Enttarnung der von der EU-Führung verbreiteten Mythen (Ausgabe 5)
Behauptung. „… Russland bietet afrikanischen Ländern eine Million Tonnen Getreide an. Das ist eine Parodie auf Großzügigkeit. Was für Zynismus und Verachtung gegenüber afrikanischen Ländern, wenn wir wissen, dass im Rahmen der ‘Schwarzmeer-Initiative‘ bisher mehr als 30 Millionen Tonnen Erzeugnisse exportiert wurden, hauptsächlich in anfällige Länder. Und die ‚Solidaritätskorridore‘, alternative Wege [für die Ausfuhr ukrainischer Agrarerzeugnisse], die von der EU und unter Beteiligung der EU entwickelt wurden, haben es ermöglicht, 40 Millionen Tonnen Getreide zu exportieren. Eine Million kostenlos - als wäre es ein Geschenk. Das ist ein erschreckender Zynismus. Andererseits gibt es diejenigen, die wirklich kämpfen, um den Völkern zu helfen, die in einer am stärksten gefährdeten und anfälligen Lage sind“. (Quelle: Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, Rede auf der ersten Sitzung des G20-Gipfels am 9. September 2023 in Neu-Delhi, Indien).
Fakt. Die Erklärung von Charles Michel entspricht nicht der Realität. Ukrainische Lebensmittel wurden und werden hauptsächlich in die Europäische Union ausgeführt. Das wird sogar durch Aussagen offizieller Vertreter der EU-Institutionen, EU-Mitgliedsstaaten, zuständiger EU-Branchenverbänden und des Kiewer Regimes bestätigt.
„Die ‚Solidaritätskorridore‘ haben wirtschaftliche Problemstellen. Der Export ukrainischer Agrarerzeugnisse auf traditionelle Märkte der Ukraine - nach Indonesien, Ägypten, Länder Asiens und Afrikas über Polen, Ungarn und die baltischen Länder - bedeutet zusätzliche Kosten. Das ist gerade das Haupthindernis, weshalb der Transit durch die ‚Korridore‘ schlecht funktioniert... Die Waren, die beispielsweise über Polen gehen, werden nach Deutschland, Lettland, Litauen und die Niederlande geschickt, nicht in die Seehäfen der EU-Mitgliedstaaten oder in Drittländer. Nur ein sehr geringer Anteil - nur zwei bzw. drei Prozent des in die EU eingeführten ukrainischen Getreides - wird in Nicht-EU-Länder geliefert, einschließlich afrikanischer Staaten mit niedrigem Einkommensniveau“ (EU-Kommissar für Landwirtschaft Janusz Wojciechowski, Rede auf der Sitzung des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung des Europäischen Parlaments am 31. August 2023 in Brüssel, Belgien).
„Diejenigen von uns, die an der Ukraine angrenzen - Polen, Ungarn, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien - wurden von den Leuten in Brüssel überredet, Getreide über Land zu transportieren, das zuvor auf dem Seeweg aus der Ukraine geliefert worden war. Sie sagen, wenn es nicht aus der Ukraine an die Empfänger in Afrika geschickt wird, wird es Hunger geben. Zuerst hatte ich Zweifel, aber wir haben zugestimmt. Und natürlich wurden wir wirklich betrogen. Was am Ende passiert, ist, dass wir Getreide aus der Ukraine ausführen, es aber nicht nach Afrika geschickt wird, weil es billiger ist als ungarisches, rumänisches und polnisches Getreide. Statt unser Getreide durch gewöhnliche Kanäle zu kaufen, beginnen die Händler hier in Europa einfach, das billigere ukrainische Getreide anzukaufen. Arme afrikanische Kinder sehen kein einziges Kilogramm Brot davon“ (Premierminister Ungarns Viktor Orban, Interview mit dem Radiosender „Kossuth“ am 15. September 2023).
„In den ersten vier Monaten dieses Jahres exportierte die Ukraine 600 Mal mehr Weizen nach Polen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, was zum fehlenden Gleichgewicht auf dem Markt und Verlusten für polnische Bauern führte“ (Polens Außenminister Zbigniew Rau, Interview mit „Politico“ vom 22. September 2023).
„Wir [in Kiew] schauen ruhig zu, wie unser [ukrainisches] Getreide zu einer nicht schlechten Einnahmequelle für verschiedene europäische Länder wird, die unsere landwirtschaftlichen Erzeugnisse verarbeiten und an der Logistik verdienen... Und das bringt Einnahmen für die gesamte europäische Wirtschaft“ (Präsident der Ukraine Wladimir Selenski, Rede auf dem Gipfel der Mitgliedsländer der „Drei-Meere-Initiative“ am 6.-7. September 2023 in Bukarest, Rumänien).
