Rede und Antworten des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, auf Fragen auf einer Rundtisch-Sitzung mit Teilnehmern des Klubs für die Förderung der öffentlichen Diplomatie „Alexander Gortschakow“ im Videokonferenz-Format am 21. April 2020 in Moskau
Ich möchte mich bei dem Fonds für die Förderung der öffentlichen Diplomatie „Alexander Gortschakow“ für die Einladung zu dieser Diskussion bedanken, die, soweit ich verstehe, einen ganzen Komplex von Vorlesungen eröffnet, die der Fonds online organisieren wird.
Das Leben zwingt uns quasi, nach kreativen Wegen zur Fortsetzung der Diskussionen über die Zukunft der Menschheit zu suchen. Unter den aktuellen Bedingungen ist das wichtig, wie nie zuvor.
Die Corona-Infektion, die zu einer riesigen Erprobung für alle Staaten der Welt, für viele internationale Organisationen wurde, muss uns natürlich dazu bewegen, die Ereignisse in der Welt zu überdenken, wie auch die Frage, wie man weiter leben muss, wohin man sich bewegen muss, um eine friedliche, sichere und stabile Zukunft der ganzen Menschheit zu gewährleisten.
Es wurde schon seit geraumer Zeit klar (und die Pandemie hat das besonders deutlich gemacht), dass wir in einer Welt leben, die gegenseitig verbunden und abhängig ist. Wenn sich Menschen, Kapitale, Dienstleistungen und Waren über die ganze Welt bewegen, bewegen sich auch Gefahren genauso frei, zu denen unter anderem der uns allen bekannte Terrorismus, Drogenhandel und andere Formen der organisierten Kriminalität, die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und jetzt auch die Pandemie gehören, die keine Grenzen kenne und von der man sich nicht abgrenzen kann.
Es ist klar, dass unter solchen Bedingungen kollektive Vorgehensweisen im Kontext der internationalen Beziehungen nötig sind. Die Konzeptionen des Hegemonismus, der Dominanz sind im 21. Jahrhundert völlig unangebracht. Die Welt geht zuversichtlich den Weg zu einem neuen, gerechteren und demokratischeren System der internationalen Beziehungen, zu einer polyzentrischen Architektur der Weltordnung. Das passiert nicht künstlich, sondern durch einen natürlichen Aufschwung einer ganzen Reihe von Wirtschaften, Finanzzentren. Und dem wirtschaftlichen bzw. finanziellen Einfluss folgt natürlich auch der Einfluss auf dem Gebiet der internationalen Politik. Solche Prozesse beobachten wir in erster Linie im Asien-Pazifik-Raum, in Lateinamerika, aber auch in Afrika, mit dessen Entwicklung und mit dessen Ressourcen viele die Zukunft der Menschheit für eine sehr lange Zeit verbinden. Die Länder, die aktuell einen solchen Aufschwung erleben, festigen ihre nationalen Wirtschaften, ihre finanziellen Möglichkeiten und üben natürlich eine selbstständige, national orientierte Außenpolitik aus. Und man muss einräumen, dass viele von ihnen sehr positive und beeindruckende Ergebnisse erreichen.
Die Versuche zum Ausbremsen dieses Prozesses, die wir gerade beobachten, sind aus historischer Sicht natürlich aussichtslos. Es ist klar, dass die Länder, die seit fast einem halben Jahrtausend in den internationalen Angelegenheiten das Sagen hatten und jetzt neue Konkurrenten sehen, die immer stärker werden, ihre privilegierten Positionen beibehalten wollen. Manchmal greifen sie auch auf nicht ganz saubere Instrumente zurück. Ich muss abermals unterstreichen, dass historische Versuche zur Behinderung des objektiven Prozesses der Gestaltung des multipolaren Systems zum Scheitern verdammt sind. Das dies offensichtlich ist, wird in ganz verschiedenen Situationen deutlich – das ist auch daran zu sehen, wie die G20 entstanden ist und funktioniert, an der sich die G7- und auch die BRICS-Länder beteiligen, ohne deren Zusammenwirken bzw. Konsens Probleme in der Weltwirtschaft, in den internationalen Finanzen und im Grunde in der Weltpolitik, die mehr oder weniger wichtig sind, sich nur sehr schwer lösen lassen.
Nach dem Konsensprinzip arbeiten auch andere Vereinigungen, an denen sich die Russische Föderation beteiligt. Ich kann dabei unter anderem die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die Integrationsvereinigungen im postsowjetischen Raum erwähnen – die Eurasische Wirtschaftsunion, die OVKS, die GUS.
Ich gehe davon aus, dass die aktuelle Krisensituation, die wegen der Corona-Infektion entstanden ist, uns zwingt, möglichst ernst und wohl auch möglichst schnell die Lösungen zu erwägen, die von internationalen Akteuren aus verschiedenen Gründen immer auf die lange Bank geschoben wurden. Ich meine insbesondere die humanitären Aspekte der Entwicklung der Menschheit. Kolossale Schäden werden Einwohnern einer ganzen Reihe von Ländern durch einseitige und illegitime Sanktionen zugefügt, wie auch durch Sanktionen, die unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats verhängt wurden. Vor allem meine ich dabei solche Länder wie Iran, Syrien, Nordkorea und andere Staaten, die zum Objekt von illegitimen einseitigen Sanktionen des Westens wurden. Selbst jetzt, wenn sie dringend Ausrüstung, Medikamente, spezielle Schutzmittel für den Kampf gegen die Pandemie brauchen, können sie diese nicht bekommen, weil die westlichen Länder, vor allem die USA, die Aufrufe ignorieren, eine humanitäre Pause auszurufen, eine Ausnahme von allen Sanktionen zu machen, damit Güter geliefert werden könnten, die für die Bekämpfung der Pandemie erforderlich sind. Das ist alles sehr traurig. Ich darf erinnern, dass auch der UN-Generalsekretär António Guterres mit einem entsprechenden Aufruf auftrat; auch die UN-Menschenrechtsbeauftragte Michelle Bachelet mache eine ähnliche Erklärung. Der russische Präsident Wladimir Putin trat beim jüngsten G20-Gipfel, der online verlief, mit der Initiative zur Einrichtung von gewissen „grünen Korridoren“ auf, die von Handelskriegen und Sanktionen frei wären, damit jeweilige Länder mit Medikamenten, Lebensmitteln, Ausrüstung und Technologien versorgt werden.
Bevor der interaktive Teil unseres Gesprächs beginnt, möchte ich eine prinzipielle, konzeptuelle Frage hervorheben, die wir in letzter Zeit oft aufwerfen. Ich meine, dass unsere westlichen Partner dazu tendieren, das Völkerrecht möglichst selten zu erwähnen und diesen Begriff sogar aus dem Vokabular zu verdrängen. Statt des „Völkerrechts“ erwähnen sie eine neue Formel: „Ordnung auf Basis von Regeln“. Wir sehen, dass diese Konzeption von unseren westlichen Partnern praktisch umgesetzt wird, wenn es um Übertragung von Fragen außerhalb der UNO, der universalen, multilateralen Institutionen geht, bei deren Behandlung der Westen seinen Standpunkt durchsetzen will, ohne etwas zu vereinbaren.
Achten Sie auf etwas: Sobald in etablierten und allgemein anerkannten Mechanismen das Problem entsteht, in dessen Kontext der Westen auf Gegenwirkung stößt, will er in vielen Fällen nicht mehr nach Konsensen suchen und trägt das jeweilige Problem einfach außerhalb der multilateralen Strukturen. Ich meine das, was gerade in der OPCW vorgeht, und auch die Versuche, per Abstimmung konventionelle Konsensdokumente zu verändern, wie auch viele andere Dinge. Wir werden natürlich die universalen Institutionen verteidigen, die sich an der UNO orientieren, wie auch das ganze System der internationalen Beziehungen, die sich auf die UN-Charta stützt. Die in der Charta verankerten Prinzipien, vor allem die souveräne Gleichheit der Staaten, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten voneinander, friedliche Regelung von Kontroversen – sie alle bleiben unter den modernen Bedingungen voll und ganz in Kraft und werden sogar noch wichtiger.
Wir begehen in diesem Jahr den 75. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg und der UN-Gründung. Ich denke, das ist ein passender Anlass dafür, dass wir uns alle vereinigen und uns auf die Festigung der universalen Mechanismen konzentrieren, ohne irgendwelche Strukturen zu bilden, die nicht vollwertig wären und versuchen würden, die multilaterale Diplomatie durch diverse Begriffe wie „Ordnung auf Basis der Regeln“ oder – das ist ein neuer Ausdruck, der eben erfunden wurde – „Union für Unterstützung des Multilateralismus“, also der Vielseitigkeit, zu ersetzen.
