Videoansprache des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, auf dem Internationalen wissenschaftlich-praktischen Forum „Lehren aus Nürnberg – Einfluss der Nürnberger Prozesse auf die Etablierung der modernen Weltordnung“, Moskau, 20. November 2020
Sehr geehrte Kollegen, Freunde,
heute wird genau der 75. Jahrestag seit dem Beginn der Arbeit des Nürnberger Kriegsgerichtshofs begangen, der ein hartes Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Regimes gefällt hat. Nach der Vernichtung des Dritten Reiches auf den Schlachtfeldern wurden eindeutige und unanfechtbare rechtliche Bestimmungen hinsichtlich des Nazismus formuliert. Wie der sowjetische Chefankläger bei den Prozessen, Roman Rudenko, sagte, „verurteilen wir nicht nur sie selbst, sondern auch die verbrecherischen Einrichtungen und Organisationen, die sie gegründet haben, und die Ideen, die sie zwecks Begehens von vor langer Zeit geplanten Verbrechen gegen die Welt und Menschlichkeit verbreiteten.“
Noch 1943 hatten die Alliierten von der Wichtigkeit der Bestrafung der Nazis für ihre blutigen Verbrechen erklärt. In der Moskauer Erklärung der Spitzenpolitiker der Sowjetunion, Großbritanniens und der USA über die Verantwortung der Hitler-Anhänger für ihre Gräueltaten wurde zum ersten Mal die Absicht zum Ausdruck gebracht, die Frage von der Bestrafung der größten Verbrecher aufgeworfen. Diese Ideen wurden dann im Londoner Abkommen von 1945 und im Statut des Nürnberger Tribunals weiterentwickelt.
Die Nürnberger Prozesse wurden zur Plattform für eine tiefe und allseitige Analyse (ob juristische oder weltanschauliche) der Tragödie des Zweiten Weltkriegs. Und noch für den Blick in die Zukunft durch die Festigung der Ideale des Humanismus und durch die Besinnung auf die Ursachen, die zu ihrer totalen Ablehnung geführt haben.
Die Rolle des Tribunals bei der Gestaltung der modernen völkerrechtlichen Architektur lässt sich unmöglich überbewerten. Die Nürnberger Prinzipien legten die Basis für die Normen hinsichtlich der schwersten internationalen Verbrechen. Als solche wurden die Vorbereitung, Planung, Entfesselung und Führung von aggressiven Kriegen anerkannt. Der Geist des Gerichtsprozesses verwirklichte die Hoffnungen auf Gerechtigkeit, auf den Respekt für den Wert des Menschenlebens bzw. der Menschenwürde. Am 24. Oktober 1946, genau ein Jahr nach dem Inkrafttreten der UN-Charta, sprach sich der erste UN-Generalsekretär Trygve Lie dafür aus, dass die in Nürnberg gefassten Beschlüsse zum „ständigen Teil des Völkerrechts“ werden sollten. Schon im Dezember 1946 verabschiedete die UN-Vollversammlung einstimmig die spezielle Resolution, die die Völkerrechtsprinzipien bestätigte, die vom Status des Nürnberger Tribunals anerkannt worden waren.
Es war ja kein Zufall, dass die UN-Mitglieder gleich in den ersten Phasen der Etablierung der Nachkriegs-Weltordnung so viel Wert auf Nürnberg legten. Man könnte „die künftigen Generationen vor dem Unglück des Kriegs retten“, nur wenn man voll und ganz begreifen würde, wie und warum die Schrecken des Zweiten Weltkriegs möglich geworden waren. Das Urteil des Tribunals wurde von der Weltorganisation sofort als eine der rechtlichen Grundlagen der Weltordnung anerkannt. Und auch jetzt dient es nach wie vor als wichtiger Hilfsfaktor für die Festigung der globalen Sicherheit und als Warnung vor einer Wiederholung der tragischen Fehler der Vergangenheit.
Nürnbergs „Erbe“ wurde auch in nationalen Gerichtssystemen berücksichtigt. Einen großen Einfluss leistete das Urteil auf das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung der Sowjetunion. Genauer gesagt, war dieser Einfluss gegenseitig. Die offenen Gerichtsprozesse gegen die Nazis und deren Mithelfer, die es in unserem Land in den Jahren 1943 bis 1949 gab, waren eine klare Bestätigung dafür.
Die Nürnberger Prozesse wurden zu einem Muster der internationalen strafrechtlichen Justiz und bewiesen, dass man die Gerechtigkeit erreichen könnte, wenn man hochprofessionell handelt – auf Basis des umfassenden zwischenstaatlichen Zusammenwirkens, Einvernehmens und gegenseitigen Respekts.
Es ist offensichtlich, dass das „Erbe“ des Nürnberger Tribunals nicht nur den rechtlichen Bereich betrifft, sondern auch eine kolossale Bedeutung in solchen Aspekten wie Politik, Werte und Erziehung hat. Vor 75 Jahren wurde ein starker Impfstoff gegen die Wiederbelebung des Nazismus in dessen jeglichen Formen und Äußerungen erfunden. Leider ist die Immunität gegen die „braune Pest“, die in Nürnberg erarbeitet wurde, ist in manchen Ländern Europas in einem Interview wesentlich schwächer geworden. Russland wird weiterhin energisch und konsequent gegen jegliche Versuche zur Fälschung der Geschichte, zur Glorifizierung der Nazi-Verbrecher und deren Mithelfer auftreten und einer Umdeutung der international anerkannten Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der Nürnberger Urteile, widerstehen. Die absolut meisten Mitglieder der Weltgemeinschaft sind mit uns dabei solidarisch.
Wir werden uns weiterhin um Verteidigung der ewigen Werte bemühen, die dem Status des Nürnberger Tribunals, der UN-Charta und der ganzen modernen Weltordnung zugrunde liegen. Zu einem wichtigen Schritt wird dabei die feierliche Sitzung der UN-Vollversammlung am 1. Dezember, die dem 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs gewidmet sein wird. Das sieht die vor kurzem auf Russlands Initiative konsensweise verabschiedete Resolution der Vollversammlung vor.
Sehr geehrte Kollegen,
an unserem Forum beteiligen sich Vertreter der wissenschaftlichen Gemeinschaft, Lehrkräfte und Studenten von verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Unter den aktuellen Bedingungen ist Ihre Rolle beim Voranbringen der Wahrheit über Nürnberg äußerst wichtig. Intensive Forschungen in diesem Bereich sind und bleiben gefragt. Ich bin überzeugt, dass Ihre Diskussionen wichtige Stoffe für solche Arbeit liefern werden.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg!