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Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, mit der Rundschau des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik. Moskau, 02. September 2016

1517-02-09-2016

Frage: Herr Lawrow, guten Tag. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen, vor allem bezüglich der asiatischen Richtung der russischen Außenpolitik. Wie schätzen Sie ihren Zustand ein? Was ist noch wichtig, damit dieser Vektor zur richtigen Priorität wird? Manchmal entsteht der Eindruck, dass unsere westlichen Richtungen trotz der ganzen Wichtigkeit Asiens mehr Interesse und sozusagen Spieleifer hervorrufen.

Sergej Lawrow: In der Diplomatie ist so etwas wie Spieleifer inakzeptabel. Die Diplomatie stützt sich auf Kalkulationen, gut bedachte Schritte, die die möglichst effektive Verteidigung der nationalen Interessen ermöglichen.

Was die asiatische Richtung unserer Außenpolitik angeht, so gibt es sie tatsächlich, und da ist keine Spieleifer nötig. Wir sind eine eurasische Großmacht, deren größerer Teil in Asien liegt, wobei ausgerechnet dieser Teil weniger erschlossen als der europäische ist. Das ist nun einmal historisch so passiert, und zwar nicht weil wir Asien unterschätzen, sondern weil in der Zeit, als die aktuellen Strukturkomponenten unserer Wirtschaft formiert wurden, alle Aktivitäten – die wirtschaftlichen, technologischen usw. – in Europa und den USA konzentriert waren. Asien hat sich erst vor kurzem als neue „Lokomotive“ des Wirtschaftswachstums auf der Welt etabliert, als Quelle von neusten Technologien, Innovationen und der so genannten „Wirtschaft der Kenntnisse“. 60 Prozent des BIP entfallen auf den Asien-Pazifik-Raum, darunter auf die USA und natürlich alle asiatischen Länder. Die Hälfte des globalen Handels entfällt auch auf den Asien-Pazifik-Raum. Das Entwicklungszentrum verlegt sich – das ist objektiv so. Es ist unmöglich, sich eine Situation vorzustellen, wenn nur eine Region der Welt alle wirtschaftlichen und technologischen Prozesse auf der Welt generieren würde.

Dialektisch wird unsere Welt multipolar. Das ist an der Entstehung von neuen Zentren des Wirtschaftswachstums sichtbar, womit gleichzeitig auch die politische Einflusskraft wächst. Das entspricht voll und ganz unserer Philosophie, die sich auf die Berücksichtigung dieser objektiven Tendenz in unserer Arbeit stützt. Jetzt, wenn sich im Osten neue wirtschaftliche Möglichkeiten bieten, was mit der Entscheidung der russischen Führung zur intensiven Entwicklung Ostsibiriens und des Fernen Ostens zeitlich übereinstimmt, ist es äußerst wichtig, dass wir von diesen Möglichkeiten in Asien maximal profitieren. Zumal es dabei auch den politischen Faktor gibt: Europa wird von den USA unter Druck gesetzt und will seine Beziehungen mit uns minimieren. Aber in Europa gibt es ziemlich viele Länder, die das absolut bewusst tun, indem sie offen sagen, dass die Politik zur Bestrafung Russlands im Vordergrund vor den wirtschaftlichen Aspekten steht. Das widerspricht jedoch allem, was der Westen immer propagierte.

Im Osten gibt es sehr viele Strukturen, an denen sich Russland beteiligt, wo es keine diskriminierenden Vorgehensweisen uns gegenüber gibt. Das ist der APEC-Raum bzw. seine jährlichen Gipfeltreffen, wie auch die Ostasiatischen Gipfeltreffen – das ist zwar eine relativ junge Struktur, aber inzwischen ist sie populär geworden und befasst sich mit wirtschaftlichen, geopolitischen und militärpolitischen Fragen in dieser Region. Es wurden auch viele Strukturen im ASEAN-Raum gebildet, in denen der multilaterale Dialog geführt wird. Russland ist einer der Partner – neben den USA, China, Indien und der EU. Im ASEAN finden jedes Jahr regionale Foren für Sicherheitsprobleme statt. Es gibt auch die Beratung für Zusammenwirken und Vertrauensmaßnahmen in Asien, die einst vom Präsidenten Kasachstans initiiert wurde, wie auch eine ganze Reihe von anderen Mechanismen, darunter der Dialog für Zusammenarbeit in Asien. Es gibt viele solche Mechanismen, und wir halten sie für durchaus nützlich. Die Frage ist, wie diese Vielseitigkeit in dieser Region organisiert werden könnte. In Europa gibt es beispielsweise eine solche Organisation – die OSZE, in Lateinamerika gibt es die Gemeinschaft der Länder Lateinamerikas und der Karibik, in Afrika die Afrikanische Union. In Asien gibt es eine solche universale Struktur nicht. Und man sollte wohl auch nicht versuchen, sie künstlich zu schaffen.

