14:58

Antworten des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, auf Fragen in der Fernsehsendung „Ein Recht zu wissen“ im Fernsehsender „TV-Zentr“

2125-13-09-2014

Frage: Guten Abend, Sergej Wiktorowitsch! Die wichtigste Frage heute ist - die Ukraine. Der Krieg ist zu Ende – oder ist das nur eine vorübergehende Stille?

Sergej Lawrow: Das nennt sich Waffenruhe. Sie stützt sich auf ein Dokument, das unterschrieben wurde, nachdem der Präsident Russlands, Vladimir Putin, seine 7-Punkte-Initiative vorgestellt hat. Dabei haben wir unsere Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, an diesen Punkten zu arbeiten - unter Beteiligung aller Konfliktparteien: der Kiewer Machthaber und jener, die sie unterstützen, sowie der Volksrepublik von Lugansk und Donezk.

Dank dieser Initiative hat in Minsk ein Treffen stattgefunden, bei dem ein Dokument abgestimmt wurde. Es ist umfassender, als die sieben Punkte, da es die Positionen derer widerspiegeln muss, die an der Vereinbarung unmittelbar beteiligt sind. Zum heutigen Tag funktioniert die Waffenruhe unserer Einschätzung und der Meinung der OSZE-Beobachter nach im Großen und Ganzen, wenn auch nicht ohne Unterbrechungen – die jedoch Gott sei Dank unerheblich sind. Periodisch kommt es zu Schussabgaben von beiden Seiten, aber der Prozess der Herstellung einer langfristigen Waffenruhe ist noch im Gange. Ich werde mich diesbezüglich nicht allzu optimistisch geben, weil es Menschen gibt, die diesen Prozess untergraben und die Lage in den Kriegszustand zurückversetzen möchten.

Frage: Wen meinen Sie damit?

Sergej Lawrow: In erster Linie sind dies jene Truppen, die von den Oligarchen aufgestellt wurden und nicht Kiew unterstehen, und die die Streitkräfte der Ukraine als vorübergehende Verbündete und Weggenossen betrachten. Auch ein erheblicher Teil der Nationalgarde gehört dazu.

Frage: Sie sprechen von den Zusammenschlüssen, die von Igor Kolomojski finanziert werden?

Sergej Lawrow: Von ihm auch, aber nicht nur von ihm, es gibt dort auch andere Oligarchen, die derartige Kampftruppen finanzieren: die Bataillone „Donbass", „Ajdar", „Dnepropetrowsk", „Azow" und eine Reihe anderer. Und es gibt die Nationalgarde, die in bekannter Höhe sowohl aus dem ukrainischen Staatshaushalt, als auch durch Spenden ausländischer Sponsoren finanziert wird, die aber bei weitem nicht immer den Befehlen des Oberbefehlshabers der Ukraine gehorcht.

Frage: Wie schwierig waren die Verhandlungen in Minsk? Soweit ich das sehe, sind es nicht einfach dreiseitige Gespräche, wenn Vertreter aus Kiew, Donezk, Lugansk und Russland anwesend sind, das „darübersteht". Es gibt noch immer dieselben Truppenteile, von denen Sie gesprochen haben. Das heißt, dass Petro Poroschenko auch gezwungen ist, zwischen seinen Interessen als Präsident und dem Umstand herum zu manövrieren, keine zweite Front mit den Truppen des Igor Kolomojski zu eröffnen. Wie ist das alles abgelaufen?

Sergej Lawrow: „Darübergestanden" sind in Minsk nicht nur die Vertreter Russlands, sondern auch die OSZE-Vertreter. Das ist einer der Gründe, warum wir die Rolle der OSZE als äußert wichtig einschätzen. Gleich nachdem dieses Dokument unterschrieben war, haben sich Russland und die Landwehren für die umgehende Entsendung jener OSZE-Beobachter, die bereits in der Ukraine tätig sind, in jene Region ausgesprochen, in der die Waffenruhe ausgerufen wurde, in die sogenannte „Region der Spaltung der Seiten". Die OSZE-Beobachter müssen alles verfolgen, was vor sich geht, so auch jene Handlungen, die nicht von den Streitkräften der Ukraine gesetzt werden, sondern von den Verbänden der Nationalgarde und den verschiedenen anderen Bataillons. Diese haben an den Verhandlungen nicht teilgenommen. Von ukrainischer Seite war nur der ehemalige Präsident des Landes, Leonid Kutschma, anwesend. Uns hat man auf der Ebene der höchsten Leitung der Ukraine versichert, dass er alle Vollmachten habe, eine Vereinbarung zu treffen und für die Verpflichtungen einzustehen, die die ukrainische Leitung auf sich nimmt. Das schließt die Verpflichtung mit ein, all jene zu kontrollieren, die Kampfhandlungen gegen Lugansk und Donezk führen.

Frage: Dann passiert folgendes: der Waffenstillstand wird unterschieben, aber nach einiger Zeit erklärt Petro Poroschenko, dass die Ukraine, falls es erforderlich sein würde, an der Grenze zu Russland etwas in der Art einer „Mannerheim-Linie" bauen werde. Der Premierminister der Volksrepublik Donezk, Alexander Sachartschenko, sagt, dass die Bestimmungen der Waffenruhe nicht ganz den Interessen der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk entsprechen, weil diese noch mehr Autonomie haben möchten, beinahe die Unabhängigkeit. Faktisch ist da gleich bezüglich zweier Punkte ein Hindernis aufgetreten.

Sergej Lawrow: Einerseits hören wir bezüglich der Auslegung dieser Vereinbarungen mit Kiew viele widersprüchliche Interpretationen bis hin zur Forderung nach einer Abkehr von den Friedensbemühungen und zum Übergang zu neuerlichen Angriffshandlungen, wobei das gesamte Arsenal der Streitkräfte der Ukraine eingesetzt werden soll. Andererseits bestätigt Präsident Petro Poroschenko ungeachtet der von Ihnen zitierten Erklärungen ständig sein Festhalten an den Friedensvereinbarungen. Wir sind trotz allem der Auffassung, dass er als Inkarnation irgendeiner Legitimität, die er nach der am 25. Mai abgehaltenen Präsidentenwahlen erhalten hat, seine Funktion als Oberkommandierender erfüllen, alle erdenklichen Maßnahme setzen und seine Befugnisse als Präsident nutzen wird, damit die Regierung, die zurzeit in Kiew im Amt ist und die dem Präsidenten und dem Parlament untersteht, die von ihm sanktionierte und gebilligte Entscheidung nicht untergräbt.

Frage: Wird nicht befürchtet, dass Kiew die Waffenruhe für Truppenbewegungen nutzen wird? Es wurde wiederholt erklärt – insbesondere von Ihnen – dass eine Umgruppierung der Kräfte zu beobachten sei, ein Zusammenziehen von schwerem Gerät im Gebiet Donezk.

Sergej Lawrow: Buchstäblich vor wenigen Tagen, ein-zwei Tage nach der Unterfertigung des Minsker Dokuments, haben wir Informationen erhalten, die von den Landwehren bestätigt wurden, dass sich im Gebiet von Debalzewo eine Kampfeinheit aus Artillerie und Panzern formiert. Wir haben das Augenmerk der Führung in Kiew auf diese Informationen gelenkt. Man hat uns versichert, dass es keinerlei derartige Pläne gebe und dass Maßnahmen gesetzt würden, damit bei niemandem ein derartiger Eindruck entstehe. Laut uns vorliegenden Angaben wurden diese Bewegungen nun eingestellt und es treffen keine derartigen Informationen mehr ein.

Ich habe Ihre Frage noch nicht beantwortet, wie die Landwehren die Minsker Vereinbarungen sehen, so auch die Frage des Status der Volksrepubliken Lugansk und Donezk. Verstehen Sie, einstweilen sind die Minsker Vereinbarungen nur ein Schema, ein Rahmen, in den man detailliertere Vereinbarungen zu praktisch jedem Punkt einfügen muss. Dies geschieht im Rahmen der Kontaktgruppe, die Vertreter der ukrainischen Seite, Russlands und der OSZE umfasst.

Was den Status betrifft, so gibt es dort zum Beispiel eine Bestimmung, die die Verpflichtungen Kiews widerspiegelt, ein Gesetz über eine interimistische Selbstverwaltung der Gebiete Lugansk und Donezk vorzubereiten. Aber es gibt auch einen lakonischen Punkt, der von enormer Bedeutung ist. Er lautet folgendermaßen: „Fortsetzung eines inklusiven nationalen Dialogs". Hier gibt es das große Element des Kompromisses, weil wir zurzeit nicht von der Fortsetzung eines nationalen Dialogs sprechen können, weil es ihn einfach nicht gibt. Es gab vor den Präsidentenwahlen und der Inauguration von Petro Poroschenko den groben Versuch, sogenannte „Runde Tische" zu veranstalten. Aber gleich unmittelbar nach der Inauguration wurde dieses Vorhaben ungeachtet der zahlreichen Versprechen eingestellt. Obwohl auch das, was im Rahmen dieser „Runden Tische" gemacht wurde, bei weitem nicht ideal war. Die Zusammensetzung der Teilnehmer hat nicht das gesamte Spektrum der politischen Kräfte und ukrainischen Regionen widergespiegelt. Aber insbesondere die Teilnahme aller Regionen und politischen Kräfte an diesem nationalen Dialog, der auf eine tiefe Verfassungsreform abzielt, ist eine der Verpflichtungen, die die ukrainischen Machthaber in der Genfer Erklärung vom 17. April d.J. übernommen haben, die von den Außenministern Russlands, der Ukraine und der USA, sowie von der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik unterschrieben wurde.

Daher ist der Verweis im Minsker Dokument auf einen inklusiven, d.h. allumfassenden nationalen Dialog (unter Beteiligung aller Betroffenen) für uns von grundlegender Bedeutung. Alle Vereinbarungen über die Verabschiedung eines Gesetzes durch die Werchowna Rada über einen interimistischen Status sind eigentlich eine Verpflichtung der Ukrainischen Führung. Lugansk und Donezk müssen vor allem sehen, was in diesem Dokument drinnen steht, aber das bedeutet in keiner Weise die endgültige Lösung des Problems. Eine endgültige Lösung kann nur das Ergebnis eines Konsenses aufgrund der Resultate eben jenes inklusiven nationalen Dialogs sein.

Frage: Wenn wir von der endgültigen Lösung der Ukrainekrise sprechen, dann fallen uns häufige Telefongespräche zwischen den Präsidenten Russlands und der Ukraine – Vladimir Putin und Petro Poroschenko – auf. Es ist ein diplomatisches Spiel im Gange. Wie sieht Russland das Finale dieser Krise? Worauf werden wir bestehen? Wie sieht unser Standpunkt aus? Vielleicht eine Anerkennung der Krim?

Sergej Lawrow: Über die Krim wird nicht gesprochen. Ich kann Ihnen versichern, dass bei den Telefongesprächen und Kontakten unserer Präsidenten diese Frage nicht erörtert wird. Es wird über die Möglichkeiten der russischen Seite gesprochen, unter Verwendung ihrer offensichtlichen Hebel dazu beizutragen, in der Ukraine einen Verfassungsprozess in Gang zu bringen, der bereits am 21. Februar in jener Vereinbarung versprochen wurde, die Viktor Janukowitsch, Arseni Jazenjuk, Vladimir Klitschko und Oleg Tjagnibok unterschrieben haben, und die von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens gegengezeichnet wurde - und ihr so zu einem erfolgreichen Abschluss zu verhelfen, damit die Staatlichkeit der Ukraine auf einem gesamtnationalen Konsens fußt, der die Interessen jeder Region und politischen Kraft widerspiegelt.

Frage: Geht es um einen blockfreien Status der Ukraine?

Sergej Lawrow: Für uns ist das eine Grundsatzfrage. Wir sind davon überzeugt, dass die Wahl, die in der ukrainischen Gesetzgebung festgeschrieben ist, den Interessen des ukrainischen Volkes entspricht, den gesetzlichen Interessen aller Nachbarn und Partner der Ukraine, sowie auch den Interessen der europäischen Sicherheit. Wir haben zahlreiche Versicherungen unserer westlichen Partner dahingehend erhalten, dass sie die Bedeutung des blockfreien Status der Ukraine für die Sicherheit im Euro-Atlantik-Raum wunderbar verstehen.

Frage: Trotzdem hat die ukrainische Seite die Absicht, den blockfreien Status aufzugeben und sie möchte diese Frage sogar in der Werchowna Rada zur Abstimmung bringen.

Sergej Lawrow: Ich würde die ukrainische Seite nicht als Autor dieser Initiative bezeichnen, weil das nur einige Politiker sind. Insbesondere ist dies zur Verwunderung der Premierminister Arseni Jazenjuk, der eine entsprechende Initiative gestartet hat, der Regierung ein Dokument über die Aufgabe des blockfreien Status und die Kursnahme auf einen NATO-Beitritt zur Begutachtung vorzulegen, und das genau in dem Moment, als die Minsker Vereinbarungen vorbereitet wurden. Ich kann derartige Handlungen nicht anders als einen direkten Affront gegen den Präsidenten des Landes beurteilen. Ich glaube, dass er diese Anstrengungen nicht im Interesse seines Volkes unternimmt, sondern jener Kräfte, die das ukrainische und das russische Volk entzweien und einen tiefen und breiten Keil zwischen Russland und Europa treiben möchten. Das ist vor allem Washington - die USA verhehlen ihr diesbezügliches Engagement nicht. Praktisch alles, was die ukrainischen Radikalen und Extremisten machen, so auch die Radikalen in den entsprechenden Leitungsstrukturen, erhalten einen Persilschein von den USA, und keinerlei Vorbringen dahingehend, dass die Ereignisse objektiv betrachtet werden müssen und dass man trotz allem für einen nationalen Dialog, für eine Feuerpause und für eine Achtung der Minderheiten eintreten muss – für all jene Werte, die der Westen in jedem beliebigen Konflikt propagiert -, bewirken etwas. Washington hat schon wiederholt bewiesen, dass es sein Ziel ist, diese Krise auf die Spitze zu treiben, damit man die Ukraine beim neuerlichen Versuch, Russland zu isolieren und zu schwächen, als Wechselgeld verwenden kann.

Frage: Eine technische Frage: es gibt den Präsidenten Petro Poroschenko, der die Verfassung der Ukraine garantiert, und der die Verhandlungen führt. Im selben Augenblick gibt der Premierminister Arseni Jazenjuk eine Erklärung über den Blockfreienstatus des Landes ab. Ich kann auch den ukrainischen Verteidigungsminister erwähnen, der in „Facebook" schreibt, dass man gegen Russland überhaupt die Atombombe einsetzen müsse. Juri Luzenko erklärt, dass Europa bereits damit begonnen habe, Präzisionswaffen zu liefern und dass der Krieg fortgesetzt werden müsse. Wir führen Sie in dieser Situation einen Dialog? Wer ist der Addresat dieser Verhandlungen? Wie kann das Petro Poroschenko kontrollieren?

Sergej Lawrow: Der russische Präsident hat wiederholt gesagt, dass er zufrieden damit sei, wie sich seine direkten Kontakte mit Präsident Petro Poroschenko entwickelt haben. Wir führen einen Dialog mit ihm und mit jenen, die seine Linie repräsentieren, und das ist die Staatspolitik der Ukraine. Provokateure gibt es genug, Sie haben sie aufgezählt, aber er gibt noch viel mehr. Natürlich weisen wir unsere westlichen Partner darauf hin, wenn diese versuchen, zu irgendwelchen Vorstellungen allgemeineuropäischer Interessen aufzurufen. Wir sind damit einverstanden, aber der Westen macht praktisch nichts dafür, um die Radikalen zu bändigen.

Wir erinnern uns daran, wie noch zu Zeiten von Viktor Janukowitsch im Dezember 2012 die letzten Wahlen in die Werchowna Rada stattgefunden haben, und als die Partei „Svoboda" von Oleg Tjagnibok die Prozenthürde geschafft hat, die damals überwunden werden musste, um ins Parlament zu kommen. Die Europäische Union hat damals eine entschlossenen Erklärung abgegeben und alle übrigen politischen Kräfte der Ukraine dazu aufgerufen, mit diesen Neonazis nicht zusammenzuarbeiten. Im Programm ihrer Partei wird bis heute ein Dokument von Ende Juni 1941 bestätigt, in dem das Ziel Hitlers, in Europa und in der Welt eine neue Ordnung zu schaffen, geteilt wird. Damals hat die Europäische Union eine ganz entschiedene Haltung eingenommen, ungefähr so, wie im Jahr 2000, als in Österreich eine radikale Partei gesiegt hat und die EU die Österreicher einfach gezwungen hat, die Ergebnisse der demokratischen Willenserklärung nicht anzuerkennen und diese Partei von der Macht auszuschließen. Aber jetzt wird Oleg Tjagnibok als Dialogpartner betrachtet, er ist Teil der Koalition. Niemand hat diesbezüglich irgendwelche Proteste angemeldet.

Frage: Wird seine Partei bei den nächsten Wahlen in die Rada einziehen?

Sergej Lawrow: Ich verfolge die Meinungsumfragen. Einstweilen fällt es mir schwer, etwas Konkretes zu sagen hinsichtlich der Perspektiven von „Svoboda", so wie auch hinsichtlich vieler anderer politischer Parteien, ausgenommen die Vereinigung, die von Petro Poroschenko gegründet wurde, und die Partei, die Oleg Ljaschko zu neuen Siegen führen wird.

Wenn man uns sagt, dass Oleg Tjagnibok bei den Präsidentenwahlen nur sehr wenige Stimmen erhalten hat, dann weisen wir darauf hin, dass Oleg Ljaschko um nichts schlechter, und um nichts besser war. Er war der zweite hinter Petro Poroschenko, mit einem hinreichend ernstzunehmenden Prozentanteil. Meiner Meinung nach fühlt sich Europa sehr unwohl. Sie müssen doch die Gefahr verstehen, die eine derartige Verniedlichung des Nationalismus in sich trägt, und bekanntermaßen des Neonazismus - aber wegen der politischen Engagiertheit können sie das nicht laut sagen.

Frage: Sie haben Petro Poroschenko persönlich getroffen. Was hat er für einen Eindruck auf Sie gemacht?

