben. Die Nordatlantische Allianz zeigt jetzt seine Unfähigkeit zu Vereinbarungen ganz deutlich. Und es ist nicht das erste Mal, dass unsere westliche Partner in eine solche Situation geraten. Sehen Sie sich einmal die Minsker Vereinbarungen an, die nicht erfüllt werden, oder auch die Vereinbarung zwischen Belgrad und Pristina zur Bildung der Gemeinschaft serbischer Munizipalitäten im Kosovo aus dem Jahr 2013, die damals unter Mitwirkung der Europäischen Union getroffen worden war. die EU zeigte seine Fähigkeit, Entscheidungen in der schwierigen Situation um Kosovo voranzubringen, aber die kosovarische Führung in Pristina erklärte, sie würde sie nicht erfüllen, obwohl alles unterzeichnet worden war. Und seit dieser Zeit zeigt sich die „Impotenz“ der Europäischen Union. Wir erinnern sie daran ab und an. Die Bildung einer solchen Gemeinschaft könnte helfen, die Spannung in dieser serbischen Region abzubauen. Die Gemeinschaft serbischer Munizipalitäten im Kosovo sah vor, dass die Serben dort autonome Rechte bekommen sollten, die wesentlich den Rechten ähneln, die in den Minsker Vereinbarungen für die Volksrepubliken Donezk und Lugansk vorgesehen sind. In beiden Fällen beteiligte sich die EU entscheidend an den Gesprächen. Bei den Gesprächen Belgrads und Pristinas trat sie als Vermittler auf, und im Kontext der Minsker Vereinbarungen handelten Deutschland und Frankreich im Namen der EU. Die beiden Vereinbarungen betreffen die Rechte von Slawen, vor allem der Orthodoxen. Und in beiden Fällen will die EU keinen Finger krumm machen, damit die Seite, die die Umsetzung der Abkommen ihre Verpflichtungen erfüllt.

Vergessen Sie auch nicht, was Antony Blinken zu Kasachstan gesagt hat. Er verlangte offen Erläuterungen, warum die Republik Friedensstifter aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit eingeladen hat. Was soll das? Darf etwa Montenegro beispielsweise der Nato beitreten, während Kasachstan, das seit 30 Jahren an der OVKS beteiligt ist, kein solches Recht hat? Und das war ja der Außenminister eines soliden Staates, der so etwas sagte…

Was Truppenverlegung auf unserem Territorium angeht, so reden die Amerikaner nicht mehr von Straßen, die wir nach ihrer Meinung nutzen sollten, und nicht nur vom „Abzug“ der Truppen von der Grenze zur Ukraine (wie sie sagen), sondern inzwischen davon, dass diese Truppenteile in ihre Kasernen zurückkehren sollten. Wendy Sherman sagte das gerade so – in der Öffentlichkeit, auf einer Pressekonferenz. Ich denke nicht, dass ich extra erläutern muss, dass solche Forderungen absolut unannehmbar sind. Wir werden sie nicht besprechen.

Wjatscheslaw Nikonow: Sehen Sie eine Verbindung zwischen den Ereignissen in Kasachstan und dem Beginn der Verhandlungen über die strategische Stabilität in Europa? Wie schätzen Sie die Handlungen Russlands, die Logik des Vorgehens der OVKS ein? Wurden unsere Positionen bei diesen Verhandlungen stärker, nachdem unsere Friedenskräfte in Kasachstan erschienen waren, oder nicht?

Sergej Lawrow: Es gibt ja viele Verschwörungstheorien. Einige dieser Theoretiker spekulieren damit, dass dies alles vom Westen organisiert worden sei, um unsere Positionen im Vorfeld der Gespräche in Genf und Brüssel zu schwächen. Andere werfen uns vor, wir hätten das provoziert, um nach Kasachstan „durchzudringen“ und es „unter Kontrolle zu nehmen“. Das alles stimmt jedoch nicht. Die Ursachen sind uns mehr oder weniger klar. Wir besprechen sie mit unseren kasachischen Kollegen und auch mit den anderen OVKS-Ländern. Die kasachischen Behörden führen gerade eine sehr gründliche und vollwertige Ermittlung durch. Ich bin sicher, dass sie die Ergebnisse veröffentlichen werden, wenn die Ermittlung zu Ende ist. Das hat gar nichts mit den „Machenschaften“ Russlands oder auch mit irgendwelchen Verschwörungstheorien zu tun. Das ist eine Angelegenheit Kasachstans. Nur-Sultan beschäftigt sich damit intensiv.

Was unsere Handlungen angeht, so gab es eine unmittelbare Bitte des Präsidenten Kassymschomart Tokajew, unseres Verbündeten, die sich auf die Verpflichtungen zurückführen ließ, die alle OVKS-Mitglieder bei der Unterzeichnung des Vertrags über kollektive Sicherheit und später der Satzung der OVKS übernommen hatten. Dass dies aus technischer und logistischer Sicht, wie auch aus der Sicht der Ergebnisse perfekt getan wurde, als dort die OVKS-Friedenstruppen stationiert wurden, um kritisch wichtige Objekte in Schutz zu nehmen, ist für alle offensichtlich. Der Präsident Kasachstans stellte fest, dass der größte Teil der Aufgaben erfüllt worden war, und kündigte eine Vereinbarung zur Heimkehr der Friedensstifter an. Das zeugt auch davon, dass die Ergebnisse ziemlich schnell und effizient erreicht wurden. Es war ja schrecklich, die Pogrome und brennende Häuser zu beobachten, zu sehen, wie Polizisten Köpfe abgeschlagen wurden, wie die Teilnehmer dieser Pogrome und die Terroristen mit Journalisten umgingen. Und für mich war es aus der Sicht meiner beruflichen Aufgaben noch schlimmer, die Reaktionen des Westens zu beobachten, auch der OSZE, die eine der Führungsrollen in den Fragen der europäischen Sicherheit beansprucht. Die Organisation hat auf die Ereignisse in Kasachstan völlig inadäquat reagiert und am Ende versucht, alle aufzufordern, die Journalistenrechte, Menschenrechte usw. einzuhalten. Das war ja schändlich. In solchen Situationen sollte man direkt die Gründe der Ereignisse zeigen. Aber die Ermittlung wird abgeschlossen werden, und dann sollen die Ergebnisse der Weltgemeinschaft präsentiert werden.

Dimitri Simes: Bleiben Sie immer noch optimistisch in Bezug auf die Verhandlungen mit Washington und Brüssel, wenn man die jüngsten Ereignisse bedenkt? Oder tun Sie  nur das, was Sie tun müssen? Denn Wendy Sherman sagt ja, Russland verstehe vielleicht, dass eine Einigung unmöglich sei, und versuche nur, etwas zu machen, um dann aber das zu tun, was es in der Ukraine für nötig halte. Haben Sie die Hoffnung auf den Erfolg der Verhandlungen?

Sergej Lawrow: Wir arbeiten immer an konkreten Aufgaben. Hoffnungen sind etwas für junge Menschen, und wir sind immerhin schon reif. Wir haben uns daran gewöhnt, von der grausamen Realität auszugehen. Diese besteht darin, dass man uns schriftliche Reaktionen versprochen hat. Wir werden diese abwarten und dann unsere weiteren Schritte bestimmen.

Was den Optimismus angeht, so haben wir ja das Sprichwort: „Was ist ein Pessimist? Ein gut informierter Optimist.“


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