Irgendwann wird es wohl von selbst passieren, dass diese verschiedenen Prozesse harmonisch werden. Ich rechne damit, dass dies passiert, wenn die Menschen verstehen, dass sie in der modernen Welt offen sein müssen, denn es stehen einander zwei Tendenzen gegenüber: die Offenheit und die Rückkehr zur Block-Psychologie, wenn geschlossene militärpolitische Blöcke gegründet werden.

In Asien gibt es verschiedene „Troikas“ unter Beteiligung der USA und ihrer Verbündeten. Dort wird die Transpazifische Wirtschaftspartnerschaft gebildet, die ein geschlossener Block sein würde, denn für die Länder, die nicht von Anfang an zu ihren Teilnehmern gehören, wird es äußerst schwierig, dem Bündnis beizutreten – nachdem die privilegierten Teilnehmer ihre eigenen Spielregeln bestimmt haben. Die Gründer solcher Bündnisse folgen oft der Logik der Ungleichheit.

Wir stellen da unsere offenen Vorgehensweisen gegenüber. Im Rahmen der Ostasiatischen Partnerschaft plädierten wir vor etwa sechs Jahren für einen Dialog ohne jegliche Verpflichtungen, um gemeinsame blockfreie Vorgehensweisen zu finden, die sich auf das Prinzip der Inklusivität stützen und die gleiche Sicherheit samt gleichen Wirtschaftsmöglichkeiten gewährleisten würden. Auffallend war, dass diese Initiative von allen Teilnehmern der Ostasiatischen Partnerschaft befürwortet wurde – selbst von unseren amerikanischen Partnern. Es haben bereits fünf Runden dieses Dialogs stattgefunden, darunter in Indonesien, Brunei, Kambodscha und China. Das ist zwar kein besonders intensiver Prozess, aber in Asien ist es unangebracht, bei der Bestimmung von rechtlichen Rahmen voreilig zu handeln. Die Traditionen, die unter anderem im ASEAN-Raum bestehen, müssen nun einmal respektiert werden.

Die Gesamtheit von Faktoren, das Interesse an der Entwicklung unseres Ostens, der Wirtschaftsaufschwung Asiens und des Asien-Pazifik-Raums samt der politischen Voreingenommenheit Europas haben die Situation vorbestimmt, die derzeit entstanden ist und uns neue Chancen gibt, die Entwicklung verschiedener Teile unseres Landes auszugleichen.

Frage: Sie haben eben die Rolle Asiens als Entwicklungs-„Lokomotive“ und neues Wirtschaftszentrum erwähnt. Was verstehen wir unter Eurasien? Was bedeutet es für uns? Wie sind seine Perspektiven?

Sergej Lawrow: Ich kann mich noch aus dem Geografie-Schulbuch erinnern, dass Eurasien der Kontinent ist, auf dem ganz Europa, Russland und noch jede Menge von Ländern liegen, darunter China, Indien, Pakistan, Bangladesch usw. Neben dem geografischen Namen hat Eurasien inzwischen eine wichtige Bedeutung aus der Sicht von Integrationsprozessen. Wir haben jetzt die Eurasische Wirtschaftsunion, die aus der langjährigen Arbeit zwecks Aufrechterhaltung aller positiven Momente resultiert, die die einstige sowjetische Wirtschaft den jetzigen unabhängigen Ländern gegeben hat, darunter die gegenseitige Abhängigkeit, relative Vorteile, Arbeitsverteilung usw. Es gibt auch die Zollunion. Die Eurasische Wirtschaftsunion ruft großes Interesse hervor. Sie vereinigt bereits fünf Länder, und andere unsere Nachbarn erwägen den Beitritt. Neben den jetzigen und potenziellen Teilnehmern besteht ein riesiges Interesse für Freihandelsgespräche mit der Eurasischen Wirtschaftsunion. Es wurde bereits das erste solche Abkommen mit Vietnam abgeschlossen. Auch manche ASEAN-Länder wie Singapur sind daran interessiert. Beim Russland-ASEAN-Gipfel in Sotschi im Mai wurden die Perspektiven von Beratungen über die Bildung eines Freihandelsraums zwischen Russland und dem ganzen ASEAN erörtert. Auch mehrere Dutzende andere Länder, darunter aus Lateinamerika und Asien, sind an Verhandlungen über eine Liberalisierung des Handels mit dem ASEAN interessiert. Mit zwölf von ihnen wurden bereits Memoranden über solche Beratungen unterschrieben. Mit weiteren fünf werden solche Dokumente vorbereitet.