Sergej Lawrow: Ich habe mit Petro Poroschenko zusammengearbeitet, als er für kurze Zeit Außenminister der Ukraine war. Er ist nach Moskau gekommen, wir haben Verhandlungen geführt und normal laufende Probleme erörtert, von denen es in den russisch-ukrainischen Beziehungen eine ganze Reihe gab. In einigen Fragen haben wir eine Übereinkunft erzielt, die es uns ermöglicht haben, uns vorwärts zu bewegen.

Jetzt, wo Petro Poroschenko zum Präsidenten gewählt wurde, haben wir einige Male bei internationalen Veranstaltungen miteinander gesprochen, so auch beim Treffen in Minsk, wo die Präsidenten der Zollunion und der Ukraine, sowie Vertreter der leitenden Strukturen der Eurasischen Wirtschaftskommission und der Europäischen Union anwesend waren.

Mir scheint, dass Petro Poroschenko an einer Weiterentwicklung der Friedensvereinbarungen interessiert ist und vor allem die Unterstützung des Westens braucht, der darauf setzt, die Lage in der Ukraine vom „Zustand nach dem Maidan" in ein legitimes Fahrwasser zu bringen. Zu eben diesem Zweck wurden die Präsidentenwahlen ausgerufen. Ich glaube, dass der Westen das Bestreben Petro Poroschenkos hin zu einer Realisierung der Friedensvereinbarungen unterstützen muss. Weil alle anderen, d.h. zumindest viele, versuchen, ihn dabei zu stören.

Frage: Auf das Thema „NATO" kommen wir dann später zurück. Ich möchte eine – wie mir scheint – logische Frage stellen. Ich führe ein kurzes Beispiel an. Die ukrainischen Experten haben sehr skeptisch, ich würde sagen, kritisch, darauf reagiert, dass die Ukraine jetzt nicht in die NATO gerufen wurde. Wir sehen, dass der Westen einen Großteil der Versprechen nicht erfüllt, die er Petro Poroschenko gibt. In dieser Situation müsste er, wie mir scheint, einen Schritt auf Russland zu machen. Warum passiert das nicht? Oder sehe ich diesen Schritt einfach nicht?

Sergej Lawrow: Die letzten Kontakte zwischen den Präsidenten unserer Staaten (das bilaterale Treffen in Minsk und die anschließenden Telefongespräche, die zur Unterzeichnung der Vereinbarungen vom 5. September geführt haben) zeugen davon, dass wir trotz allem die Hoffnung auf eine Vorwärtsbewegung haben, und zwar insbesondere hinsichtlich der Herstellung von Frieden und der Aufnahme eines echten nationalen Dialogs über das weitere Schicksal des ukrainischen Staates.

Frage: Wir haben eine Brigade von Journalisten in den Gebieten Lugansk und Donezk. Ihren Erzählungen zufolge herrschte dort zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Vereinbarung und danach große Verwirrung. Die Lage hat sich geändert, es waren alle Chancen da, um diese Regionen unter Kontrolle zu bringen und Mariupol einzunehmen, und in diesem Augenblick wird so ein Dokument unterschrieben. Einige haben sogar begonnen, dies mit den Vereinbarungen von Hasawjurt zu vergleichen. Warum wurde die Vereinbarung genau zu jenem Zeitpunkt unterschrieben und was stand dahinter?

Auch der Text des Dokuments selbst ist sehr eigenartig. Jeden einzelnen Punkt kann man sehr breit interpretieren. Zu unserer Zeit hätten die in dieser Gruppe tätigen Diplomaten etwas Konkreteres hineinschreiben können. War das eine erzwungene Situation oder steckt da irgendeine Logik oder Philosophie dahinter, dass diese sieben Punkte so vage formuliert wurden?

Sergej Lawrow: Zwölf.

Frage: Viele Dinge in dieser Vereinbarung bedürfen zumindest einer minimalen Konkretisierung.

Sergej Lawrow: Zuerst antworte ich auf den ersten Teil Ihrer Frage, warum dieses Dokument gerade jetzt unterschrieben wurde und ob es die Interessen der Landwehr und insgesamt der Bewohner der Gebiete Lugansk und Donezk widerspiegelt. Wir sind dafür eingetreten, dass dieses Dokument schon viel früher hätte unterzeichnet werden sollen. Die Landwehr war ebenfalls bereit, eine Friedensvereinbarung zu unterzeichnen. Diese Vereinbarung wurde bereits am 2. Juli beim Treffen der Außenminister Russlands, Deutschlands, Frankreichs und der Ukraine in Berlin unterstützt. Dort war von einer Dreitagesfrist die Rede, nach deren Ablauf die Feuereinstellung beschlossen hätte werden sollen. Zu jener Zeit hat jedoch insbesondere die ukrainische Seite dies verweigert. Sie ist auch der direkten Forderung des UN-Sicherheitsrates nach einer Waffenruhe nach dem Absturz der malaysischen „Boeing" nicht nachgekommen. Mehr als zehn Tage lang, nachdem die entsprechende Resolution gefasst wurde, die eine unverzügliche Feuereinstellung und die Gewährleistung des Zugangs von internationalen Inspektoren in jene Region vorsah, in der Teile der „Boeing" abgestürzt waren, hat die Ukraine sich geweigert, eine Waffenruhe auszurufen und erklärt, dass sie den Zugang gewährleisten und das Feuer einstellen werde, sobald sie diese Region unter ihre Kontrolle gebracht habe.

Die Ukraine hat nicht zum ersten Mal auf militärische Macht gesetzt, um kleinere Ortschaften zurück zu erobern, um erst dann von dieser Position aus mit Verhandlungen zu beginnen. Man könnte diese Idee logisch fortsetzen und das Ganze vom Standpunkt der Landwehr aus betrachten, die (oder einige in ihren Reihen) wahrscheinlich auch nichts dagegen hätten, kleinere Territorien zu erobern und die Kampfhandlungen erst dann einzustellen. Wenn wir jedoch derartige Einstellungen unterstützen, dann werden wir nie Halt machen. Immer wird irgendjemand der Auffassung sein, dass er noch ein bisschen mehr an sich reißen müsse, um sich erst dann an den Verhandlungstisch zu setzen.

Hier ist nichts übereilt. Man darf die Möglichkeit, Menschenleben zu retten, nicht auf später verschieben, auch nicht einen, zwei oder drei Tage. Wenn die Möglichkeit und der politische Wille gegeben sind, dann muss man diesen Moment unverzüglich konsolidieren und auf Papier fixieren, dass die Seiten derartige Verpflichtungen übernehmen. Dieses Dokument haben übrigens Alexander Sachartschenko und Igor Plotnitzki - die Vertreter der Volksrepublik Dnepr und der Volksrepublik Lugansk, unterzeichnet, zwei Führer mit Autorität, die sich der Achtung und der Unterstützung der Bevölkerung auf ihren Territorien erfreuen. Ich bin sicher, dass sie von eben den Beweggründen ausgegangen sind, von denen ich spreche – vom Bestreben, so viele Menschen wie möglich zu retten und nicht zuzulassen, dass weiterhin die gesamte Lebens-Infrastruktur in den Gebieten Lugansk und Donezk zerstört wird.

Was den Inhalt des Dokuments betrifft, so habe ich heute schon davon gesprochen, dass es nur eine Rahmenvereinbarung ist und im überwiegenden Teil nicht direkt umgesetzt werden kann, ausgenommen der Punkt bezüglich der Feuereinstellung. Das ist verständlich, das kann man machen und das wird auch gemacht. Wir möchten, dass die OSZE so schnell wie möglich die Anzahl der Beobachter in jenen Zonen erhöht, in denen es zu Gefechten gekommen ist, und wo man die Seiten nun trennen muss. Die meisten anderen Punkte müssen natürlich konkretisiert werden. So zum Beispiel das heute bereits erwähnte Gesetz über eine interimistische Selbstverwaltung in den Gebieten Donezk und Lugansk. Wie es aussehen wird, das wissen wir nicht – das ist die Aufgabe der Ukraine. Aber die Landwehr, die diesen Punkt unterschrieben hat, hat klar gesagt, dass sie ihre Einstellung dazu je nach dessen Inhalt festlegen werde, und natürlich auch ausgehend davon, dass das nicht das Ende des Weges sei, sondern der Anfang eines komplizierten politischen Prozesses, der für die Ukraine und die Landwehr ebenfalls verpflichtend sei. Das ist jener inklusive nationale Dialog, der allen schicksalsträchtigen Fragen gewidmet werden muss, die auch mit der Verfassung der Ukraine im Zusammenhang stehen und damit, wie die Regionen in ein System eingebaut werden, das – so hoffe ich, allen die Möglichkeit gibt, zusammen zu leben und die Traditionen, Gewohnheiten, Kulturen und Werte des anderen zu achten. Der „Wertekorb" ist in den westlichen, zentralen und östlichen Regionen der Ukraine sehr unterschiedlich. Jetzt müssen wir im Wesentlichen die Unfähigkeit der ehemaligen Opposition, die infolge eines Staatsstreichs an die Macht gekommen ist, sowie ihrer westlichen Sponsoren ausbaden, damit jene Vereinbarungen eingehalten werden, die bereits am 21. Februar unterschrieben worden sind. Darin ist eine klare Abfolge enthalten, die die Aufgaben der Befriedung der Ukraine nach dem Maidan widerspiegelt. In erster Linie – die Schaffung einer Regierung der nationalen Einheit, die eine Verfassungsreform vorbereitet, die im September gebilligt werden soll, und dann sollten - bereits auf der Grundlage der neuen Verfassung – Ende des Jahre Wahlen abgehalten werden. Die Abfolge ist klar verständlich und logisch. Später ist es dann zwei Tage nach der Unterfertigung der Vereinbarung zu einem Staatsstreich gekommen. Die Residenz der Präsidenten wurde gestürmt und auch das Regierungsgebäude und andere Regierungsobjekte. Auf dem Maidan hat Arseni Jazenjuk folgendes erklärt: „Ich beglückwünsche all jene, die auf dem Maidan ausgeharrt haben. Wir haben einen Diktator gestürzt und eine Regierung der Sieger gebildet". Es wurde gleich ein Signal an die Südostregionen gesandt: „Nicht die nationale Einheit ist an die Macht gekommen, sondern die Sieger, und die Besiegten – das seid ihr, und wir werden auch als solche behandeln. Dann wurde die Verfassungsreform eingemottet. Im Geheimen wurde in der Werchowna Rada irgendein Projekt entworfen, das niemand gesehen hat, und gleich an die Venedig- Kommission des Europarates geschickt, in der es einige Wochen gelegen und dann nach Kiew zurückgekehrt ist. Obwohl nicht viel darüber gesprochen wurde, wissen wir, wie alles gewesen ist. Die Venedig-Kommission hat es in ihrer Weisheit für zweckmäßig befunden, ein gewisses Dokument zu kommentieren, dessen Status nicht klar ist. In der Kommission hat man gesagt: „Macht euch mit der ganzen Gesellschaft aus, welche Reformen ihr in die Verfassung aufnehmen wollt und dann werden wir euch entsprechend antworten".