Wer den Multilateralismus unterstützen will, sollte einräumen, dass die wahre und einzig richtige Vielseitigkeit in der UNO verkörpert ist, die über die einmalige Legitimität verfügt. Deshalb sollten die Befürworter der Vielseitigkeit in die UNO kommen und dort mit allen anderen Staaten verhandeln, ohne zu versuchen, schwierige Themen in einem engen Kreis von „Gleichgesinnten“ zu besprechen, um dann allen anderen die dabei getroffenen Beschlüsse als universale und absolut alternativlose Meinung aufzuzwingen.
Das ist, was uns beunruhigt. Ich bin sehr dankbar, dass uns heute die Möglichkeit bietet, diese Themen zu besprechen. Wir versuchen immer, Einschätzungen zuzuhören, die russische und ausländische Experten und Politologen zum Ausdruck bringen, und sie in unserer Arbeit zu berücksichtigen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bin zur weiteren Arbeit bereit.
Frage: Zur Situation in Libyen. Schon vor Langem hat jeder objektive Mensch anerkannt, dass gerade dank der Hilfe der Russischen Föderation geschafft wurde, nicht nur die legitime Regierung Syriens, sondern auch das Land selbst zu retten. Neben Syrien gibt es in der Region einen weiteren alarmierenden Herd – Libyen. Wie meinen Sie, gibt es die Möglichkeit, dass Russland Initiator solcher Initiative zur konkreten, effektiven Regelung der Situation in Libyen wird, indem eine Koalition zum Beispiel mit Ägypten, Italien, anderen Ländern in dieser Region gebildet wird?
Sergej Lawrow: Wir sind absolut offen dazu, ein faires, ausgewogenes Zusammenwirken zu jeder Krisenfrage zu finden, darunter das Zusammenwirken zur Konfliktregelung in Libyen. Sie wissen, wie dieser Konflikt begann, als unsere westlichen Kollegen – Nato-Länder – die Resolution des UN-Sicherheitsrats grob verletzten. Die Resolution wurde 2011 verabschiedet und sah die Einführung der Flugsperrzone über Libyen vor, was einen konkreten Ding vorsah, was diese Resolution gerade erklärte – die Luftstreitkräfte des Obersts Gaddafi sollte nicht in die Luft starten. Sie haben das auch nicht gemacht. Um das Regime der Flugsperrzone zu gewährleisten, wurden alle interessierten Länder durch den Sicherheitsrat bevollmächtigt, um die notwendigen Maßnahmen zu treffen, damit die Luftstreitkräfte Gaddafis nicht fliegen. Sie flogen auch nicht, doch der Westen hob die Fliegerkräfte der Nato und begann mit Bombenangriffen der Gaddafi-Armee auf dem Boden, indem er de facto auf der Seite der Extremisten (und es gab sie die Mehrheit) auftrat, die den Kurs auf den Sturz des Regimes nahmen. Danach verwandelte sich Libyen in ein schwarzes Loch. In schwarzes Afrika, Afrika südlich von Sahara und Sahara-Sahel-Region strömten Waffenschmuggel, Extremisten, Drogen.
Viele Terroreinheiten, die sich seit der Zeit in Afrika ziemlich fest festigten, sind gerade mit dieser Periode verbunden. In den Norden via Libyen starteten Ströme illegaler Migranten, unter denen Europa bis heute leidet und dieses Problem ziemlich schwer löst. Was soll jetzt gemacht werden… Ich sage das nicht, damit wir uns ständig an die Frage wenden, wer schuld ist. Die Frage, was gemacht werden soll, ist nicht weniger wichtig, hier haben wir mit unseren italienischen Kollegen, mit vielen anderen europäischen Ländern und Ländern der Region ein gutes Verständnis. Das Verständnis besteht darin, dass dieser Konflikt keine militärische Lösung hat, dass man eine Vereinbarung erreichen soll. Russland unternimmt zusammen mit mehreren anderen Staaten, darunter die Türkei, Ägypten, VAE, Katar Anstrengungen zum Start dieses politischen Dialogs. Ich würde daran erinnern, dass wir die Tätigkeit des UN-Sonderbeauftragten für Libyen-Regelung, als Ghassan Salamé diesen Posten innehatte, aktiv unterstützten. Wir bemühten uns, den Prozess via eigene Initiativen zu fördern, als wir den Berliner Prozess unterstützten, bemühten uns, dem Erfolg der Berliner Konferenz zu helfen, wobei zusammen mit unseren türkischen Kollegen in Moskau ein Treffen der wichtigsten Protagonisten des libyschen Konfliktes einberufen wurde, also mit Marschall Chalifa Haftar, Fayez Sarradsch – Chef des Präsidentenrats und Regierung der nationalen Einheit und Aguila Saleh – Parlamentsvorsitzenden in Tobruk. Leider wurde bei diesem Treffen in Moskau nicht geschafft, ein Dokument zu unterzeichnen, allerdings wurde die Bewegung in der Richtung der Ausarbeitung von Kompromissen, Konsense gegeben. Wir spielten die entscheidende Rolle darin, unsere deutschen Kollegen davon zu überzeugen, die libyschen Seiten bei der Vorbereitung der Berliner Konferenz nicht zu ignorieren. Zunächst wollten sie weder Sarradsch, noch Haftar, Libyer, selbst Nachbarn Libyens rufen. Wir arbeiteten ziemlich aktiv mit Berlin, überzeugten sie davon, dass es ein Fehler gewesen wäre. So tauchten auf der Berliner Konferenz die Hauptprotagonisten auf – Fayez Sarradsch und Chalifa Haftar. So tauchten dort auch die Nachbarn Libyens auf, darunter unsere ägyptischen Kollegen. Und unsere Hauptbotschaft, wie man jetzt sagt, während der Berliner Konferenz bestand darin, dass wir bereit sind, jede Beschlüsse beim Verständnis zu unterstützen, dass sie von Fayez Saradsch und Chalifa Haftar unterstützt werden.
Leider haben wir während der Berliner Diskussionen keine direkte Antwort auf diese Frage bekommen, weshalb wir uns für die Unterstützung der Ideen äußerten, die in Berlin formuliert wurden, doch sagten natürlich, dass sie nicht aufgedrängt, sondern die Seiten dazu gebracht werden sollen, diesen Herangehensweisen zuzustimmen. Leider hatten wir wieder einmal recht, weil jetzt erneut die Erfüllung der Beschlüsse der Berliner Konferenz stolpert, die Kampfhandlungen wurden wiederaufgenommen. Wir treten auf der einen Seite mit einer einfachen Initiative auf – wollen wir erneut den politischen Prozess fortsetzen. Salame, der beinahe der Hauptmotor des Berliner Prozesses war, hat gebeten, ihn von den Verpflichtungen des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs zu befreien. Jetzt werden die Verpflichtungen des UN-Sonderbeauftragten für Libyen von der Amerikanerin Stephanie Williams erfüllt. Sie war Stellvertreterin von Salame. Ich denke, dass man schnellstmöglich den ständigen Sonderbeauftragten ernennen soll, der nach unserer Meinung aus einem afrikanischen Land stammen soll, das sich in einer gemeinsamen Region mit Libyen befindet. Jetzt beschloss die EU, bei der Verfolgung der Einhaltung des Waffenembargos nach Libyen zu helfen. Das ist eine gute Sache, doch wir sagten schon mehrmals unseren europäischen Freunden in den letzten Monaten – ich sprach auch mit Josep Borrell, Heiko Maas, Luigi Di Maio. Mir scheint, dass die EU in den UN-Sicherheitsrat kommen und sagen soll: „Der Sicherheitsrat ruft das Waffenembargo aus, und es muss erfüllt werden. Wir, die EU wollen eine weitere Sonderoperation zur Kontrolle des Waffenembargos umsetzen. Sie beinhalten die folgenden Elemente. Wir bitten den Sicherheitsrat, unser Herangehen zu unterstützen“. Der Umstand, dass sich die EU weigert, ihre Ideen dem UN-Sicherheitsrat vorzulegen, löst natürlich Fragen über die Gründe dieser Position aus.
Ich hoffe, dass diese Gründe in der nächsten Zeit bekannt gegeben werden. Ich betone nochmals, indem man meine ziemlich allgemeine Erklärung zusammenfasst, dass wir für die Schaffung einer Plattform sind, auf der alle äußeren Akteure die libyschen Seiten zur Einigung bewegen werden. Die Versuche, mal auf ein, mal auf ein anderes Lager zu setzen, sahen wir in der Vergangenheit. Seit Beginn der Anstrengungen der UNO zur libyschen Regelung hatten wir Kontakte mit allen libyschen Seiten. Sie alle waren in Russland, wir trafen uns mit jedem dieser politischer Vertreter auf verschiedenen multilateralen Plattformen und verzeichnen jetzt zufriedenstellend, dass jene unseren Partner, die in den Anfangsetappen versuchten, auf eine bestimmte libysche Seite zu setzen, jetzt jedoch verstehen, dass viel produktiver ist, sie dazu zu bewegen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Das ist, was ich jetzt für notwendig für uns alle zur Libyen-Krise halte.
Frage: Wie Sie sagten, beobachten wir seit Beginn 2020 auf der globalen Ebene die Situation eines perfekten Sturms. Wie schätzen Sie den Einfluss dieser Trends auf die EAWU-Länder im Ganzen und darunter auf Kasachstan und Russland ein und was sollen wir gemeinsam in diesem Zusammenhang unternehmen?
Sergej Lawrow: Ich bin davon überzeugt, dass die Länder im postsowjetischen Raum mit geringsten Verlusten die jetzigen Zeiten nur gemeinsam überwinden können. Es kam so, dass die Krise in dem Zeitpunkt ausbrach, als wir die neuen Qualitativen Schritte bei der Entwicklung der eurasischen Integration machen mussten, wo wir bereits die Freiheit der Bewegung der Menschen, Waren, Dienstleistungen, Kapitale haben und wo in den nächsten Etappen die zusätzliche Aufhebung der bleibenden Barrieren geplant ist, darunter der Eintritt in einen einheitlichen Energiemarkt in einigen Jahren. Ich bin davon überzeugt, dass es noch bevorsteht. Ich denke, dass alle diesen Pläne in Kraft bleiben – das war auf dem jüngsten Online-Gipfel der EAWU-Mitgliedsstaaten bestätigt. Es werden auch Online-Treffen auf der Ebene der Regierungschefs, Branchen-Minister vorbereitet. Ich bin davon überzeugt, dass wir unbedingt gemeinsame multilaterale Institute festigen sollen. Das betrifft sowohl die Eurasische Entwicklungsbank und den Eurasischen Fonds, die funktionieren und sehr viele wichtige Probleme für die Mitgliedstaaten lösen. Damit habe ich hier keine Offenbarungen, die eine Überraschung wären. Eine tüchtige Arbeit zur Festigung der gemeinsamen Institute. Und natürlich müssen wir die Erfahrung anderer Integrationsvereinigungen berücksichtigen, die deutlich früher als die EAWU ihre Arbeit aufnahmen, ich meine vor allem die EU. Die Europäische Union erlebt jetzt, wie wir alle, nicht einfache Zeiten, doch diese Krise fiel zeitlich mit der Zuspitzung der Diskussionen in der EU über ein optimales Verhältnis zwischen dem Funktionieren der übernationalen Organe und der Verantwortung der nationalen Regierungen zusammen. Das ist ein sehr wichtiges Problem, wir sehen, wie akut es zwischen Brüssel und mehreren Hauptstädten besprochen wird, darunter bezüglich der Vollmachten, die die nationalen Regierungen haben sollen, die Vollmachten, die den zentralen, übernationalen Strukturen übergeben werden. Natürlich besprechen wir das in der EAWU. Aus der Krise muss man immer Lehren ziehen, die für die Zukunft nützlich sein werden, und wie diese Fragen in der EAWU gelöst werden, das wird für uns sehr nützlich sein, um die Wege der Lösung der entsprechenden Aufgaben innerhalb der EAWU zu wählen.
Frage: Wie Sie wissen, gibt es in Polen die Meinung, dass es sehr gut sei, dass die Beziehungen zwischen Russland und der EU schlecht seien. Glauben Sie, dass sich diese Beziehungen während der Krise nach der Pandemie normalisieren werden, vor allem im Wirtschaftsbereich? Wenn ja, dann werden die polnischen Behörden versuchen, eine solche Normalisierung zu bremsen? Oder wird Warschau in einer solchen Situation entscheiden, dass Wirtschaft wichtiger als Politik ist?
Sergej Lawrow: Danke, das ist eine sehr interessante Frage.
Sie sagten, dass es in Polen Menschen gibt, die glauben, dass es gut ist, dass die Beziehungen zwischen Russland und der EU schlecht sind. Ich kann Ihnen versichern, dass es in Russland Menschen gibt, die sich freuen, dass die Beziehungen zwischen Polen und der EU auch nicht sehr gut sind. Wenn wir immer nach Dingen suchen würden, wegen der wir Schadenfreude empfinden könnten, würden wir nicht Politik ausüben – dann wären wir Politikaster, die ihre eigenen oder auch irgendwelche fremden Ambitionen befriedigen.
Ich kenne noch Zeiten, als ich zum Außenminister ernannt wurde. Wir hatten mit Polen schon immer schwierige historische Beziehungen, aber damals hatten wir mit diesem Land wohl so viele Kooperationsmechanismen, wie mit kaum einem anderen europäischen Land. Wir hatten das Komitee für Entwicklungsstrategie der russisch-polnischen Zusammenarbeit, an dessen Spitze die Außenminister beider Länder standen und an dem sich stellvertretende Wirtschafts-, Finanz-, Handels- und Kulturminister beteiligten. Es gab die Gruppe für schwierige Fragen, in der sich unsere Historiker trafen und traurige oder auch positive Seiten der Vergangenheit des polnischen und russischen Volkes ehrlich besprachen. Mehr noch: Gewisse Keime dieser Beziehungen bleiben immer noch. Vor relativ kurzer Zeit – definitiv schon nach dem Jahr 2014 – wurde ein russisch-polnisches Lehrbuch herausgegeben, das der Geschichte der letzten 100 Jahre gewidmet war. Dort gab es eine ganze Reihe von gemeinsamen Artikeln. Zu den Artikeln, in Bezug auf die es Kontroversen gab, wurden zwei Meinungen veröffentlicht: die polnische und die russische. Das ist viel besser als einander per Mikrofon zu beschuldigen, ohne die Möglichkeit für richtige Kommunikation zu haben. Wir hatten eine gemeinsame Auszeichnung der Außenminister Russlands und Polens für Kulturschaffende. Ich weiß noch, wie wir gemeinsam mit dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski Barbara Brylska und Viktor Jerofejew auszeichneten. Das war in Warschau. Es war eine sehr warme Zeremonie. Es gab viele Dinge, die nützlich waren. Jetzt sind sie alle auf Eis gelegt worden, unter anderem der visafreie Verkehr zwischen dem Gebiet Kaliningrad und den benachbarten Woiwodschaften Polens. Ich denke, das ist eine traurige Tatsache. Wenn wir alle (und die polnische Führung plädiert, glaube ich, auch dafür) die Kontakte zwischen Menschen, die Offenheit unserer Gesellschaften fördern, wie kann man denn den visafreien Verkehr sperren? Dort verweist man großenteils auf kommerzielle Interessen: Jemand hätte etwas billiger gekauft und es dann in seinem Land teurer verkauft. Aber die Menschen pflegten immerhin Kontakte.
Was den Ausweg aus dieser Situation angeht, so nähert sich die Europäische Union – wir sehen und hören das, manchmal sogar öffentlich – immer mehr dem Moment, wenn man die „fünf Prinzipien“, die Federica Mogherini für die Beziehungen mit Russland erfunden hat, neu erwägen muss – oder sie weiter gelten lassen. Ich weiß, dass Polen für ihre Aufrechterhaltung eintritt. Viele andere Länder sprechen sich dafür aus, dass da keine Veränderungen nötig sind. Aber eine ganze Reihe von EU-Ländern findet, dass man diese Situation mit offenen Augen betrachten und vor allem von den Interessen der EU-Völker, der Wirtschaften der EU-Länder ausgehen sollte. Wir sind bereit, mit der Europäischen Union unter allen möglichen Bedingungen zu verhandeln, was wir eigentlich auch jetzt tun. Aber einige Länder nutzen einfach die „fünf Prinzipien“, um die Wiederaufnahme der Dialoge in diversen Bereichen zu verhindern, die wir mehr als 20 hatten: Energiewirtschaft, Kultur, Menschenrechte, Verkehrswesen, Gesundheitswesen, Finanzwesen. Wir hatten zwei jährliche Gipfeltreffen. Es gab den Ständigen Rat für Partnerschaft (rein formell besteht er immer noch), in dessen Rahmen die Erfüllung von Vereinbarungen an der ganzen Front der bilateralen Beziehungen besprochen werden sollte. Jetzt liegt das alles auf Eis. Man wirft uns jetzt vor (auch unsere polnischen Kollegen), Russland würde versuchen, die Autorität der EU zu zerstören, und mit den Hauptstädten der Mitgliedsländer (mit Rom, Paris, Budapest) verhandeln anstatt mit Brüssel zu sprechen. Wir haben es gar nicht so böse gemeint – so sind nun einmal die Bedingungen entstanden. Wenn Brüssel alle Kanäle auf Eis gelegt hat, während die Hauptstädte der Mitgliedsländer für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen plädieren, dann werden wir darauf natürlich reagieren.