Wir verstehen, dass die Eurasische Wirtschaftsunion ein riesiger Markt (insgesamt 180 Millionen Menschen) ist, ein großer Wirtschaftsblock mit Bodenschätzen, einem sehr attraktiven Arbeitsmarkt und hochgebildeten Arbeitskräften. Er ist für uns alle wertvoll. Es ist aber auch klar, dass es falsch wäre, wenn sie sich isoliert von allen anderen Ländern Eurasiens entwickeln würde. Deshalb wollten wir von Anfang an, dass die Eurasische Wirtschaftsunion für Kooperation mit anderen Strukturen steht, zumal in dieser Region Organisationen liegen, an denen ein und dieselben Länder wie an der Eurasischen Wirtschaftsunion beteiligt sind.

Ein sehr passendes Beispiel ist die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Wie Sie wissen, bemüht sich China derzeit neben der eurasischen Wirtschaftsintegration auch um die Voranbringung seiner Konzeption des Wirtschaftsgürtels „Seidenstraße“, die die Entwicklung der Wirtschafts- und Investitionskontakte, vor allem aber der Verkehrsinfrastruktur vorsieht. Diese Dinge betreffen unmittelbar unsere Interessen, wie auch die Interessen anderer Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion und der SCO. Die Logik, die hier angewandt wurde, ist den Konkurrenzversuchen entgegengesetzt (obwohl die Konkurrenz etwas ist, was man kaum umgehen kann). Es ist offensichtlich, dass wenn wir die Europäische Union, die SCO und die chinesische „Seidenstraße“-Initiative als Konkurrenz betrachten und versuchen würden, einseitig Vorteile zu ziehen, dann würden wir kaum etwas gewinnen. Unsere Logik und der Kurs des Präsidenten Wladimir Putin bestehen in der Notwendigkeit der Suche nach allseitig nützlichen Kompromissen.

Präsident Putin hat die Konzeption des Großen Eurasiens ausgerufen, die durch den Dialog aller interessierten Länder umgesetzt werden könnte. Zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und China hat bereits der Dialog über ein Wirtschaftskooperationsdokument begonnen. Der bei den Treffen des Präsidenten Russlands und des Vorsitzenden der Volksrepublik China initiierte Prozess geht schon voran – es handelt sich um die gegenseitige Anpassung der Eurasischen Wirtschaftsunion und der „Seidenstraße“-Konzeption. Noch mehr als das: Wir halten es für wichtig, schon jetzt festzulegen, dass an solchen Beratungen und Verhandlungen künftig auch andere Länder teilnehmen dürften. Präsident Putin trat mit der Initiative zur Überlegung auf, wie diese umfassende Wirtschafts-, Handels-, Investitions- und Verkehrskooperation unter Beteiligung der Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion, der SCO (samt Indien, Pakistan und dem Iran) und der ASEAN-Länder zu entwickeln wäre.

Zurück zum Anfang Ihrer Frage: Eurasien ist nicht nur Asien, aber auch Europa. Es ist nun einmal so passiert, dass die beiden auf einer „Platte“ der modernen Welt liegen. Obwohl unsere Beziehungen mit der EU nicht gerade die besten Zeiten erleben, wollen wir nicht so tun, als wären wir gekränkt oder beleidigt. Wir sind überzeugt, dass wir nicht von momentanen Skandalen, sondern von langfristigen Interessen ausgehen müssen. Es gibt keine Zweifel, dass zwischen der EU bzw. anderen europäischen Ländern und asiatischen Ländern immer neue Brücken errichtet werden sollten, damit sie alle miteinander kooperieren. Russland ist aus geopolitischen und geoökonomischen Gründen ein Land, das diese Prozesse voranbringen muss. Das Projekt des Großen Eurasiens, von dem wir reden, widerspricht keineswegs der Konzeption eines Europas zwischen dem Atlantik und dem Ural-Gebirge von Charles de Gaulle, sondern stimmt mit ihr durchaus überein. Jetzt hat auch Präsident Putin sie als Raum von Lissabon bis Wladiwostok konzipiert – das bleibt nach wie vor akut. Wenn die politische Konjunktur in den westlichen Ländern diese strategisch allseitig nützliche Entwicklung hindert, ist das anomal. Hoffentlich werden die westlichen Politiker bald verstehen, dass es zwar wichtig ist, alle vier oder fünf Jahre um die eigene Wiederwahl zu kämpfen, aber die Versuche, dank dem Russland-Hass populär zu werden, sind ein Weg ins nirgendwo.