Frage: Das heißt, es wurde nicht eine Regierung aller Ukrainer, sondern eine Regierung der „Sieger"?

Sergej Lawrow: Genau so war es. Dieser Schritt und die Erklärung der Regierung zum „Sieger", sowie auch der Versuch, das Gesetz „Über die staatliche Sprachpolitik" abzuschaffen – all das waren kräftige Signale, die an den Südosten gesandt wurden. Und das wurde als Kriegserklärung aufgefasst.

Frage: Die weitere Geschichte haben wir alle gesehen. Sie haben ganz richtig gesagt, dass man, wenn es die Möglichkeit gibt, jetzt eine Waffenruhe zu vereinbaren, alles tun muss, damit das Blutvergießen aufhört. Das ist das Wichtigste. Aber in der Folge erhebt sich die Frage, was Russland als ideale Entwicklung der Ereignisse ansieht?

Es gibt nach wie vor eine große Anzahl an Versionen, dass es für Russland günstig sei, den ungewissen Status der Regionen beizubehalten (Transnistrien, Abchasien), dass das für Russland bei weitem interessanter sei, als den Südosten innerhalb der Ukraine zu halten. Andererseits erhebt sich die Frage – Föderation oder Konföderation? Die idealen „sieben Punkte" für Moskau – wie sehen wir sie? Die Achtung, der Dialog, sowie die nationalen, historischen und kulturellen Besonderheiten, von denen Sie gesprochen haben, all das ist äußerst wichtig. Aber wie sieht eine ideale administrativ-territoriale, politische Struktur der Region aus, ich meine vom Standpunkt Moskaus aus?

Sergej Lawrow: Unseren Interessen entspricht eine starke, prosperierende, freundschaftliche Ukraine. Wie das administrativ organisiert wird, das sollen die Ukrainer entscheiden. Wir gehen von Grundprinzipien aus. Vom Standpunkt unserer strategischen Interessen aus sind wir daran interessiert, dass die Vereinbarungen über die Gewährleistung einer einheitlichen, unteilbaren und für alle gleichen Sicherheit im Euro-Atlantik-Raum eingehalten werden. In diesem Kontext spielen die uns gegebenen Versicherungen über eine Nichtausweitung der NATO nach Osten eine entscheidende Rolle. Unser Vorschlag, eine politische Verpflichtung (diese Verpflichtung wurde auf höchster Ebene im Rahmen der OSZE und im Rahmen der Russland-NATO-Rates eingegangen), die keine Stärkung der eigenen Sicherheit zulasten der Beschränkung der Sicherheit anderer garantiert, in einen juristisch verbindlichen Vertrag umzuwandeln, wurde wiederholt zurückgewiesen. Man hat sogar versucht, darüber zu lachen, dass „Russland irgendwelche abstrakte Schemata hervorbringt". Doch in Wirklichkeit haben die NATO-Anhänger diesen Vorschlag nur aus einem Grund abgewiesen, wie man mir durch die Blume gesagt: „sie erachten es nicht für möglich, an wen auch immer juristische Sicherheits-Garantien abzugeben, der nicht NATO-Mitglied ist". Das ist alles. Man setzt darauf, unter der Hand so viele Länder wie möglich in die NATO zu ziehen, indem man die Logik der Trennlinien und der Heranführung der Infrastruktur in die Nähe unserer Grenzen fortsetzt - das ist inakzeptabel.

In diesem gesamteuropäischen Kontext möchten wir, dass die Ukraine ein prosperierender, neutraler und befreundeter Staat ist, in dem alle Staatsbürger jeglicher Nationalität (die Russen spielen für uns natürlich eine besondere Rolle) komfortabel, sicher und gleichberechtigt leben können. Das ist es, was wir wollen. Wie kann das gewährleistet werden? Wie soll man den neuen Staat nennen? Unitarische Ukraine, Republik Ukraine, Föderative Republik oder dezentralisierte Republik – das ist völlig unwichtig. Der Streit darüber, ob eine Föderation schlecht ist und ob eine Dezentralisierung vielleicht möglich wäre, ist absolut unerheblich. Er lenkt nur von der Hauptaufgabe ab: eine Vereinbarung über das Wesentlichste zu treffen – wie die Menschen leben werden, wie Gouverneure gewählt werden, wie die gesetzgebenden Versammlungen formiert werden und wie der Status der russischen Sprache und der Sprachen der Minderheiten (der ungarischen, rumänischen und polnischen) aussehen wird.

Wir wissen zum Beispiel, dass sich die Mitglieder der Europäischen Union, die Landsleute in der Ukraine haben, schämen, laut davon zu sprechen, welche Sorgen sie sich machen, deshalb schlägt ihnen Brüssel vor, alles im engen Kreis zu diskutieren, doch einige Informationen sickern durch. So werden zum Beispiel gerade die anstehenden Parlamentswahlen vorbereitet. Die ungarische Minderheit versucht in Kiew durchzusetzen, dass die Wahlkreise so „abgesteckt" werden, dass die Ungarn zumindest einen Abgeordneten garantiert in der Werchowna Rada sitzen haben werden. Aber es geht nicht. Bislang sind die Wahlkreise so „abgesteckt", dass die Ungarn über verschiedene Territorien „zerstreut" sind, wo sie keine Chance auf einen Wahlerfolg haben. Das ist nur ein Beispiel, doch derer gibt es viele.

Dass die Ukraine ein echtes Haus für all jene wird, die in ihr leben, dass es keinerlei Versuche gibt, eine Regierungsform festzulegen, die eine Widerspiegelung der Logik der Regierung der „Sieger" ist - das ist es, was sie braucht. Aber zusammenreden müssen sich alle selber. Wir können diese Probleme nicht für sie lösen. Ich versichere Ihnen, dass ein derartiges Szenarium absolut passend und vorrangig ist, weil wir wollen, dass die Ukraine mit uns befreundet ist und dass alle Russen, die die Ukraine als ihr Haus betrachten, dort leben und darauf Einfluss nehmen können, wie der Staat die sozial-wirtschaftlichen, außenpolitischen und sonstigen Aufgaben löst, und dass sie eine Stimme haben in diesem Land.

Ich habe davon gehört, was Sie gerade erwähnt haben, dass wir angeblich daran interessiert seien, ein zweites Transnistrien zu schaffen, irgendeine Pufferzone – das ist ein Blödsinn. Das hieße ja, dass diejenigen, die versuchen, uns all das nun vorzuhalten, davon ausgehen, dass der derzeitige Status von Transnistrien vorteilhaft für uns ist. Das ist ein so plumper Versuch, dass ich nicht einmal darüber reden möchte, obwohl ich muss, weil hier Fakten verschwiegen und verdreht werden.