Ich hoffe sehr, dass wir gemeinsam mit unseren polnischen Nachbarn und Freunden (ich habe keine Angst, dieses Wort zu verwenden, und habe viele Freunde in Polen) die jetzige Zeit überwinden, werden die Versuche, unsere Völker künstlich voneinander zu trennen, erfolglos bleiben. Ich versichere Ihnen, dass wir auf alle Vorschläge, die frei von ideologischen Momenten sein und sich auf das grundsätzliche Interessen der Einwohner Polens und Russlands stützen werden, sehr positiv reagieren werden.
Frage: Wie Sie wissen, wird in den USA schon seit mehreren Monaten über den Austritt aus dem Vertrag über den Offenen Himmel (OH-Vertrag) debattiert. Voraussichtlich wird schon im September eine offizielle Erklärung der USA veröffentlicht. Wäre Russland Ihres Erachtens bereit, sich im Falle des Ausstiegs der USA am Vertrag weiter zu beteiligen? Wenn ja, dann unter welchen Bedingungen? Könnten die europäischen Vertragspartner seine Entscheidung beeinflussen?
Sergej Lawrow: Diese Frage wird sehr akut, wenn man die von Ihnen erwähnte Frist bedenkt. Die Experten, die diese Situation beobachten, finden, dass Washington seine Entscheidung bereits getroffen hat. Wir denken, dass diese Einschätzungen großenteils korrekt sind. Wir ziehen ungefähr ähnliche Schlüsse, indem wir von unseren Kontakten mit den Amerikanern und anderen Nato-Mitgliedern und Teilnehmern des OH-Vertrags ausgehen. Genauso wie in der Situation um den INF-Vertrag und dem OH-Vertrag, behaupten die Amerikaner (und zwar schon seit langem), Russland würde ihn verletzen. Dabei können die Amerikaner, genauso wie in der Situation um den INF-Vertrag, keine Fakten anführen. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, aber wenn Sie mit dieser Frage vertraut sind, wissen Sie, welche Kompromisse in Bezug auf den größten Vorwurf des Westens gegen uns erreicht worden sind. Ich meine Flüge über dem russischen Territorium in der Nähe der Grenzen an Abchasien und Südossetien. Wir waren bereit, die Situation um diese Vorwürfe zu regeln, falls auch Georgien seinen Himmel für Flüge öffnen würde. Dann würden wir die Gebiete über dem russischen Territorium öffnen, die an Abchasien und Südossetien grenzen. Ein solcher Kompromiss wurde erreicht, doch die georgische Seite weigerte sich dann und sagte, es würde unseren Inspektoren Flüge über ihrem Territorium nicht erlauben. Das ist der einzige wahre Vorwurf, der künstlich aufrechterhalten wird. Man hätte schon längst alles absprechen können, was wir auch getan haben. Aber unsere Kollegen haben ihr Wort nicht gehalten.
Übrigens greifen die Amerikaner auch im Kontext des Kernwaffenteststopp-Vertrags auf denselben Trick zurück. Zwar haben sie offiziell erklärt, dass sie ihn nicht ratifizieren werden, versuchen aber, seine Bestimmungen zu nutzen, um uns und bis vor kurzem auch China zu beschuldigen, wir würden ihn nicht erfüllen. Wie ist ihr Ziel dabei? Soweit ich verstehe, dasselbe wie im Fall des INF-Vertrags. Aber im INF-Fall mussten sie ihren Austritt aus dem Vertrag rechtfertigen, und im Fall mit dem Kernwaffenteststopp-Vertrag wollen die Amerikaner erklären, warum sie kategorisch und inzwischen offiziell erklärt haben, warum sie nicht beitreten werden. Dasselbe gilt auch dem OH-Vertrag. Die aktuelle US-Administration lehnt konzeptuell, prinzipiell jegliche Kontrolle über ihre militärischen Aktivitäten ab. Besonders wenn solche Kontrolle auf bzw. über dem US-Territorium erfolgen könnte.
Ob andere Länder den Amerikanern folgen werden? Daran zweifle ich. Ich denke, die Europäer verstehen, dass der OH-Vertrag einen wichtigen Mehrwert hat – als Instrument des Vertrauens, der Berechenbarkeit, der Transparenz. Wir betrachten ihn als solches. Unsere Reaktion auf die potenzielle Entscheidung Washingtons wird davon abhängen, wie sie formuliert wird, was sie konkret zu bedeuten haben wird. Natürlich werden wir darauf achten, ob Washington jemand von seinen Nato-Verbündeten folgen wird, denn davon hängt der erwähnte „Mehrwert“ des Vertrags ab. Ob er aber im Kontext der Pläne der Amerikaner erhalten bleibt, werden wir noch sehen.
Frage: Wie das Leben zeigt, unterstützen die Einwohner Kirgisiens in den letzten Jahren immer weniger die EAWU: Es gibt immer mehr Kritik, insbesondere an der Bewegungsfreiheit von Waren und Finanzen. Russland hilft unseren Arbeitsmigranten, aber neben diesem Moment wurde ausgerechnet die mangelhafte Arbeit unserer nationalen Führung zum Gegenstand dieser Kritik und zur Ursache der Skepsis der Kirgisen hinsichtlich der EAWU-Perspektiven. Was denken Sie: Ist es vielleicht an der Zeit, Russlands Politik im so genannten „nahen Ausland“, insbesondere in Zentralasien, zu korrigieren?
Sergej Lawrow: In welche Richtung korrigieren?
Frage: Zur Intensivierung der Arbeit mit politischen Gruppen bzw. Kräften.
Sergej Lawrow: Wir begreifen sehr gut die Bedeutung der Beziehungen mit unseren Nachbarn in Zentralasien, in Transkaukasien, im europäischen Teil der GUS. Wir sehen, dass auch die USA, die EU, Japan, China, die Türkei in dieser Region, insbesondere in Zentralasien, immer intensiver vorgehen. Es sind Formate wie „fünf plus eins“ entstanden, wobei es bei „fünf“ um zentralasiatische Staaten und bei „eins“ entweder um die USA oder um Japan oder die EU geht. Wir haben als die Russische Föderation ein solches Format vorgeschlagen. Unsere zentralasiatischen Freunde haben es aktiv befürwortet. Es wurden bereits zwei Treffen durchgeführt. Man könnte ja fragen: Wozu brauchen wir solche überflüssigen Formen bzw. Formate, wenn wir schon die GUS, die EAWU, die SOZ und die OVKS haben? aber keine von diesen Strukturen ermöglicht es Russland, mit allen fünf zentralasiatischen Ländern direkt zu sprechen. Ich denke, dass eine solche informelle „Fünf plus eins“-Vereinigung (Zentralasien plus Russland) nützlich sein wird. Wir haben in diesem Format bereits zwei Außenministertreffen durchgeführt.
Was die EAWU und die Frage angeht, inwieweit sie den Erwartungen der Mitgliedsländer entspricht, so wissen Sie ja, dass an der EAWU viel Kritik geübt wird. Unsere weißrussischen Nachbarn gehen da kritisch vor. Die EAWU ist ein ziemlich junges Bündnis. Wenn man es mit der EU vergleicht, dann ist es ja zig Mal jünger. Natürlich nehmen wir möglichst Rücksicht auf die positiven Erfahrungen der EU und auch auf ihre Fehler, die während der Integration begangen wurden. Aber die Erfahrungen unserer ausländischen Kollegen werden nie dafür ausreichend sein, dass wir alle Fragen in der EAWU regeln. Wir sind auf dem Weg zur Gestaltung von gemeinsamen Märkten, unter anderem zu gemeinsamen Energiemärkten – das ist eine der wichtigsten Perioden, die in unseren Beziehungen kommen wird. Sehen Sie sich die Vorteile objektiv an, die es aktuell gibt, widerstehen Sie dabei der Versuchung, dies als etwas wahrzunehmen, was gegeben ist. Arbeitsmigranten gab es auch vor der EAWU – und es passierte nichts Schreckliches. Mit der Zeit häuften sich Probleme an, es wurden Amnestien für Arbeitsmigranten ausgerufen, und zwar öfter – und die vorerst letzte gab es erst vor kurzem.