Frage: Wie wichtig ist für Sie die Entwicklung von persönlichen Beziehungen mit Ihren Partnern? Können Sie sagen, dass viele Fragen am besten informell geregelt werden – wenn die gegenseitige Vertrauensatmosphäre da ist? Wenn ja, dann was für Partner ist für Sie der US-Außenminister John Kerry?

Sergej Lawrow: Ich denke, der älteste Beruf auf der Welt ist Diplomatie, egal was man über andere Berufe sagt. Bereits in der Urgesellschaft musste man verhandeln: wer heute auf die Mammutjagd geht, wer das Feuer macht, wer die Frauen beschützt usw. Das ist wirklich so: Die Diplomatie unterscheidet sich kaum von üblichen Beziehungen zwischen Freunden oder auch zwischen Menschen, die einander nicht besonders mögen. Es gibt Situationen, wenn Menschen kommunizieren müssen – auch mit denjenigen, die sie für ihre Gegner halten. Dasselbe gilt für Länder. Alles hängt davon ab, ob ein Mensch bereit ist, einem anderen zuzuhören.  Man muss nicht immer miteinander einverstanden sein, aber wenn man einander zuhört, ist es leichter, sich über seine eigene Vorgehensweise zu entscheiden. Das ist die einfachste Erklärung dafür, womit wir uns beschäftigen. Natürlich ist es leichter mit jemand zu sprechen, wenn es keine Videokameras, keine Journalisten und kein großes Aufsehen um dich herum gibt. Dabei ist es leichter, pragmatische Entscheidungen zu treffen, die durch die Interessenbalance bestimmt werden. Wie diese Entscheidungen „verpackt“ und der Öffentlichkeit präsentiert werden – das ist schon eine Frage der diplomatischen Technik.

Wir müssen natürlich Traditionen folgen. Wenn sich die Staatschefs, Außenminister treffen, sitzt man gewöhnlich an einem großen Tisch, es stehen Flaggen, die Leiter der Delegationen werden von Ministerns bzw. ihren Beratern umgeben, im Falle der Außenminister – Direktoren der Abteilungen u.a. Diese Form der Verhandlungen hat ihre Bedeutung, weil sie ermöglicht, Protokolle offiziell zu fixieren, damit danach niemand daran vergisst, was besprochen wurde. Dennoch werden reale Vereinbarungen in den meisten Fällen erreicht, wenn die Leiter der Delegationen nach einer öffentlichen Sitzung mit ein bzw. zwei Beratern sich entfernen, alleine sprechen ohne sich darum zu kümmern, wie ihre Worte von Journalisten wahrgenommen werden bzw. darüber Spekulationen auftauchen.