Heute erinnert sich keiner mehr daran, dass Russland es war, das im Jahr 2003 das „Kosak-Memorandum" vorbereitet hat, das vom moldauischen Präsidenten Vladimir Voronin und von den Leitern Transnistriens paraphiert wurde. Am Morgen hätte die Unterzeichnung stattfinden sollen, doch in der Nacht oder spät am Abend hat Javier Solana namens der Europäischen Union persönlich den moldauischen Präsidenten Vladimir Voronin angerufen und ihm von der Unterzeichnung des Dokumentes abgeraten. Er sagte, dass es nicht den Interessen der Zusammenarbeit Moldawiens mit der Europäischen Union entsprechen würde. Wenn das nicht passiert wäre, dann gäbe es schon lange keinen Transnistrien-Konflikt mehr. Die Befürchtung, dass dort eine zu lange Verweildauer des russischen Friedenskontingents vorgesehen war, hätte sich selbst überholt, weil die Verweildauer zum heutigen Tag schon vorüber wäre. Dass wir die Regelung der Transnistrien-Frage gesprengt hätten und dass wir jetzt dasselbe in der Ukraine vorhätten, das konnte sich nur ein krankes Hirn in der Hoffnung auf die Dummheit der Öffentlichkeit ausdenken.

Frage: Am 9. September d.J. gab der niederländische Sicherheitsrat die vorläufigen Ermittlungsergebnisse über den Absturz der malaysischen Boeing bekannt. Sie sagen offen (die Formulierung klingt sehr merkwürdig): „Das Flugzeug ist in der Luft, wahrscheinlich infolge struktureller Schäden, die durch die äußere Einwirkung einer großen Zahl an hochenergetischen Objekten verursacht wurde, in Teile zerborsten". Ins Russische übersetzt, ist das Flugzeug dadurch abgestürzt, dass es von etwas getroffen wurde. Ist das die offizielle Formulierung? Haben wir auf das gewartet?

Sergej Lawrow: Ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet. Sie haben sicher ihre eigene Berufssprache. Für Spezialisten wird das wahrscheinlich nicht verwunderlich sein.

Frage: Einen Tag bevor die Ergebnisse der Ermittlung verkündet wurden, erschienen in den Medien und in der Blogosphäre Unmengen von Meldungen, dass es eine „Buk" war, die sich auf von Rebellen kontrolliertem Gebiet befand. Ihr Onboard-Zeichen und der Nummernteil, unter dem sie registriert ist, seien bekannt. Und dann eine so trockene Ermittlung und Schlussfolgerung.

Sergej Lawrow: Über die „Buk" gab es unwahre Geschichten. Das konkrete Beispiel, das Sie jetzt erwähnt haben, wurde entlarvt. Man zeigte diese „Buk" mit der Bordnummer, sie befand und bewegte sich ausgerechnet auf von Kiewer Sicherheitskräften kontrolliertem Territorium. Es gibt viele andere Fakten, die nicht nur „an den Ohren herbeigezogen", sondern eine sogenannte direkte Lüge sind.

Der Bericht hat uns natürlich verwundert und sogar unsere Spezialisten, die diese Fachausdrücke verstehen und wissen, warum eine solche Sprache verwendet wird. Er verwunderte vor allem deshalb, weil trotz des ganzen Lärms um diese Tragödie sein Ton irgendwie sehr ruhig ist und die Arbeit langsam und ohne Eile vor sich geht. Es ertönen keine Forderungen nach Wiederaufnahme der Tätigkeit der Experten an der Absturzstelle des Wracks. Versuche, dort hinzufahren, um die, wie sie sagen, Trümmer zu sammeln und zu schauen, wie das ganze Flugzeug ausgesehen hat, hat es nicht gegeben und niemand hat laut davon geredet.

Frage: Diese werden gewöhnlich in einem großen Hangar aufgelegt…

Sergej Lawrow: Die internationalen Experten saßen ungefähr drei Wochen in Kiew und sprachen mit den ukrainischen Behörden. Keine Antworten wurden auf die Fragen vorbereitet, die bald nach der Katastrophe von russischer Seite durch das Verteidigungsministerium und Rosaviatsia formuliert wurden. Unser Vertreter nimmt an der internationalen Expertengruppe teil und weist auf diese „Merkwürdigkeiten" hin. Wir bereiten eine weitere Reihe von Fragen durch die russischen Flugbehörden vor, um die zur dringenden Überprüfung anstehenden Themen aufzuzeigen. Insgesamt seien, wie mir Experten, die wissen, wie solche Ermittlungen durchgeführt werden, gesagt haben, viele Dinge, die unbedingt gemacht werden müssen, nicht gemacht worden. Ich weiß nicht, womit das zusammenhängt. Vielleicht ist jemandem eine solche Situation dienlich, wenn sofort nach der Katastrophe hysterische Anschuldigungen an die Adresse der Volkswehr und Russlands ertönen.

Frage: Es herrschte eine außergewöhnliche Hysterie.

Sergej Lawrow: Alle Titelseiten der Zeitungen, die Hauptsendezeiten im Fernsehen, das Internet usw. waren voll davon. Und jetzt, da dieser „Propagandaschaum" entfernt ist, könnte vielleicht auch irgendwer die wahren Gründe des Geschehenen nicht ermitteln wollen. Das ist nicht unsere Vorgangsweise. Wir sind wahrscheinlich die einzigen, die ständig daran erinnern, dass es die Resolution 2166 des UN-Sicherheitsrats gibt, von der ich heute schon im Zusammenhang mit der darin verankerten Forderung nach sofortiger Feuereinstellung im Bereich der Boeing-Absturzstelle und Zutrittsgewährung für die Experten gesprochen habe, es aber auch heißt, dass die Ermittlung sorgfältig, international, transparent und rechenschaftspflichtig sein muss. Was den internationalen Charakter betrifft, so wurde zwar eine Expertengruppe unter der Ägide der Internationalen Zivilluftfahrtgesellschaft (ICAO) gebildet, und in der Organisation werden Schritte zur Aufnahme multilateraler Diskussionen unternommen, doch gibt es weder Transparenz noch Rechenschaftspflicht. Ich bin nicht dafür, dass sich der UN-Sicherheitsrat mit der Ermittlung befasst, er hat jedoch die politischen Forderungen bezeichnet, die der Heftigkeit dieser Tragödie entsprechen, sowie deren Wahrnehmung in den Ländern, deren Bürger an Bord waren und in der gesamten Weltgemeinschaft, weil ein Zivilflugzeug abgeschossen wurde.

Frage: Warum diese merkwürdige Geschichte um die Einbeziehung malaysischer Amtspersonen zur Ermittlung? Schließlich und endlich war es ihr Flugzeug. Man hat das Gefühl, dass sie ignoriert werden. Sie haben die Black Boxes abgegeben und das wars.

Sergej Lawrow: Der malaysische Verteidigungsminister Hishammuddin Hussein kam nach Russland. Er war in der Ukraine, er war meiner Meinung nach auch bereits in den Niederlanden und er hat vor, nach Australien zu reisen.

Frage: War der Zweck seines Besuches in Russland die Boeing?

Sergej Lawrow: Ja. Sie wollen unsere Einschätzungen einholen, weil sie von den Schlussfolgerungen wissen, die bei der Pressekonferenz im Verteidigungsministerium der Russischen Föderation am 21. Juli d.J. vorläufig gemacht wurden, sowie von den Fragen, die Rosaviatsia formuliert hat, und sie wollen mit Experten sprechen. Wir begrüßen dieses Interesse, da es keinen Grund gibt, auf plausible Antworten oder zumindest auf eine Erörterung jener Fragen zu verzichten, die wir gestellt haben und auf die wir bis jetzt keinerlei Reaktion erhalten haben.

Frage: In den letzten 10-15 Jahren gehört es zur Praxis, dass nicht der schuld ist, der tatsächlich Schuld hat, sondern der, den die meisten Medien schuldig nennen. Was glauben Sie, werden wir irgendwann die Wahrheit über die Boeing erfahren?

Sergej Lawrow: Ich hoffe sehr, dass wir diese Wahrheit erfahren werden, aber das hängt nicht von mir ab. Von Russland, seiner politischen Führung und dem Außenministerium hängt es ab, ständig daran zu erinnern, dass das gemacht werden muss. Nicht zufällig habe ich die Resolution des UN-Sicherheitsrats zitiert (wir haben deren Verabschiedung aktiv unterstützt), denn das, was darin verankert ist, ist obligatorisch von allen zu erfüllen. Solcherart ist der Charakter dieses Dokuments. Alles andere liegt in den Händen derer, die damit betraut sind, diese Untersuchung zu führen.

Frage: Klar, dass unsere Beurteilungen und die des Westens fast diametral auseinandergehen. Manchmal scheint es, dass wir in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben, die unter anderem von den Medien geschaffen werden. Ohne jede Seite zu beurteilen, ist offensichtlich, dass wir in eine neue Etappe der Beziehungen zum Westen eingetreten sind und dass das, was vor diesem Jahr war, nicht mehr sein wird. Dabei ist es natürlich und meiner Ansicht nach sehr richtig, dass wir uns der restlichen Welt zuwenden und uns nicht ausschließlich auf Europa und Amerika fixieren. Das hat sich seit langem angebahnt. Jetzt ist nur ein neuer Impuls da. Nichtsdestoweniger habe ich aufgrund meiner Kontakte und dessen, was ich lese, das Gefühl, dass sogar jene Länder, die die Gründe für die scharfen Schritte, die Russland gemacht hat und weiterhin macht, verstehen und uns nicht für verantwortlich erachten, etwas „verblüfft" sind vom Tempo der Veränderungen und nicht wirklich wissen, wie sie reagieren sollen. Spüren Sie in Ihrer Arbeit, wenn Sie mit nichtwestlichen Partnern in Kontakt sind, von deren Seite her irgendwelche Veränderungen in der Beziehung zu Russland? Wenn ja, in welche Richtung?