Was die EAWU damit zu tun hat? Die EAWU hat in Wahrheit diese Situation legalisiert und es ermöglicht, dass man von der freien Bewegung der Arbeitsressourcen auf einer absolut stabilen Rechtsbasis profitiert. Wir unterstützten Kirgisien bei der Entwicklung der Infrastruktur, die für die freie Bewegung von Waren, Kapitalen, Dienstleistungen und Arbeitskräften nötig ist, und leisten ihm regelmäßig humanitäre Unterstützung, unter anderem zwecks Aufrechterhaltung seines Haushalts. Nach oben sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt. Aber wenn sich über Kirgisien die Meinung verbreitet, dass man etwas verändern müsste, kann ich nicht ausschließen, dass es ein Zeichen für den Wettbewerb für zentralasiatische geht, in den sich unsere westlichen Kollegen eingeschlossen haben. Wir halten einen solchen Wettbewerb für kontraproduktiv. Man sollte lieber zusammenwirken und den zentralasiatischen Ländern, insbesondere Kirgisien und Tadschikistan, helfen, die diese Hilfe besonders brauchen – bei der Förderung bzw. Stabilisierung ihrer Wirtschaft. Wir sind dazu bereit. Leider aber sind unsere westlichen Kollegen nicht bereit. Als die EU ihre Zentralasien-Strategie präsentierte, wurden darin weder die SOZ noch die EAWU, noch die GUS erwähnt – die Strukturen, an denen sich die zentralasiatischen Länder so oder so beteiligen. Sie wurden nur nebenbei erwähnt, und zwar im Kontext der Warnung: Man sollte darauf aufpassen, dass die EAWU, die SOZ, die OVKS usw. die EU bei ihren Aktivitäten in zentralasiatische nicht behindern. Dasselbe gilt für das EU-Programm „Ost-Partnerschaft“ für die GUS-Länder in Transkaukasien und Europa, das auf Wettbewerb und Eindämmung Russlands auf diesen Territorien ausgerichtet war.
Wenn in Kirgisien wegen solcher Programme bzw. Konzeptionen die Meinung reift, dass es in seinen Beziehungen mit Russland verändern muss, dann kann ich doch nicht zustimmen, dass der Einfluss solcher Ideen berücksichtigt werden muss. So bemühen wir uns gemeinsam mit China sowohl in der SOZ als auch im Rahmen des Zusammenwirkens zwischen der EAWU und chinesischen Projekten im Kontext des Programms „One Belt – One Way“ um die Vereinigung unserer Ressourcen zwecks Unterstützung der Länder Zentralasiens bei der harmonischen Entwicklung ihrer nationalen Wirtschaften, damit sie Teil des gesamten zentralasiatischen Wirtschaftskomplexes werden. Derzeit arbeiten wir mit unseren chinesischen und kirgisischen Kollegen an einer gemeinsamen Vorgehensweise bei der Entwicklung des kirgisischen Bahnnetzes, damit die Eisenbahn dieses Land nicht nur in einen Transitknotenpunkt auf dem Weg nach Usbekistan verwandelt, sondern auch durch Städte und Dörfer verlegt wird, so dass dort parallele Produktionsstätten und wirtschaftliche Möglichkeiten entstehen.
Wenn Sie diese Stimmungen beobachten und konkrete Ideen haben, wie die Arbeit der EAWU-Gremien in Kirgisien korrigiert werden könnte, wie Russland mit den kirgisischen Kollegen an der Entwicklung unserer Beziehungen effizienter zusammenwirken könnte, dann schicken Sie sie uns gerne zu – wir werden sie uns überlegen, und dann könnten wir unser Gespräch fortsetzen.
Frage: Erlauben Sie mir bitte, Ihnen für die Hilfe zu danken, die Russland Serbien in dieser schweren Zeit erweist. Am 24. April dieses Jahres wird in der UNO der Internationale Tag der Vielseitigkeit und Diplomatie im Namen des Friedens gefeiert. Wie meinen Sie, könnte die Vielseitigkeit erneut bei der Lösung der Frage von Kosovo-Status aktuell werden?
Sergej Lawrow: Ich wusste nicht von diesem Tag. In der Einführungsrede erwähnte ich die Initiative der Entwicklung von Multilateralismus, die von Deutschland und Frankreich aufgebracht wurde. Ich verfolge aufmerksam diese Initiative. Wenn es den Beschluss der UN-Generalversammlung darüber gibt, dass man den Tag begehen soll, der die Unterstützung der Multilateralität und Diplomatie im Namen des Friedens symbolisieren würde, freue ich mich sehr über diesen Umstand. Die französisch-deutsche Initiative über die Bildung einer Gruppe der Freunde des Multilateralismus entwickelt sich außerhalb der UNO und stellt damit den universellen Charakter der Organisation infrage. Ich denke, dass die Multilateralität in der UN-Charta verkörpert ist. Die Multilateralität, die auf Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten, Nichteinmischung und Kooperation für die Ziele der friedlichen Regelung der Streitigkeiten ruht, ist das eine absolute Forderung des heutigen Tages.
Danke für den Hinweis, ich werde unbedingt darüber mehr Informationen bekommen, wie dieser Tag gefeiert wird. Wir werden uns bemühen, so zu machen, dass er in der Zukunft maximal aktiv gefeiert und die Ideale der Multilateralität allen Staaten beibringen würde, damit wir diesen Feiertag zur Festigung der UNO und nicht zur Schaffung der konkurrierenden Mechanismen zur Förderung der umstrittenen Ideen nutzen.
Frage: Nach dem gesamten Umfang des Außenhandelsumsatzes Georgiens liegt Russland auf Platz drei. Es ist so, dass das Fehlen der Botschaftsmissionen und Handelsvertretungen ein Hindernis für eine große Bewegung von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitsressourcen zwischen unseren Ländern wurde. Wie denken Sie, könnte man von der Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und Georgien sprechen?
Sergej Lawrow: Ich teile völlig Ihr Interesse daran, dass wir die Kooperation mit Georgien entwickeln und das möglichst breit und mit Nutzen für unsere Staatsbürger und Völker machen. Nicht wir waren Initiatoren des Bruchs der diplomatischen Beziehungen. Generell haben sowohl wir, als auch sie Botschaften, die Sektionen der Interessen heißen. In Tiflis ist es die Sektion der Interessen bei der Botschaft der Schweiz, in Moskau – die Sektion der Interessen Georgiens ebenfalls in der Botschaft der Schweiz. Es gibt keine Botschafter, doch es gibt Menschen, die Sektionen leiten, sowie ich verstehe, auf der Ebene des Gesandten in beiden Ländern. Das lässt die Verbindungen aufrechterhalten, darunter nicht nur via Schweizer Freunde. Es gibt auch direkte Kontakte in Moskau und in Tiflis. Das Leben gewinnt.
Natürlich wäre es eine vollwertige Botschaft gewesen, wäre die Lösung der Fragen des wirtschaftlichen, Handelszusammenwirkens, kultureller Verbindungen schneller und effektiver, weshalb wir bereit sein werden, die diplomatischen Beziehungen wiederherzustellen. Doch da nicht wir die Initiatoren dieses Bruchs waren, sollte man offenbar warten, bis die georgischen Kollegen diese Frage aufnehmen. Die Handelsvertretungen sehen ebenfalls das Vorhandensein bestimmter Vereinbarungen vor. Ich denke nicht, dass die Eröffnung der Handelsvertretung etwas stark ändern, irgendwelche zusätzliche Vorteile bringen wird, doch wenn das uns vorgeschlagen wird, werden wir diese Möglichkeit sicher erörtern.
Sie haben erwähnt, dass Russland der drittgrößte Partner Georgiens im Außenhandel ist. Es funktioniert Gazprom – Georgien bekommt Gas, das sind gut bekannte Fakten. Leider ist bislang der Flugverkehr eingefroren, doch hoffentlich werden wir dieses Problem in der nächsten Zeit lösen. Für uns ist am wichtigsten, dass die russlandfeindliche Kampagne in Tiflis nicht entfacht wird. Vorfälle während der zwischenparlamentarischen Orthodoxen Versammlung ließen uns Gedanken über das Problem der Sicherheit der Russen machen, obwohl die georgische Seite danach zusicherte, dass die Sicherheit gewährleistet wird.