Ich bin davon überzeugt, dass die Öffentlichkeit immer in Diplomatie anwesend sein soll (ohne dies klappt es nicht), doch eine Kombination aus Öffentlichkeit und Vertraulichkeit bringt wohl das beste Ergebnis. Das betrifft in vielerlei Hinsicht auch meine Beziehungen zum Außenminister der USA, John Kerry, den ich schon lange kenne, noch als er Senator war und nicht dachte, dass er Außenminister wird. Damals kämpfte er um das Recht, US-Präsident zu werden, jedoch nicht Außenminister. Wir unterhielten uns in ganz verschiedenen Situationen, darunter absolut informellen. Es gibt solche Form der Arbeit, wenn sich Politiker, Diplomaten, Parlamentarier ohne Ankündigung irgendwo in einem ruhigen Ort am Ufer eines Sees oder irgendwo noch versammeln und anderthalb Tage zusammen verbringen – grillen, sprechen, lernen einander kennen. Wir mit John Kerry hatten ehrlich gesagt nie Probleme mit dem gegenseitigen Verständnis. Wir stimmen einander gar nicht immer zu, doch respektieren die Positionen, die jeder von uns verteidigen soll. Das hilft auch, eine Vereinbarung zu erreichen. Nicht zufällig haben wir mit US-Außenminister alleine seit Januar dieses Jahres rund 40 Male gesprochen, wie meine Berater gezählt haben. Das ist präzedenzlos, ich erinnere mich nicht an so etwas. Wir wollen nicht irgendwelche Rekorde stellen, doch es gab so etwas in der Tat noch nie bei den Außenministern nicht nur Russlands und der USA, sondern auch anderer Länder. Seit Jahresbeginn war John Kerry zweimal in Russland, seit Mai des vergangenen Jahres – bereits viermal. Jedes Mal schaffen wir es, Fortschritte bei den zu besprechenden Fragen zu erreichen. Deswegen sind persönliche Beziehungen natürlich sehr wichtig. Das ist nicht mein einziger Kollege, mit dem ich solche Beziehungen habe. Ich möchte niemanden beleidigen, doch ich habe solche Beziehungen mit sehr vielen, darunter Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Ungarns u.a. Natürlich sind sehr enge Beziehungen mit unseren Kollegen aus Ägypten, vielen Golf-Staaten. Gerade persönliche Beziehungen helfen dabei, ziemlich ernsthafte Widersprüche, beispielsweise in Bezug auf Syrien, besser zu verstehen.

Frage: In der letzten Zeit wird viel darüber gesprochen, wo wir sind – in einem neuen „Kalten Krieg“ oder in einem „Kalten Frieden“? Die Rhetorik ist manchmal sehr hart. Falls wir uns in einem Kalten Krieg befinden, bedeutet das, dass die Vereinbarungen einfach nicht eingehalten werden können. Wenn man sich im Kalten Frieden befindet, gibt es wohl mehr Chancen zur Aufrechterhaltung der erreichten Vereinbarungen. Oder irre ich mich konzeptuell? Wie würden Sie den Zustand der jetzigen Beziehungen charakterisieren?

Sergej Lawrow: Das ist natürlich kein Kalter Krieg, sondern etwas anderes. Einerseits ist die Situation schwieriger, als Kalter Krieg. Andererseits ist sie klarer. Schwieriger ist sie, weil die Welt nicht mehr bipolar ist und es nicht mehr Manneszucht gibt. Es wird versucht, sie aufrechtzuerhalten, doch das ist schwierig. Immer mehr Staaten verstehen, dass bei einer großen Bedeutung der Globalisierung und gesamtmenschlichen Werte, Blockstatus und Solidarität im Rahmen der Strukturen, die während des Kalten Kriegs geschaffen wurden,  es noch nationale Interessen gibt.

Das, was jetzt in der EU geschieht, ist sehr anschaulich. Ich sage dies ohne Schadenfreude, weil die aktuellen Prozesse damit verbunden sind, dass die Prinzipien der Solidarität und Vetternwirtschaft in der Bürokratie verkörpert sind, die nicht einfach Funktionen zu erfüllen beginnt, die von den Mitgliedsstaaten delegiert wurden, sondern auch auf sich die Decke zieht, die jetzt diese Mitgliedsstaaten bislang deckt und sie nicht einfrieren lässt. In der Sowjetunion herrschte ebenfalls die Bürokratie über Sowjetrepubliken. Doch die EU übertrumpfte sie alle, auch die Nato, wo die Diskussionen demokratischer verlaufen, obwohl die russenfeindliche Minderheit auf den Prinzipien Konsens und Blockdemokratie spekuliert. Die EU-Bürokratie versucht, den Ländern zu verbieten, nach eigenem Ermessen in den Bereichen vorzugehen, die an Brüssel nicht delegiert wurden. Es gibt sehr viele solche Beispiele. Ich hoffe, dass dies begriffen und geändert wird, weil wir daran interessiert sind, dass die EU nicht von inneren Widersprüchen zerrissen wird, damit sie ein zurechnungsfähiger Partner bleibt und sich nach Wirtschaftsinteressen der Mitgliedsstaaten statt nach irgendwelchen geopolitischen Bedingungen richtet, die nichts gemeinsames mir der gesunden Verstand und Wirtschaft haben.