Sergej Lawrow: Erstens haben Sie absolut Recht – alles ist rapid vor sich gegangen. Obwohl sich die Gründe dafür gehäuft haben, hinsichtlich der Beziehung des Westens zu Russland, vor allem seitens der USA und in gewissem Grad der EU. Schon lange vor der Situation in der Ukraine gab es Aufrufe, Russland zu isolieren und zu bestrafen, zuerst für den „Fall Sergej Magnitski", dann für die Weigerung, einen Regimewechsel in Syrien zu unterstützen, danach haben sie uns Eduard Snowden übelgenommen und sogar Schritte in praktischen Fragen gesetzt, einschließlich der Absage eines Besuches des US-Präsidenten Barack Obama in Moskau vor dem G-20-Gipfel in Sankt-Petersburg. Was das Licht auf die Vorbereitung der Olympischen Spiele in Sotschi betrifft, kann man auch eine „Geladenheit" sehen, ein Bild von Russland als gescheitertem Staat zu zeichnen, der nichts kann als Unsummen von Geld für die Organisierung irgendwelcher PR-Projekte auszugeben.

Die Ladung hat sich aufgestaut. Zum großen Bedauern wurde unsere konstruktive Reaktion auf diese Art von „Angriff" auf uns ignoriert. Bereits im Jänner d.J., als ein vollformatiger Russland-EU-Gipfel geplant wurde und es noch keinen Staatsstreich in der Ukraine gab, formatierte die Europäische Union diesen in einen Lunch oder ein Abendessen um. Ein vollwertiges, vollformatiges Gespräch unter Beteiligung der EU-Kommissare und Minister der russischen Regierung fand nicht statt. Das heißt, Beleidigungen schimmerten aus unverständlichen Gründen schon lange durch. Jetzt läuft alles, wenn nicht auf Zerstörung, so auf ein sehr konfrontatives Szenario seitens unserer westlichen Partner hinaus. Aus einem einfachen Grund – sie wollen nicht anerkennen, was für uns offensichtlich ist: der Staatsstreich wurde mit direkter Unterstützung, wenn nicht Förderung von den USA und Brüssel organisiert. Nach dem Machtantritt jener Personen, die sie als Oppositionelle aktiv unterstützten, wurde für diese Oppositionellen, die die neue Regierung bildeten, alles möglich. Ihnen wird alles verziehen und absolut alles erlaubt. Wir hören keinerlei Zurechtweisung ihrer inakzeptablen Erklärungen in Bezug auf die nationale Frage, Russland, die Minderheiten und neonazistischen Tendenzen.

Nicht deshalb begann Russland Beziehungen mit anderen Regionen und Ländern aufzubauen. In unserem außenpolitischen Konzept ist bereits seit dem Jahr 2000 die Notwendigkeit der Entwicklung von Beziehungen zu allen Regionen und Ländern verankert, die bereit sind, auf der Basis von Gleichberechtigung und gegenseitigem Nutzen zusammenzuarbeiten. Das Bestreben, die Reisen des russischen Präsidenten Vladimir Putin nach Lateinamerika als Versuch darzustellen, die Nichtdurchführung des G-8-Gipfels zu kompensieren, ist ein Unsinn. Der BRICS-Gipfel wurde vor einem Jahr geplant und niemand hat je daran gedacht, dass er als eine gewisse Alternative zu den Beziehungen Russlands zum Westen aufgefasst werden könnte. Das ist nicht unsere Vorgehensweise.

Was die Wahrnehmung des gegenwärtigen Zustandes der russisch-westlichen Beziehungen in Lateinamerika, Asien und Afrika betrifft, so habe ich praktisch von keinem unserer Partner ebenso wie im Laufe der Kontakte auf höchster Ebene irgendwelche Einschätzungen gehört, die besagen, dass die Positionen des Westens geteilt sind. Es ist eine andere Sache, dass auf öffentlichen Foren – in der UNO und auf anderen multilateralen Plattformen – niemand sein Nichteinverständnis mit der absolut voreingenommenen und engagierten Position, die der Westen einnimmt, äußern würde. Wir wissen jedoch auch, dass in ausnahmslos jede Hauptstadt aller Länder der Welt Emissäre geschickt werden, vor allem amerikanische, aber auch europäische, die der Führung der jeweiligen Staaten die Forderung und nachdrückliche Bitte nahelegen, Russland nicht zu unterstützen, sich den Sanktionen des Westens anzuschließen und keine Schritte zu setzen, die die Beziehungen des jeweiligen Landes zur Russischen Föderation ausbauen würden. Für mich ist das eine präzedenzlose Situation. Derartige Kampagnen untergraben im Grunde genommen die Beziehungen Russlands zu seinen Partnern.

Frage: Kann man diese Situation mit den 1980er Jahren vergleichen?

Sergej Lawrow: Damals war es nicht so.

Frage: Das heißt, die Situation jetzt ist schlimmer?

Sergej Lawrow: Vielleicht hat es einmal etwas Ähnliches gegeben, als die USA beschlossen, die Olympiade in der UdSSR zu boykottieren und eine solche Arbeit durchgeführt haben.

Frage: Und als die südkoreanische Boeing abgeschossen wurde?

Sergej Lawrow: Da kann ich mich an so etwas nicht erinnern. Damals habe ich in New York gearbeitet, in der UNO. Ich erinnere mich an diese Geschichte, sie wurde auch im UN-Sicherheitsrat behandelt, aber so etwas war nicht zu spüren.

Frage: Warum segelt die EU – eine politisch und wirtschaftlich starke Vereinigung – so leicht im Kielwasser der amerikanischen Außenpolitik? Welche Druckhebel verwenden die USA?

Sergej Lawrow: In diesem Fall setzten sie vor allem Spekulationen auf allgemeinmenschliche Werte ein: in der Ukraine war ein das Vertrauen des Volkes untergrabender und dieses nicht rechtfertigender Präsident, der aufgrund einer demokratischen Revolution gestürzt wurde; die europäischen Werte, an die die Ukraine anzubinden er blockieren wollte, indem er das Abkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnete, gewannen die Oberhand. So einfach ist das Info-Material.

Frage: Doch Europa steht noch in wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu uns. Warum ist man bereit, diesbezüglich die Augen zu schließen und auf das amerikanische Szenario überzugehen?

Sergej Lawrow: Ich weiß es nicht. Gerade in Europa wurden ja jene Denker geboren, die sagten, dass die Wirtschaft die Politik bestimme, und jetzt ist aus der EU das völlige Gegenteil zu hören – die Bereitschaft, die Wirtschaft der Politik zu opfern. Es findet eine extreme Ideologisierung statt. Das kann nicht lange dauern, da innerhalb der Europäischen Union bereits vernünftige Stimmen laut werden, die auf die absolut paradoxe Situation hinwiesen, als genau am Tag der Unterzeichnung der Friedensvereinbarungen in Minsk (5. September d.J.) die EU beschlossen hat, den Ausschuss der ständigen Vertreter in Brüssel mit der Vorbereitung eines neuen Sanktionspakets zu beauftragen. Genau an dem Tag, als die Sache in Bewegung kam, vor allem dank der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ergriffenen Initiative.

Frage: Sie haben erwähnt, dass sich Amerika bei der Druckausübung auf Europa einer Rhetorik der Hinwendung zu ethischen Werten bedient. Vielleicht fürchtet sich die EU einfach mehr vor den USA und hat Angst vor wirtschaftlichen Verlusten usw.?

Sergej Lawrow: Ich habe nur das angeführt, was an der Oberfläche ist. Natürlich wird ein großer Kampf ausgetragen. Unter anderem möchte Amerika die jetzige Situation dazu ausnutzen, um Europa wirtschaftlich von Russland loszureißen und sich im Kontext der geführten Verhandlungen zur Errichtung einer transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft maximal günstige Bedingungen zu erhandeln. Die Verhandlungen liefen schon mehrere Jahre. Europa verteidigte seine Interessen recht beharrlich. Nach Ansicht der Europäer wollten die USA einen ungerechtfertigten Profit herausholen. Nun wurden diese Bemühungen aber intensiviert, unter anderem mit dem Versuch, Europa die Lieferung von amerikanischem Flüssigerdgas zu Preisen aufzuzwingen, die im Vergleich zu den Preisen für russisches Gas nicht konkurrenzfähig sein können. Dahinter stehen zweifellos auch wirtschaftliche interne Erwägungen.

Frage: Folgt daraus, dass wir Europa an die Amerikaner verlieren?

Sergej Lawrow: Ich denke nicht. Wir beobachten jetzt eine Umdeutung dieser Situation innerhalb der EU. Die Tatsache, dass nun die kleineren und nicht führenden Länder der Europäischen Union offen darüber reden, dass die Politik der Sanktionen eine Sackgasse und kontraproduktiv ist, besagt viel.