Ich verfolge aufmerksam die Auftritte der georgischen Anführer, darunter der Präsidentin des Landes Salome Surabischwili, die vor wenigen Tagen sich erneut ziemlich hart und aggressiv über Russland und unsere Ziele in der Region äußerte. Natürlich fördern solche aggressiven Erklärungen nicht die Schaffung einer richtigen Atmosphäre in der öffentlichen Meinung. Als Salome Surabischwili aus Frankreich wegzog und Außenministerin Georgiens wurde, reiste sie nach Moskau, und ich reiste nach Tiflis. Gerade mit ihr führten wir und danach schlossen erfolgreich die Verhandlungen über den Abzug der zwei gebliebenen Stützpunkte Russlands aus Georgien ab. Diese Vereinbarung wurde anschließend durch die Präsidenten Russlands und Georgiens, Wladimir Putin und Michail Saakaschwili, gebilligt. Auf Grundlage unserer Erklärung wurde ein rechtliches Dokument, ein Abkommen unter Teilnahme unserer Verteidigungsministerien vorbereitet. Ich würde ein interessantes Moment erwähnen, das gerade zeigt, wie verhandlungsfähig die Seiten sind und wie sie damals real an der Aufrechterhaltung der guten Beziehungen interessiert waren. Ich wiederhole: wir führten Verhandlungen über einen vollen Abzug der russischen Militärstützpunkte aus Georgien durch. Zwei Stützpunkte wurden nach einer Vereinbarung 1999 abgezogen, zwei sind geblieben. Über sie wurde auf einer Verhandlungsrunde gefragt, Russlands Präsident Wladimir Putin traf eine Entscheidung, dass falls die georgische Seite diese Stützpunkte auf seinem Territorium nicht lassen will, soll man ihren Abzug vereinbaren. Was auch gemacht wurde. Ein Teil dieser Vereinbarungen war die gegenseitige Zustimmung, neben einem der ehemaligen Stützpunkte ein russisch-georgisches Antiterrorzentrum einzurichten. Dort sollten russische und georgische Spezialisten arbeiten. Das war ein Symbol unserer Partnerschaft – wir ziehen Stützpunkte ab, die nicht mehr aktuell für die russisch-georgischen Beziehungen sind, doch da der Terrorismus unser gemeinsamer Feind ist (im Pankissi-Tal und in der Region im Ganzen gab es unruhige Ereignisse), vereinbarten wir die Schaffung solchen Zentrums. Alle unterzeichneten es, die Stützpunkte wurden abgezogen, und die georgische Seite verzichtete einfach auf eigene Beschlüsse zur Schaffung solchen georgisch-russischen Antiterrorzentrums. Ich denke, hätte es damals Respekt gegenüber erreichten Vereinbarungen gegeben, könnte das den weiteren Verlauf ändern. Das wäre eine Geste, die eine Basis des Vertrauens, Kooperation im sensiblen Bereich schaffen würde. Das hilft alles für die Annäherung. Wir werden bereit sein, positiv auf alle konstruktiven Schritte unserer georgischen Nachbarn zu reagieren. Wir sind daran aufrichtig interessiert.
Frage: Der Außenminister Aserbaidschans, Elmar Mamedjarow, sagte, dass Aserbaidschan von der internationalen Gemeinschaft effektive Schritte zur Erfüllung der Resolution des UN-Sicherheitsrats im Kontext der Regelung des armenisch-aserbaidschanischen Bergkarabach-Konfliktes erwartet. Wie denken Sie, sind entsprechende internationale Institutionen, besonders unter den Bedingungen der aktuellen Krise imstande, diesen Erwartungen gerecht zu werden? Welche Mechanismen können die Resolutionen, die zwar angenommen, jedoch nicht erfüllt werden, zur Anwendung bringen?
Sergej Lawrow: Die Resolutionen, von denen die Rede ist, sind bekannte Dokumente. Sie wurden während der Kriegshandlungen verabschiedet und sahen vor allem die vollständige Einstellung der Gefechte und den Übergang zur Regelung vor. Ja, dabei wurde die territoriale Einheit der Republik Aserbaidschan bestätigt, aber gleichzeitig war darin die Forderung enthalten, den Krieg zu stoppen und Verhandlungen zu beginnen. Seit dieser Zeit wurden die Verhandlungen mehrmals wiederaufgenommen. Es gab die so genannten „Vereinbarungen von Key West“ von 2001. Es gab auch die weiteren Vereinbarungen in verschiedenen Formaten, die unter und auch ohne Beteiligung Bergkarabachs getroffen wurden. Jetzt hat sich bereits das Format der Verhandlungen „Baku-Jerewan-Minsker OSZE-Gruppe“ etabliert, an dem die drei Co-Vorsitzenden (Russland, Frankreich, USA) und ein Vertreter des amtierenden OSZE-Vorsitzenden teilnehmen. Dieses Format ist gut und nützlich. Darin wurde die wichtigste Forderung des UN-Sicherheitsrats verkörpert: den Krieg zu stoppen und zu verhandeln.
Es gibt die „Madrider Prinzipien“ und die Dokumente, die Russland in den Jahren 2010 und 2011 vorbereitete – das so genannte „Dokument von Kasan“. Es gibt Projekte, die vor einem Jahr (nämlich im April) bei einem Treffen der Außenminister Russlands, Armeniens und Aserbaidschans unter Beteiligung der Co-Vorsitzenden in Moskau verbreitet wurden. Jetzt werden sie intensiv behandelt. Diese Dokumente sehen Fortschritte bei der Regelung auf Basis des Schritt-für-Schritt-Vorgehens vor: In der ersten Phase sollten die am meisten akuten Probleme gelöst werden: Befreiung einiger Landkreise um Bergkarabach und Entsperrung von Verkehrs-, Wirtschafts- und anderen Kommunikationswegen.
Ich bin überzeugt, dass wir dann die Lösung über die Unterschreibung dieser Dokumente erreichen werden, und das wird ein äußerst wichtiger Schritt zur Erfüllung der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats sein, von denen die Rede ist und die, wie gesagt, forderten, den Krieg zu stoppen und Verhandlungen zu beginnen. Die Verhandlungen wurden gestartet. Jetzt sollten auch Vereinbarungen getroffen. Gerade darauf bestehen wir eben als Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe für Bergkarabach.
Frage: Ich habe eine Frage hinsichtlich Spitzbergens, des allgemein bekannten Spitzbergen-Vertrags, das 1920 in Paris unterzeichnet, und hinsichtlich unserer Konfrontation mit Norwegen. Russlands Position ist klar, die Interessen Norwegens ebenfalls. Aber neben Russland und Norwegen gibt es noch mehr als 40 Länder, die diesen Vertrag abgeschlossen haben. jetzt herrscht in den internationalen Massenmedien die Vorstellung vor, dass nur Russland Norwegen widersteht. Aber unzufriedene Länder gibt es viel mehr. Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, andere Länder da anzuschließen bzw. eine Koalition mit ihnen zu bilden, wenn man die Verletzungen des Vertrags durch Norwegen bedenkt?
Sergej Lawrow: Ich bin mit Ihnen einverstanden. Im Prinzip lehnten wir eine solche Möglichkeit nie ab. Wir gingen parallel vor – sowohl im Rahmen unserer bilateralen Beziehungen mit den Norwegern als auch im Rahmen der Koalitionsbildung zwecks Schutzes dieses Vertrags von 1920.
Wie Sie wissen, unser Dialog mit den Norwegern ist diesbezüglich vorerst nicht gerade konstruktiv. Ich habe mehrere Briefe an meine Amtskollegin Ine Marie Eriksen Søreide geschrieben, zuletzt im Februar, in dem ich konkret und mit Fakten unsere Besorgnisse zum Ausdruck brachte und die Artikel des Vertrags aufzählte, die aus unserer Sicht möglichst akkurat eingehalten werden sollten. Zudem plädierte ich für entsprechende Beratungen. Dass unsere norwegischen Kollegen und Nachbarn, die immer dafür bekannt waren, dass sie das Völkerrecht respektieren, weichen jedoch selbst der Idee der Beratungen aus, was ihre Position nicht gerade überzeugend macht.
Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, aber die von Ihnen erwähnte Möglichkeit berücksichtigen wir tatsächlich. Denn unter den Kräften, die diesen Vertrag möglichst aktiv verteidigen wollen, gibt es auch solche, die das aus eigenen Interessen tun – auf Basis der Rechte, die im Vertrag verankert sind; aber es gibt auch solche, die von dieser Situation zwischen Russland und Norwegen profitieren wollen, damit wir an der vorderen Front kämpfen, und sie einfach das Ende dieses Prozesses abwarten. Es gibt noch die dritte Kategorie von Menschen, die es gerne hätten, dass die Norweger uns maximal beschränken und am Ende solche Bedingungen schaffen, unter denen wir unsere Aktivitäten einstellen würden: auf unsere touristischen Projekte, auf die Kohleförderung durch das Unternehmen „Arktikugol“ in Barentsburg verzichten. Wir verstehen das sehr gut. Den ganzen Komplex dieser geopolitischen Spiele und Aufgaben zur Aufrechterhaltung des völkerrechtlichen Regimes auf Spitzbergen berücksichtigen wir.
Frage: Im Rahmen des Projekts des Unionsstaates machen sich russische und weißrussische Bürger Sorgen über die faktische Wiederaufnahme der Grenzkontrolle auf der russischen Seite unter den Bedingungen der Pandemie. Es werden Gerüchte in Umlauf gebracht, dass es am Ende zwischen beiden Ländern wieder eine Grenze geben könnte, was ein offensichtlicher Schritt zur Desintegration der Verbündeten wäre. Was halten Sie davon?