Unsere Kollegen aus der EU sagen uns über die Bereitschaft, den Energiedialog wiederaufzunehmen. Als ob dies nur Russland braucht und sie gnädigerweise darauf einging, Nord Stream 2 und andere mögliche Routen unter Bedingung zu besprechen, dass der Transit über die Ukraine unbedingt bleiben wird. Warum? Wollen wir das besprechen, was wirtschaftlich vorteilhafter und sicherer aus der Sicht der Erfahrung ist, die wir mit diesem Transit und viel anderes überlebten.

Was die jetzige Periode bei unseren Beziehungen betrifft, soll man sagen, dass wir bereits mit Versprechen konfrontierten, die nicht erfüllt wurden, beginnend mit mündlichen Versprechen, die Nato nicht zu erweitern und ihre Infrastruktur in den Osten nicht auszubauen und die Militärstruktur der Nato auf dem Territorium der ehemaligen DDR nicht zu stationieren. Allerdings wurden leider von unserer Seite keine Versuche unternommen, politische und rechtliche Dokumente abzuschließen. Wir befanden uns in einem Zustand der Euphorie, dass ideologische Widersprüche vorbei seien. Doch das stimmte nicht – die Interessen bleiben bestehen und können leider nicht zu 100 Prozent übereinstimmen. Eine andere Sache ist, dass wir die Interessen, die die Nato jetzt unter Druck der USA verteidigt, nicht als legitim aus der Sicht der nationalen Interessen jedes Staates anerkennen können, weil Versuche zu erkennen sind, uns zu dämonisieren. Es gibt wohl das, wofür man uns kritisieren kann – wie jedes anderes Land. Wir hatten Dialogmechanismen mit den USA und der EU, bei denen wir die Besorgnisse in Bezug auf die Situation in den USA, Russland, Europa ausdrückten. Bei aller Unvollkommenheit dieser Dialoge waren sie gleichberechtigt und ermöglichten, viele Fragen zu lösen bzw. zu besprechen.

Jetzt sind alle diese Dialoge geschlossen. Die Nato-Länder machen Urteile in Bezug darauf, was die Russische Föderation ist und wie das Regime bezeichnet werden soll. Meines Erachtens wird dies gemacht, um die Nato aufrechtzuerhalten. In Afghanistan wurde der Versuch unternommen, den Sinn der Existenz dieser Struktur zu verteidigen, der leider dazu führte, dass sich die Situation im Lande stark verschlechterte, als dort die Nato aktiv war (Drogengefahr stieg um das mehrfache, die Terrorgefahr verschwand nicht – neben der Taliban erschien ISIL), Afghanistan wurde als Objekt der kollektiven Anstrengungen wahrgenommen, als gemeinsames Ziel. Jetzt funktioniert das nicht, weil man jetzt niemanden nach Afghanistan ziehen kann. Dort wird es eine beschränkte Nato-Mission geben, vor allem Amerikaner. Man braucht einen neuen Vorwand zur Aufrechterhaltung der Nato. Zudem wurde zur Stärkung der US-Rolle und des Einflusses auf europäische Länder eine Bedrohung seitens Russlands ausgedacht und der Staatsstreich in der Ukraine genutzt, der unverzüglich vom Westen trotz seiner Prinzipien unterstützt wurde. Es handelt sich also um Doppelstandards. Niemandem von unseren westlichen Partnern fiel ein, über die Ukraine das zu sagen, was jetzt über den Putschversuch in der Türkei gesagt wird – dass Staatsstreiche inakzeptabel sind. In Bezug auf die Türkei gab es jedoch keine Verpflichtungen, wie Frankreich, Deutschland und Polen am 20. Februar 2014 unterzeichneten, indem sie sich verpflichteten, eine Vereinbarung zwischen Viktor Janukowitsch und der Opposition zu unterstützen. Am nächsten Morgen stürzte das alles ab, sie entfernten sich und sagten – Entschuldigung, es ist so. Als wir versuchten, die zu beschämen und sagten, dass der Deal von ihnen garantiert wurde, gingen sie in den Schatten. Die Amerikaner haben uns gebeten, diese Vereinbarung zu unterstützen, als wir dies machten und die Vereinbarung am nächsten Tag mit Füßen getreten wurde, schwiegen sie ebenfalls beschämend. Es gab also Verpflichtungen seitens der EU, es gab Unterschriften. Das ist ein Janusgesicht. Dass es so geschah, zeigt eindeutig, dass der Westen an diesem Staatsstreich interessiert war. Sie sagen, sie haben ihn nicht vorbereitet und das Volk einfach rebellierte, doch wir wissen, dass dem nicht ganz so ist. Dass die westlichen Länder an diesem Staatsstreich interessiert waren und danach dem nach dem Putsch am 21. Februar an die Macht gekommenen Regime erlaubten, die Armee gegen Donezbecken und andere Ostgebiete der Ukraine einzusetzen, die diesen antistaatlichen Machtsturz nicht unterstützten, ist eine Tatsache. Wir haben Dokumente, in denen die Nato bereits während der Krise von Viktor Janukowitsch forderte, keine Armee gegen das Volk einzusetzen. Doch gleich nach dem Staatsstreich, als die so genannte Antiterroroperation erklärt wurde, gab es Aufrufe an neue ukrainische Behörden zur proportionalen Gewaltanwendung bei der Aufstellung der Verfassungsordnung.