Frage: Bei der Vorbereitung auf die Sendung habe ich die Direktiven der UNO und der OSZE gelesen, und parallel dazu die Geschichte von Panama 1989, als die Amerikaner mit ihrem Gericht entschieden, den Präsidenten eines anderen Landes zu verurteilen, eine Sonderoperation durchführten, ihn außer Landes brachten und lebenslang ins Gefängnis setzten. Es entsteht der Eindruck, dass die Geschichte mit der UNO und der OSZE eine Fassade ist und es das absolute „Recht des Stärkeren" gibt. Wenn man sich vorstellt, dass es in Mexiko zu einer Krisensituation käme und die an der Grenze zur USA liegenden Territorien von Selbstbestimmung sprächen, so bin ich überzeugt, dass die USA ohne zu zögern ihre Truppen dort hinschicken würden. Niemand auf der Welt würde aufmucksen. Faktisch kehren wir in die Zeiten des Römischen Reichs und zum „Recht des Stärkeren" zurück. Ist es nicht so?

Sergej Lawrow: Das ist es, was die Logik und außenpolitische Philosophie der Amerikaner widerspiegelt, u.a. auch die des US-Präsidenten Barack Obama, der die „Exklusivität der Amerikaner" zu seiner Hauptlosung gemacht hat. Der russische Präsident Vladimir Putin hat in mehreren seiner Reden darauf reagiert. Ich werde mich nicht wiederholen. Man muss daran erinnern, dass das Setzen auf egal wessen Exklusivität die Menschheit mehrfach in Katastrophen geführt hat. Man sollte die Geschichte lesen und die Lehren daraus ziehen.

Nicht nur das von Ihnen angeführte Beispiel zeigt, dass sich seither wenig verändert hat. Es gab auch noch Grenada und die Ereignisse auf Haiti im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, als der Präsident Jean-Bertrand Aristide infolge eines „haitischen Maidans" gestürzt wurde und die Hauptstadt verließ. Die USA haben ihm Obdach gewährt, bei sich behalten, ermuntert, gestärkt und neuerlich in Haiti an die Macht gebracht. Soviel zu der Sache, dass sie sagen: ist Viktor Janukowitsch einmal verschwunden, so ist alles andere erlaubt. Die Ukraine ist zwar nicht Haiti, doch umso sorgsamer muss man mit ihr umgehen.

Frage: Doch die Vorgehensweise ist dieselbe.

Sergej Lawrow: Absolut dieselbe. Wir werden nicht vergessen, dass in der 2010 verabschiedeten Sicherheitsdoktrin der USA direkt festgehalten ist, dass die USA das Völkerrecht respektieren, sich jedoch ihr Recht vorbehalten, jedwede Handlungen zur Verteidigung ihrer Interessen zu setzen, einschließlich der Anwendung von Gewalt ohne UN-Sanktion.

Frage: Heuer sind es 100 Jahre, seit Gavrilo Princip auf einer kleinen Brücke in Sarajevo durch seinen Schuss den Hahn für den Ersten Weltkrieg abgedrückt hat. Diese ganzen 100 Jahre war der Balkan der „Pulverkeller" Europas. Vor 20 Jahren ging in Europa durch die Unterzeichnung der Friedensabkommen von Dayton der schreckliche Krieg auf dem Balkan zu Ende. Vor kurzem bin ich aus Bosnien und Herzegowina zurückgekehrt, das in erster Linie von diesen Abkommen betroffen war, wo Russland als Garant auftritt. Ich habe die Situation dort gesehen, mich mit allen Gemeindevorstehern und dem Präsidenten der Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina, Milorad Dodik, getroffen. Ich hatte das Gefühl, dass sie alle mit diesen Abkommen nicht zufrieden sind und „die Suppe kocht". Alle wollen Veränderungen. Ich habe mich dort mit unseren Diplomaten unterhalten (meiner Ansicht nach arbeitet dort ein starkes professionelles Team). Da diese Ereignisse schon stattgefunden haben und ein Randgebiet der heutigen Diplomatie sind, gibt es da kein Verständnis, dass die Diplomatie zu spät kommen könnte für das, was dort beginnen kann, vielleicht nicht morgen, aber in nächster Zukunft? Existiert keine Spielpraxis der Antizipation, um kein neuerliches Aufflammen auf dem Balkan zuzulassen? Zum Beispiel mittels Revision der Abkommen von Dayton oder durch die Einführung neuer Funktionen? Abgesehen von den Bombardierungen von Belgrad und des Kosovo haben wir dort in Kooperation mit dem Westen gehandelt.

Sergej Lawrow: Die Friedensabkommen von Dayton zu revidieren, ist sehr gefährlich, da Bosnien und Herzegowina ja dank ihnen als einheitlicher Staat existiert. Es besteht dort eine sehr komplizierte Konstruktion: drei staatsbildende Völker (Serben, Bosniaken und Kroaten) und zwei Entitäten, wie sie im Abkommen bezeichnet wurden – Serbische Republik und Bosniakisch-Kroatische Föderation. Weder die Kroaten noch die Bosniaken haben eine eigene Entität, sondern eine gemeinsame, wobei sie zwei staatsbildende Völker neben einem dritten Volk - den Serben, sind. Diese Konstruktion spiegelte in vielem die Geschichte wider, aber auch den Wunsch der Europäer, die Moslems – Bosniaken – nicht allein zu lassen (das ist ein sehr schmaler Streifen des Territoriums). Denn andernfalls würde die Serbische Republik zu Serbien fallen (das befürchtete die EU) und die bosnischen Kroaten zu Kroatien. Genau um das zu vermeiden, wurde diese Konstruktion vorgeschlagen, die im Rahmen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien funktionierte. Doch nach dem Zerfall Jugoslawiens, der in vielem von der Europäischen Union provoziert wurde (vergessen wir nicht, dass der erste Staat aus der SFRJ, der seine Unabhängigkeit proklamierte, Kroatien war), zerbrach sich die EU lange den Kopf darüber, ob sie es anerkennen solle und was zu tun sei. Deutschland beschloss, dass man nicht länger warten dürfe und anerkannte es einseitig. Dann begann auch die Europäische Union, auf diese Position nachzurücken).

Die Abkommen von Dayton sichern jedem dieser drei Völker ein Vetorecht. Wird das jetzt gebrochen, so entsteht die Versuchung, Bosnien und Herzegowina in einen Unitarstaat umzuwandeln. Derlei Tendenzen sind unter anderem in der Position der Europäischen Union zu sehen. Man ist unzufrieden damit, dass die Serben eine Stimme haben, die bei wichtigen Entscheidungen, u.a. betreffend den Beitritt zu internationalen Strukturen, z.B. der NATO, gehört werden muss und man will die Rechte der Moslems nicht schmälern und meint, dass diese das Hauptvolk sein müssen, das den bosnischen Staat verkörpert. Das wird nicht gelingen. Jetzt ist die Konstruktion sehr kompliziert: das Präsidium besteht aus drei Personen – einem Bosniaken, einem Kroaten und einem Serben. Sie kommunizieren miteinander, doch politisch haben sie viele Probleme. Eine schädliche Rolle spielt der Hohe Repräsentant der EU, der über diktatorische Befugnisse verfügt, die man längst hätte abschaffen müssen. Wenn schon die EU vor einigen Jahren Bosnien und Herzegowina bei der Wahl zum nichtständigen Mitglied im UN-Sicherheitsrat unterstützt hat, so ist es doch lächerlich, dort faktisch ein Protektorat zu hinterlassen.

Wir sind dafür, dass diese Befugnisse weggenommen werden und die Bosniaken selber einig werden. Vor allem was den Umstand betrifft, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Dass sie nicht in Strukturen gedrängt werden, die für eines der staatsbildenden Völker inakzeptabel sind und keine Partnerschaft aufgezwungen wird, die nicht allen passt. Ich denke, dass es keinen anderen Weg gibt. Sobald die Abkommen von Dayton abgeschafft wären, so garantiere ich, würde eine sehr große Versuchung entstehen, Fragen der „Umgestaltung der Grenzen" zu lösen, da die Serben in Bosnien seit langem gefragt haben: „Warum wurde dem Kosovo erlaubt das zu tun, wir aber wollen uns nicht loslösen, sondern im Gegenteil wiedervereinigen". Viele solche Erwägungen und Gespräche, doch der Präsident der Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina, Milorad Dodik, mit dem ich sehr eng zusammengearbeitet habe und mit dem ich mich nach wie vor treffe, ist Dayton-treu. Eine Bedrohung für die Friedensabkommen kommt von der Seite derer, die statt der Konstruktion von Dayton einen Unitarstaat errichten möchten.

Frage: Wenn wir zu der Frage der Verhaltensmuster der USA zurückkehren, wo Sie die Beispiele von Panama und Haiti angeführt haben, möchte ich in Erinnerung rufen, dass es auch in unserer Geschichte solche Ereignisse gibt, wie Ungarn, die Tschechoslowakei und Afghanistan. Aus Ihren Worten geht hervor, dass die bösen USA auf der ganzen Welt herumreisen und mittels Drohungen und Überredung alle gegen Russland aufwiegeln, das als Opfer fungiert. Doch die letzten zehn Jahre können wir – ein starker, wirtschaftlich, politisch und sozial selbstbewusster Staat – durch die Tatsache unserer Existenz folglich ein Vorbild zur Nachahmung sein und eng zusammen arbeiten. Weiters ist aus Ihren Worten zu schließen, dass nach wie vor die ganze Welt vor uns „zurückscheut" und wir in den 25 Jahren postsowjetischer Entwicklung dennoch kein faktisches, kulturologisches oder politisches Vorbild zur Nachahmung geworden sind. Warum?