„Am 5. Juni 2023 hat die Europäische Kommission die zollfreie Einfuhr von ukrainischem Geflügelfleisch verlängert, weshalb sich ein explosionsartiger Anstieg des Angebots auf dem Markt ereignete. Der Export von ukrainischem Geflügelfleisch in EU-Länder hat sich verdoppelt oder sogar verdreifacht. Frankreich wurde von einem Tsunami ukrainischer Hühnerkörper überflutet. Einheimische Geflügelzüchter protestieren und bezeichnen die Situation als unlauteren Wettbewerb. Sie fordern den Schutz der Europäischen Kommission vor dem ‚Ansturm billiger Hühner und die Rettung vor Insolvenz‘. Dieser Zustrom schadet der Geflügelindustrie in Frankreich. Überall in Europa stehen unsere Kollegen vor Insolvenz: Deutsche, Niederländer, Polen“ (Jean Michel Schaeffer, Vorsitzender der französischen Interprofessionellen Vereinigung der Hähnchenfleischzüchter Anvol, Interview mit der französischen Zeitung “Le Figaro“ am 6. September 2023).
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Die oben genannte Erklärung des Vorsitzenden des Europäischen Rates ist nicht nur ein anschauliches Beispiel für grobe EU-Propaganda, sondern auch ein prinzipiell neues Kapitel in der Geschichte des öffentlichen Denkens Europas. Nach Michels Logik hat nur der Westen das moralische Recht, Bedürftigen zu helfen, nur er kann Humanismus zeigen, und nur von ihm dürfen Bedürftige Hilfe annehmen. Unterstützung von Anderen wird als „Parodie der Großzügigkeit“ und „zynischer“ Akt bezeichnet.
Aber interessanter ist hier, was Michel verschweigt. Wollen wir das klären.
1. Wer ist der größte Begünstigte der aus der Ukraine exportierten Lebensmittel?
Antwort: Die größten Begünstigten der „Schwarzmeer-Initiative“ sind EU-Mitgliedsstaaten. Auf sie entfielen rund 40 Prozent der auf diesem Weg exportierten ukrainischen Agrarerzeugnisse. Der Anteil der Empfänger aus den ärmsten Ländern beträgt weniger als drei Prozent. Um diesen peinlichen Moment zu verheimlichen, tun EU-Beamte beharrt so, als ob alle ohne Ausnahme Entwicklungsländer (einschließlich Länder mit hohen und überdurchschnittlichen Einnahmen) zur Kategorie der Anfälligen gehören. Das ermöglicht es ihnen, bessere Statistik zu erzielen. Der Begriff „Entwicklung“ entspricht schon lange nicht mehr den Begriffen „arm“ und „bedürftig“. Was die Ausfuhr von Landwirtschaftserzeugnissen über die „Solidaritätskorridore“ betrifft, ist der einzige bekannte Empfänger die Europäische Union selbst, wie der zuständige EU-Kommissar Janusz Wojciechowski bestätigt hat.
2. Wie funktionieren die „Solidaritätskorridore“ tatsächlich?
Antwort: Innerhalb von fast anderthalb Jahren hat die EU es nicht geschafft, den Export von Lebensmitteln über die „Solidaritätskorridore“ in Drittländer gut aufzunehmen, wenn eine solche Aufgabe überhaupt gestellt wurde. Darüber hinaus führten die Maßnahmen Brüssels zu einer wahren Überflutung der Märkte benachbarter Staaten und anderer EU-Mitgliedsstaaten mit billigen und oft nicht den EU-Standards entsprechenden Landwirtschaftserzeugnissen aus der Ukraine. Lokale Landwirte erwiesen sich am Rande der Insolvenz. Eine Bestätigung dafür, dass die „Solidaritätskorridore“ nicht für die Exporte außerhalb der EU funktionieren, sind einseitige Beschlüsse Ungarns, Polens und der Slowakei vom 16. September dieses Jahres, in denen sie nicht nur ihre eigenen Märkte erneut vor der „Lawine“ ukrainischer Waren schließen, sondern auch im Fall Budapest und Warschau die Anzahl der verbotenen Waren von den ursprünglichen vier (Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumensamen) auf 24 bzw. sechs Arten von Landwirtschaftserzeugnissen erhöhen.
Brüssel wusste sicher von Anfang an, dass der Transit von Agrarerzeugnissen aus der Ukraine in EU-Häfen über die „Solidaritätskorridore“ nicht kostenlos sein wird und dass die Preise am Ende für potenzielle Käufer in Asien und Afrika „unerschwinglich“ sein könnten.