Sergej Lawrow: Wir sehen keinen Grund dafür, das Grenzregime einzuführen. Wir sind daran interessiert, dass der Unionsstaat sich voll und ganz in Übereinstimmung mit den Prinzipien, Zielen und Richtungen entwickelt, die im Unionsvertrag von 1999 verankert sind. Unter den anderen Prinzipien gibt es die Verpflichtungen der Seiten zur Schaffung von gleichen Bedingungen für die Bürger Weißrusslands und Russlands in allen möglichen Bereichen: Wirtschaft, Kultur, Rechtsbeziehungen usw. In den meisten Richtungen wurden die gleichen Rechte im Sinne von speziellen Abkommen und Verträgen festgelegt. Jetzt bleiben noch einige Positionen, in deren Kontext diese Rechte ausgeglichen werden müssen. Unter anderem geht es um medizinische Dienstleistungen für die Russen in Weißrussland (es gibt vorerst etwas andere Bedingungen), um Hotelpreise. Aber das sind nicht allzu ernsthafte Fragen – sie werden bestimmt geregelt werden.
Was das Thema Grenzüberschreitung angeht, so haben unsere weißrussischen Nachbarn vor etwa zweieinhalb Jahren die visafreie Reiseordnung für Staatsbürger von etwa 80 Ländern eingeführt, ohne das mit uns abzusprechen. Und dadurch entstand eine Situation, wenn nach Weißrussland Bürger solcher Länder visafrei einreisten, mit denen wir keine visafreie Ordnung haben. Und ohne jegliche Grenzkontrolle zwischen Weißrussland und Russland kann jemand, der für die Einreise nach Russland im Sinne unseres Abkommens mit seinem Heimatland das russische Visum braucht, störungsfrei – und illegitim – nach Russland geraten. Und dann plädierten wir für eine einheitliche Visapolitik Russlands und Weißrusslands, damit wir gemeinsame Listen von denjenigen haben, denen die Einreise untersagt ist, und eine gemeinsame Vorgehensweise zur Einführung der visafreien Ordnung für Bürger von entsprechenden Staaten erarbeiten. Wir haben ein solches Abkommen vorbereitet, und es wurde im Dezember 2018 paraphiert. Schon seit fast anderthalb Jahren ist es unterzeichnungsreif. Unsere Regierung hat uns die entsprechenden Vollmachten noch im Dezember 2018 überlassen. Ich denke, die Unterzeichnung dieses Abkommens wird in vielen Hinsichten die von Ihnen erwähnten Besorgnisse vom Tisch räumen, wie auch die letzten Zweifel derjenigen, die eine vollwertige Grenze zwischen unseren Ländern einrichten wollen, die am Unionsstaat beteiligt sind.
Ich denke, dass unsere weißrussischen Kollegen uns in der nächsten Zeit ihre Position mitteilen und ihre Bereitschaft zur Unterzeichnung des Abkommens signalisieren werden, das vor anderthalb Jahren paraphiert wurde. Jedenfalls wurde vor kurzem ein Dokument über Erleichterung der Visapflicht zwischen Weißrussland und der Europäischen Union unterzeichnet. Das ist eine positive Bewegung. Wir haben auch ein solches Dokument mit der EU. Also ist die Lösung des von Ihnen erwähnten Problems schon seit anderthalb Jahren fertig. Wir sind zu seiner Unterzeichnung bevollmächtigt. Wir hoffen, dass auch meine weißrussischen Kollegen solche Vollmachten haben.
Frage: Gibt es Ihres Erachtens Chancen, dass die jetzigen EU-Mitglieder im Falle des totalen Zerfalls der Europäischen Union in die EAWU aufgenommen werden?
Sergej Lawrow: Die Eurasische Wirtschaftsunion ist für jedes Land offen, das ihre Basisdokumente teilt.
Was die Perspektiven der Europäischen Union angeht, so sehe ich nicht einmal theoretisch eine Situation, in der das passieren könnte.
In dieser Situation wäre es am besten, die Kontakte zwischen der EAWU und der EU zu entwickeln. Solche Initiativen wurden noch 2015 besprochen. Sie werden in Brüssel immer noch erwogen. Die EAWU, nämlich die Eurasische Wirtschaftskommission legte mehrmals solche Initiativen der EU-Kommission vor. Zunächst war ihr Verhalten dazu einfach negativ, dann aber (als man in Brüssel begriff, dass die EAWU-Länder viele praktische Funktionen der übernationalen Ebene überlassen) zeigte sich Brüssel offen für den Dialog mit der Eurasischen Wirtschaftskommission. Aber es geht vorerst nur um gewisse technische Fragen, technische Regelwerke, um die Regelung von verschiedenen Branchen usw. Aber das ist schon irgendwas. Das sind solche praktischen Dinge, bei denen man starken und das Zusammenwirken ausbauen könnte. Wir wären nur dafür, strategische Partnerschaft auf unserem ganzen eurasischen Kontinent zu entwickeln.
Bei Eurasien handelt es sich immerhin um ein riesiges Territorium, auf dem die EU, die EAWU, die SOZ und viele ASEAN-Staaten funktionieren. Hier liegt auch der größte Teil des chinesischen Projekts „One Belt – One Road“. Deshalb hat Präsident Putin noch im Mai 2016, als in Sotschi ein Russland-ASEAN-Gipfel stattfand, die Initiative zur Bildung einer Großen Eurasischen Partnerschaft formuliert, die für Mitgliedsländer aller dieser Vereinigungen offen wäre – der EAWU, der SOZ, des ASEAN, für die EU-Länder und die EU selbst.
Indem wir in einem riesigen Erdteil liegen, genießen wir riesige Vorteile. Es wäre unlogisch, diese Vorteile nicht zu nutzen und diverse Konfrontationsszenarien umzusetzen (und solche Szenarien erwähnte ich bereits: die Ost-Partnerschaft, die zentralasiatische Strategie der EU – sie sind ja konfrontationsorientiert). Wir sind ja nur dafür, dass diese Große Eurasische Partnerschaft umgesetzt wird, indem alle Bereiche der gegenseitigen Beziehungen kumuliert werden, wo die Vorteile für alle Teilnehmer offensichtlich sind. Ich denke, dass es auch der Europäischen Union auf diesem Weg leichter fallen würde, seine internen Probleme zu lösen. Und die EAWU wäre offen für Kooperation im Interesse ihrer Mitgliedsländer.
Frage: Am Anfang sprachen Sie über den gemeinsamen Energiemarkt und die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes der EAWU-Länder gegen die Wirtschaftsfolgen der Corona-Pandemie. Ich habe eine Frage zu den Gaspreisen. Es ist allgemein bekannt, dass es bei Gaspreisen nicht nur um Geschäft, sondern auch in vielen Hinsichten um Politik geht. Wir sehen in Armenien und Weißrussland, wie Russland die Preise für die EU-Länder senkt, beispielsweise für Bulgarien oder auch Moldawien, für die der Preis aktuell billiger als für Armenien ist. Es stellt sich die Frage: Warum senkt Russland nicht die Preise in erster Linie für die EAWU-Länder und erst dann für andere Länder? Das wäre doch auch ein Ansporn für andere Länder, der EAWU beizutreten, mit der EAWU zu kooperieren, denn sie würden verstehen, dass sie dann wirtschaftlich profitieren würden.
Sergej Lawrow: Die Frage ist klar. Ich erkenne die Logik, doch dann muss man bis zum Ende logisch sein. Wenn der Preis, den es jetzt für Armenien gibt, für die Republik Belarus um das Zwei- bzw. Dreifache niedriger als der Marktpreis war, wurde das als Gegebenheit wahrgenommen, niemand sagte, dass es Politik ist. Alle sagten, dass sie es so haben sollen. Ich denke, dass Verbündete natürlich wirtschaftliche Vorteile bekommen sollen, hier habe ich keine Zweifel. Doch als unser Preis dorthin ging, wo er jetzt ist, gibt es irgendwelche Vertragsverpflichtungen. Ich bin davon überzeugt, dass während der Erörterung der Appelle, die es in der letzten Zeit seitens der weißrussischen und armenischen Freunde gab, werden unsere Verbündetenbeziehungen natürlich berücksichtigt. Es wäre wohl nicht richtig, sich daran erst zu erinnern, wenn sich die Situation ganz ändert im Vergleich zu der vor drei bzw. vier Jahren, als der Mechanismus der Preisbildung sich unter voller Berücksichtigung der Verbündetenverpflichtungen bildete.
Wenn man konkret über Armenien spricht, befassen sich mit dieser Frage bei uns das Energieministerium Russlands und Gazprom. Noch eines der Probleme, das einen chronischen Charakter hat und seit mehreren Jahren nicht gelöst wird, sind die inländischen Tarife in Armenien, die die Anwendung einer maximal ermäßigten Preisbildung erschweren. Ich werde mich jetzt nicht in konkrete Dinge vertiefen.