Frage: Ich möchte etwas ergänzen. Praktisch sofort nach ihrer Wahl hat die neue Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, gesagt, dass die Europäische Union Russland nicht mehr als strategischen Partner betrachte. Sind wir wieder der „Feind Nummer eins"?

Sergej Lawrow: Erstens, ich habe nicht gesagt „alle sind gegen uns", sondern dass die USA, die ich nicht als schlecht und böse charakterisiert habe (sie sind, wie sie sind, besessen vom Glauben an ihre Exklusivität, und nicht zu verbessern), Emissäre auf der ganzen Welt herumschicken und zu überreden versuchen, dass alle gegen uns sind. Das ist so. Doch praktisch haben sie keinen überredet, außer der EU und einige ihrer nahen Verbündeten außerhalb der NATO und der Europäischen Union.

Zweitens, ich versichere Ihnen, dass die Welt nicht vor uns „zurückscheut". Die Geographie der internationalen Kontakte, wie in Russland so auch außerhalb, ist eine Bestätigung dafür. Dabei nicht nur die Geographie, sondern auch der Inhalt der geschlossenen Vereinbarungen. Wir haben zahlreiche Dokumente mit den BRICS- und den Golfstaaten unterzeichnet; vor kurzem war der Kronprinz von Bahrain bei uns, der ein Abkommen mit dem Fonds für Direktinvestitionen unterzeichnet hat, und vieles mehr. Daher kann ich dem nicht zustimmen, dass alle gegen uns sind, dass vor uns alle „zurückscheuen" und wir keine Partner haben, mit denen wir eine konstruktive richtige Agenda entwickeln.

Was Ungarn und die Tschechoslowakei betrifft, so war das dort so. Unsere Einstellung zu diesen Ereignissen wurde vielfach angemerkt, unter anderem auch zu Afghanistan. Wir werden jedoch nicht vergessen, dass das Mitglieder des Warschauer Pakts waren. In Afghanistan waren Regenten, die mit uns befreundet waren. Das ist die Geschichte.

Wir haben an Panama, Grenada, Haiti und Kuba ganz und gar nicht deshalb erinnert, um sagen zu können: „Ihr könnt und wir können", sondern nur, um die außenpolitische Philosophie der USA aufzuzeigen. In ihrer nationalen Sicherheitsdoktrin steht, dass sie Gewalt anwenden werden, unabhängig davon, ob das durch das Völkerrecht vorgesehen ist oder nicht. Darum geht es.

Ich kann nicht sagen, dass wir uns einsam fühlen. Außerdem wollen die westlichen Kollegen aus eben dieser EU mit uns kommunizieren, und sie kommunizieren mit uns, kommen, rufen an und laden uns ein. Einige geplante Kontakte wurden auf später verlegt. Das ist eine „Straußenposition", denn während sie öffentlich von notgedrungener Verschiebung des einen oder anderen Treffens oder Besuchs sprechen, bitten sie uns sogleich, „uns nichts zu denken", bestätigen ihr Interesse an einer Fortsetzung des Gesprächs und einer Lösung von allem Geplanten, jedoch später. In Gottes Namen! Wir sind nicht so leicht beleidigt.

Ich bin überzeugt, dass das vorüber gehen wird. In der EU werden bereits vernünftige Stimmen laut. Wir nehmen absolut nicht an, dass diese Entfremdung strategisch wird. Russland ist daran interessiert, dass sich unsere strategische Partnerschaft mit der Europäischen Union festigt und entwickelt. Wir bestätigen die mehrfach vom russischen Präsidenten Vladimir Putin formulierte Initiative zur Schaffung eines einheitlichen wirtschaftlichen und humanitären Sicherheitsraums vom Atlantik bis zum Stillen Ozean, im Kontext einer gleichen, unteilbaren Sicherheit und Nutzung der Wettbewerbsvorteile in unserer nicht sehr einfachen Zeit, wo man in der Wirtschaft Partner und vergleichbare Vorteile haben muss. Wenn man das Potential Russlands und der Europäischen Union zusammenlegt, werden beide von den stärkeren Positionen auf den Weltmärkten gewinnen.

Als ersten praktischen Schritt, damit niemand denkt, dass wir diese Losung verworfen hätten und sie nicht mit praktischem Inhalt füllen wollen, hat bereits im Jänner d.J. bei ebenjenem Treffen beim Essen in Brüssel mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Herman Van Rompuy und dem Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso, der russische Präsident Vladimir Putin vorgeschlagen, Expertenberatungen zum Thema der Errichtung einer Freihandelszone zwischen der EU, der Zollunion und in der Perspektive der gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion zu beginnen, mit dem Ziel der Errichtung dieser Zone bis zum Jahr 2020. Diese Idee ist lebendig, aktuell und ruft Interesse hervor, unter anderem im Kontext dessen, was jetzt im Wirtschaftsbereich zwischen der Ukraine und der EU sowie der Ukraine und der Freihandelszone der GUS geschieht. Das wäre eine Antwort auf sehr viele Fragen.

Frage: Ihr Kollege und häufiger Gesprächspartner, US-Staatssekretär John Kerry, hat vor einigen Monaten Russland vorgeworfen, dass wir im 21. Jh. versuchen, zu den Ordnungen und Normen des 19. Jh. zurückzukehren. Von meiner Warte aus wäre das nicht die schlechteste Periode für eine Rückkehr, da die Diplomatie damals ein „goldenes Jahrhundert" erlebte und es sich lohnen würde, von so manchem zu lernen. Wie dem auch sei, es ist klar, dass sich vieles verändert hat. Ich beobachte, wie sich der Außenraum ändert und denke dabei mit Schrecken an Diplomaten. Früher gab es gewisse Normen – wir besprachen zum Beispiel etwas, und das blieb unter uns. Aber jetzt entsteht folgender Eindruck: etwas dringt wider Willen durch (wird von einem wohlwollenden Idealisten mitgeteilt), und etwas wird einfach von einem der Gesprächspartner an die Öffentlichkeit getragen, weil er das für wichtig und für notwendig hält. Ich erinnere mich an die herrliche Geschichte, wie Sie einen britischen Kollegen in Angst versetzt haben, als ihm nicht gefiel, wie Sie sich geäußert haben, und er öffentlich darauf geantwortet hat. Wie arbeitet es sich für Diplomaten unter solchen Bedingungen?

Sergej Lawrow: Der britische Kollege hat nicht öffentlich geantwortet. Man wartete etwa drei Monate, bevor man einen Satz an die Presse „lancierte", der nicht von mir war. Ich hatte nur einen anderen europäischen Kollegen von uns zitiert, der im August 2008 nach einem Besuch in Tiflis nach Moskau kam und seinen Eindruck von Micheil Saakaschwili schilderte. Ich habe nur zitiert, wie er ihn beschrieben hat. Warum sie das drei Monate später machten und beschlossen, dass ich diese Worte verwendet hatte, das überlasse ich ihrem Gewissen.

Frage: Sie haben einen Gegenscherz vorbereitet…

Sergej Lawrow: In der Diplomatie und Politik muss es im Gesamten irgendwelche ethische Regeln geben, und diese gehen nicht von einer Preisgabe, zumindest von einer öffentlichen Preisgabe dessen aus, worüber im Vertrauen, in „geschlossenen Kanälen" gesprochen wurde.

Der Vorfall mit José Manuel Barroso ist recht bezeichnend. Nicht zu rechtfertigen sind die Versuche einiger unserer Medien, diesen so darzustellen, als würde er die tatsächliche Absicht der russischen Führung, Truppen einzuschleusen und Kiew zu erobern, widerspiegeln. Das bleibe deren Gewissen überlassen. Die Hauptsache ist, dass wir sofort vorgeschlagen haben, den vollen Wortlaut des Gesprächs zu veröffentlichen. Ich versichere, wir haben keinen Grund dafür, notfalls nicht sogar die geheimsten Gespräche publik zu machen. Wir haben nichts zu verbergen und uns für nichts zu schämen. Der Modus dieser Verhandlungen und der entsprechende Namensstempel auf den Dokumenten erklärt sich dadurch, dass Vereinbarungen in der Regel nicht zu „verscheuchen" sind. Wenn etwas vereinbart wurde und das in Medienkreise gelangt, so wird es wahrscheinlich Interessenten geben, die auf die Äußerung des einen oder anderen spekulieren.

Frage: Wir haben darüber gesprochen, was hinter verschlossenen Türen vorgeht. Haben Sie nicht vor, irgendwann einmal darüber zu schreiben? Falls Sie vorhaben, Memoiren zu schreiben, in wie vielen Jahren können Sie sich das erlauben?

Sergej Lawrow: Darüber habe ich nie nachgedacht, doch auf Ihre Frage kann ich antworten, dass ich keine Memoiren schreiben werde. Zu erzählen ist interessanter.

13. September 2014


Дополнительные материалы

  • Фото

Фотоальбом

1 из 2 фотографий в альбоме

Некорректно указаны даты
Дополнительные инструменты поиска