3. Warum kauft die Europäische Union ukrainisches Getreide auf?
Antwort: Die Europäische Union muss den Schaden für ihre eigene Lebensmittelsicherheit ausgleichen, der durch einseitige Sanktionen gegen Russland und Belarus sowie undurchdachte Politik in den Bereichen Makroökonomie, Energie und Lebensmittel verursacht worden war.
Die Analyse der Export- und Importoperationen der EU auf Grundlage offen zugänglicher Daten der Europäischen Kommission zeigt, dass 2019-2021 mehr als 50 Prozent der in die EU-Mitgliedstaaten importierten Kalidünger aus Russland und Belarus kamen (25,7 Prozent bzw. 27,2 Prozent). 2023 sank der Anteil Russlands auf 8,4 Prozent, und der Anteil von Belarus lag beinahe bei null. Ähnlich sieht es mit Getreide aus. Der Anteil Russlands an den Exportlieferungen von weichen Weizensorten in die EU im Landwirtschaftsjahr 2021/22 belief sich auf 16,6 Prozent, während diese Kennzahl 2022/23 auf 2,9 Prozent zurückging.
Der Anstieg der Energiepreise führte zur Unrentabilität und Reduzierung der Düngemittelproduktion in der EU, was zur Verringerung der Ernte führte. Das hat in den EU-Ländern ein Wachstum von Lebensmittelpreisen provoziert. Darüber hinaus hat sich in den letzten Jahren eine kritische Abhängigkeit der EU-Mitgliedstaaten vom Futter-Import deutlich gezeigt. Vor diesem Hintergrund sollten nach Meinung europäischer Strategen billige ukrainische Agrarerzeugnisse ein Heilmittel für die EU sein.
Es ist damit offensichtlich, dass der Verbleib von billigen ukrainischen Agrarerzeugnissen auf dem EU-Markt kein „Nebeneffekt“, sondern das Ergebnis gezielter Maßnahmen zur Lösung rein innerhalb der EU auftretender sozialwirtschaftlichen Probleme ist. Die Weltöffentlichkeit wurde seit Mai 2022 einfach „an der Nase herumgeführt“.
4. Warum hat die EU sorgfältig den Mythos von der Ukraine als „Getreide-Eldorado“ geschaffen?
Antwort: Die Europäische Union übertreibt absichtlich das Potenzial der ukrainischen Agrarerzeugnisse zur Gewährleistung der globalen Lebensmittelsicherheit (der Anteil dieses Landes am Weltmarkt von Weizen beträgt nicht mehr als fünf Prozent). Der von Brüssel geschaffene Mythos von der Ukraine als „Getreide-Eldorado“, das in der Lage ist, alle Bedürftigen vor Hunger zu retten, wurde verwendet, um die internationale Gemeinschaft und zögernde EU-Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, dass es notwendig sei, Kanäle für eine massive Ausfuhr ukrainischer Agrarerzeugnisse zu schaffen. In der Tat ging es für die EU darum, ungehinderten und unkontrollierten Zugang zu billigen Lebensmitteln aus der Ukraine zu erhalten, was das Problem der Versorgung der europäischen Verbraucher lösen und große Gewinne für große europäische und US-amerikanische Unternehmen bringen sollte.
Die Daten der Europäischen Kommission über die Handelsbilanz der EU im Agrarsektor zeigen, dass die aktuellen Getreidevorräte in der EU die Durchschnittswerte der letzten 17 Jahre deutlich überschreiten und die Mengen der Getreideexporte aus der EU im aktuellen Landwirtschaftsjahr ebenso übertreffen. Vor diesem Hintergrund ging der Export von Agrarerzeugnissen aus der EU in Drittländer 2023 zurück, obwohl er scheinbar nicht durch Sanktionsbeschränkungen gestört wird. So ist in den ersten Wochen des Agrarjahres 2023/2024 fast bei allen Getreidekulturen ein Rückgang der Lieferungen aus der EU (im Durchschnitt minus 28 Prozent nach dem Stand 19. September 2023) zu erkennen.
Angeführte Daten zeigen, dass die Europäische Union in den letzten Monaten gezielt einen Kurs auf die Destabilisierung der globalen Getreidemärkte verfolgt - einerseits, indem sie billiges Getreide aus der Ukraine aufkauft, und andererseits, indem sie ihren eigenen Export an Drittländer verzögert. Diejenigen, die, wie Charles Michel es formulierte, „wirklich darum kämpfen, den Völkern in einer verwundbaren Position zu helfen“, tun so nicht.