Wenn wir über Verbündetenbeziehungen sprechen, sollten sie sich wohl in allen Bereichen zeigen. Wenn man über die Wirtschaft spricht, rechnen wir sehr damit, dass die Gerichtsprozesse, die in den letzten Jahren in Armenien gegen Gemeinschaftsunternehmen, darunter Südkaukasische Eisenbahnlinien, eingeleitet wurden, ohne jegliche Versuche geregelt werden, da Dinge hinzuzufügen, die unwürdig der Verbündetenbeziehungen sind. Ich sage darüber sehr offen, weil einige schwere Situationen entstanden, in der sich russische Unternehmen erwiesen. Ich hoffe, dass wir alle diesen Fragen zur gegenseitigen Zufriedenstellung regeln werden.
Vor kurzem fand ein Telefongespräch des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, mit dem Premier der Republik Armenien, Nikol Paschinjan statt. Sie sehen die Wege unserer Verbündetenbeziehungen und strategischen Partnerschaft. Ich kann ihnen zusichern, dass alle Fragen von beiden Seiten gerade in diesem Sinne gelöst werden.
Frage: Im Namen der sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften bedanken wir uns bei den Mitarbeitern des Außenministeriums Russlands für die Hilfe bei der Rückkehr unserer führenden sibirischen Wissenschaftler aus den ausländischen Dienstreisen, darunter aus den USA.
Derzeit ist ein Abbau von internationalen Projekten und Programmen der wissenschaftstechnischen Zusammenarbeit zu erkennen. Welche Maßnahmen und Programme plant das Außenministerium Russlands zur Wiederaufnahme der internationalen Wissenschaftsverbindungen nach der Corona-Pandemie? Welche neuen Möglichkeiten für die Wissenschaftsdiplomatie eröffnen sich für Russland in dieser Situation?
Sergej Lawrow: Das Außenministerium Russlands befasst sich nicht mit Dirigieren der Wissenschaftsverbindungen. Wir unterstützen immer Wissenschaftsverbindungen, doch sie werden direkt aufgestellt, wenn eine bestimmte Wissenschaftsgemeinschaft entweder in unserem Land, oder im Ausland sich an uns mit der Bitte wendet, einen Partner zu finden, dem Partner, der bereits bestimmt ist, irgendwelche Ideen bzw. Vorschläge zu übermitteln.
Wir machen das immer und werden weiter machen. Doch den wissenschaftlichen Inhalt der Kontakte unserer akademischen Institute mit den Partnern im Ausland gewährleisten, das können wir nicht machen. Das ist, wie gesagt, ihr Bereich.
Wenn unsere Kollegen in Nowosibirsk, in jedem anderen Wissenschaftszentrum nach dem Ende dieser Pandemie und all dem, was damit verbunden ist, nach der Aufhebung dieser Einschränkungen unsere Hilfe bei der Wiederaufnahme der Verbindungen, Übergabe jeglicher Informationen (obwohl die Mittel zur Übergabe von Informationen jetzt so entwickelt sind, dass es damit keine Probleme geben soll) brauchen werden, werden wir umfassend helfen.
Verstehen sie richtig, wir können physisch nicht sagen: „Kommen sie morgen nach Italien bzw. Frankreich, um die Umsetzung des Projekts zur Entwicklung eines Impfstoffs bzw. eines anderen neuen Mechanismus zu beginnen“. Sobald sie verstehen, dass sie und die Partner bereit sind und etwas sie daran hindert – falls wir etwas überwinden können, werden wir das gerne machen.
Zum zweiten Teil der Frage. Ich denke, dass die Wissenschaftsdiplomatie so eine Sache ist, die im Interesse allen ohne Ausnahme ist. In den ruhigeren Zeiten, als dieses Problem uns noch nicht traf, wurde die Wissenschaftsdiplomatie im Kontext der Logik von Soft Power erörtert: wir werden angeblich die Kontakte entwickeln, zeigen, wie offen und interessant wir sind, und man mit uns wichtige Fragen lösen kann, und damit werden wir unseren Einfluss auf die allgemeine politische Lage ausüben. Mir scheint, dass die Wissenschaftsdiplomatie jetzt vor allem die Bedeutung eines Instrumentes zur Ausarbeitung von Gegengift gegen allgemeine Probleme, die die ganze Menschheit bedrohen, bekommt. Dabei verliert sie natürlich nicht die Funktion der Kontakte zwischen den Menschen, wurde aber nicht mehr Soft Power als Einflussmittel eines Landes auf ein anderes, sondern ein Instrument zur Entwicklung der Beziehungen der guten Nachbarschaft im allgemeinen Interesse. Nicht damit jemand eigene Ziele auf Kosten der anderen erreicht. Deswegen werden wir die Wissenschaftsdiplomatie umfassend unterstützen.
Ich wiederhole, die Wege ihrer Entwicklung, Bereiche der gemeinsamen Anstrengungen sollen natürlich von den Wissenschaftlern bestimmt werden. Wenn sie uns bezüglich ihrer Pläne auf dem Laufenden halten werden, wird es eine gute Basis für uns sein, um ihnen zu helfen.
Frage: Danke für die Möglichkeit, eine Frage zu stellen. Ich möchte eine Frage stellen, die das Thema der ständigen Neutralität der Republik Moldau betrifft, über die Sie sicher wissen und während Ihrer Arbeit mehrmals gehört haben. Wie verhalten uns immer sehr sensibel zu den Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der EU. Jede Spannungen, die zwischen ihren Ländern entstehen, beeinflussen direkt die Situation und die Stimmungen in der Republik Moldau sowie unsere Beziehungen zueinander. Wie verhalten Sie sich zu den Aussichten der ständigen Neutralität der Republik Moldau? Können wir mit einer möglichen Unterstützung Russlands bei dieser Frage, bei der Festigung dieses Status und seiner Förderung in der internationalen Arena rechnen?
Sergej Lawrow: Sie können nicht nur mit unserer Unterstützung rechnen, sie haben sie schon. Seit Beginn der postsowjetischen Etappe der Geschichte der Republik Moldau, als dank der Einmischung der Russischen Föderation der heiße Konflikt in Transnistrien geregelt wurde, als die Grundlagen für die Lösung dieses Problems auf einem langfristigen und stabilen Fundament gelegt wurden, wurden die Basisprinzipien ausgearbeitet, die die Politik der Russischen Föderation bestimmen. Sie bestehen darin, dass wir die Lösung des Problems des Sonderstatus von Transnistrien im Rahmen eines einheitlichen territorial einheitlichen souveränen Moldaus, das die Anerkennung seiner Neutralität gewährleistet, unterstützen.
Mit anderen Worten: Diese Position bedeutet zwei sehr einfache Dinge. Wir werden nicht Versuche unterstützen, Moldau zusammen mit Transnistrien in die Nato zu ziehen. Das ist kategorisch ausgeschlossen. Und wir werden nicht Versuche unterstützen, Moldau seine Staatlichkeit wegzunehmen. Wenn man diese zwei Prinzipien respektiert, die meines Erachtens den indigenen Interessen Moldaus als Staat und des moldawischen Volkes entsprechen, garantiere ich, dass wir immer eine Lösung des Problems Transnistriens finden können. Wären alle Teilnehmer des 5+2-Prozesses davon ausgegangen, hätte das Problem vor Langem gelöst gewesen. Leider ist es nicht ganz so. Einige unseren westlichen Kollegen verfolgen jedoch eine etwas andere Tagesordnung, die vor allem durch ihre Ausrichtung auf die Festigung und Erweiterung der Nato bestimmt ist.
Frage: Häufig sieht man Situationen, wenn russische Journalisten, Wissenschaftler u.a. zu Persona non grata in den Ländern Zentralasiens erklärt werden. Wir haben auch solches Beispiel – der russische Anthropologe Sergej Abaschin, dessen Position sich von der offiziellen Position der Behörden Usbekistans unterscheidet. Eine ähnliche Situation ist mit den französischen, aserbaidschanischen und anderen Wissenschaftlern im Iran, Pakistan und in anderen Ländern. Dabei unterscheidet sich die Reaktion des Außenministeriums etwas von der der ausländischen Kollegen. Wie denken Sie, beschränkt sich das Außenministerium Russlands bei solchen Fragen mit der konsultativen Tätigkeit?
Sergej Lawrow: Ehrlich gesagt, habe ich davon nicht gehört. Wenn Sie mir Materialien zuschicken werden, werden wir Ihnen antworten. Im Prinzip gehen das Völkerrecht, Wiener Übereinkommen davon aus, dass jedes Land berechtigt ist, zur Persona non grata jeden ohne Erklärung der Gründe zu erklären. Um konkret zu sein, brauche ich Informationen. Schicken Sie bitte Materialien zu. Wir werden Ihnen unbedingt unsere Einschätzung mitteilen.