Die aktuelle Situation widerspiegelt das Streben der USA, die Disziplin und eigenen Einfluss in Europa aufrechtzuerhalten. Sie wurden stark von Gesprächen beunruhigt, die vor einigen Jahren auf Initiative Deutschlands und Frankreichs darüber auftauchten, dass die EU eigene Militärstruktur haben soll, um die Sicherheit in Europa mit eigenen Kräften zu gewährleisten. Nachdem die Ukraine-Ereignisse unverschämt zum Ausbau der Militärpräsenz in Europa genutzt worden waren, erhöhten die USA um das Vierfache (fast auf vier Milliarden US-Dollar) die Ausgaben für diese Ziele, vor allem in Osteuropa. Ein weiterer Grund besteht wohl darin, dass man Waffen erneuern und Geld für die Rüstungsbranche schaffen wollte. Ich weiß nicht, wie man diesen Zustand nennen kann. Nach dem Abenteuer von Michail Saakaschwili im August 2008, als wir forderten, den Russland-Nato-Rat einzuberufen, um diese Situation zu besprechen, weigerte sich die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice dies zu machen, die Arbeit des Rats wurde eingefroren. Danach wurde dieser schritt als Fehler bezeichnet. Unsere Nato-Kollegen sagten, dass der Russland-Nato-Rat zu jedem „Wetter“ funktionieren soll, insbesondere wenn es zu Sturmwetter kommt. Es gab einen „Sturm“ in der Ukraine, doch der Russland-Nato-Rat wurde geschlossen. Jetzt wird versucht, ihn wieder einzuleiten.

Im Juni gab es eine Sitzung, bei der unsere Militärs und der russische Nato-Botschafter mehrere Vorschläge zur Stärkung des Vertrauens einreichten. Erstens unterstützten wir die Initiative des finnischen Präsidenten Sauli Niinistö zur Ausarbeitung eines Mechanismus zur Gewährleistung der Sicherheit bei Flügen der Militärflugzeuge Russlands und der Nato. Zweitens legten wir mehrere gemeinsame Handlungen, darunter die Analyse der Militärsituation in Europa nicht einfach aus der Sicht der Verhinderung der Vorfälle, sondern auch Erörterung der entstandenen Situation und Bestimmung der Wege zur Gewährleistung der Interessen jedes Staates vor. Wir luden unsere Kollegen aus der Nato zu Militärübungen ein, darunter im Kaukasus, zum internationalen Forum Armee-2016, zu den Armeespielen. Seitens der Nato gab es keine Ideen. Es entstand der Eindruck, dass der Russland-Nato-Rat nur mit dem Ziel einberufen wurde, um sich erneut zum Thema Ukraine zu äußern. Das bedeutet, dass sich die Nato in eine ideologische Organisation verwandelte, wo ihre Mitglieder versuchen, einander eigene Fähigkeiten zu zeigen und nach antirussischen Argumenten zu suchen. Damit befassen sich natürlich gar nicht alle, dort gibt es auch Menschen, die verstehen, dass er ein Weg in Nichts ist und man zu normalen und respektvollen Beziehungen zurückkehren soll, weil so zu tun, als ob nur deine Logik und Herangehensweisen von der ganzen restlichen Welt wahrgenommen werden sollen, ist ein koloniales Denken. Doch leider zeigt es sich bei einigen Politikern, vor allem in den Ländern, die sich nicht damit abfinden können, dass das Reich auseinanderfiel. Mann soll bescheidener werden und objektiv das zu betrachten, was man in der heutigen Welt ist.

 

 

 

 

 

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