Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für den TV-Sender Euronews am 16. Februar 2018
Frage: Herr Lawrow, vielen Dank, dass sie uns Zeit widmeten trotz ihres engen Terminplans. Die erste Frage betrifft die Beziehungen der USA und Russlands. Nachdem Donald Trump Präsident der USA wurde, erreichten die Beziehungen unglaubliche Spannung. Hat Russland von der Präsidentschaft von Donald Trump mehr erwartet?
Sergej Lawrow: Ich würde nicht sagen, dass wir von irgendwelchen Erwartungen gefasst wurden. Jetzt gibt es viele Spekulationen zum Thema, dass Russland auf Trump setzte und verloren hat. Es gab tatsächlich Äußerungen zur Unterstützung der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten, doch sie wurden von Politikern, Gesellschaftspersonen, einigen Parlamentariern gemacht. Alle offizielle Personen, von Präsident bis Außenminister, darunter andere Menschen, die für die Außenpolitik verantwortlich sind, setzten nie auf jemanden und sagten sehr eindeutig, dass Russland in jedem Fall, in jedem Land bereit ist, mit dem Präsidenten und der Regierung zu arbeiten, die vom Volk eines entsprechenden Staates gewählt wird. In der Tat ist es auch so. Wir konnten nicht rätseln und konnten uns nicht einmischen. Es wird bis heute über irgendwelche staatliche Einmischung in den Wahlprozess gesprochen, doch ich habe keinen einzigen Fakt gesehen. Vor einigen Tagen sagte der Berater des Innenministers der USA, der für die Cybersicherheit verantwortlich ist, dass sie keine Beweise für die Einmischung Russlands in die Wahlprozesse der letzten Präsidentschaftskampagne haben.
Frage: Allerdings ist die Untersuchung im vollen Gange.
Sergej Lawrow: Wissen Sie, die USA ist ein sehr spezifisches politisches System. Ich arbeitete dort viele Jahre. In den knapp anderthalb Jahren, in denen diese Untersuchung läuft (das war die Untersuchung von R. Mueller und Senat-Anhörungen, an den Anhörungen und Verhören nahmen Dutzende Staatsbürger teil), sickerte kein einziger Fakt in den öffentlichen Bereich durch – so was gibt es in den USA nicht. Hätte es dort selbst ein kleines Feuer gegeben, wäre der Rauch sofort zu sehen gewesen. Ich denke, dass man jetzt einfach rückwärtig nach Rechtfertigungen suchen will, indem man sich in die Ecke mit Verkündigungen über „genaue“ Angaben bezüglich russischer Einmischung trieb. Doch auch das wird nicht geschafft.
Ich hoffe sehr, dass die dominierenden Tendenzen, die wir jetzt in Washington sehen jedoch verschwinden. Es ist klar, dass es kaum vor den Zwischenwahlen im November dieses Jahres zu erwarten ist, wo aktiv der Kampf um die Sitze im US-Kongress und Gouverneursposten läuft. Es ist klar, dass Demokraten natürlich immer noch nicht nach der Niederlage zu sich kommen können, der für sie völlige Überraschung war und sie versuchen jetzt, Präsident Donald Trump und der ganzen republikanischen Partei (doch in erster Linie Donald Trump als einem unsystematischen Anführer) das Leben zu vergiften. Doch ich denke, dass es bei ihnen in dem Ausmaß nicht klappt, in dem sie das möchten. Präsident Donald Trump verfolgt neben der Notwendigkeit, auf Kompromisse angesichts der Stimmungen im Kongress einzugehen, den eigenen Kurs. Er bestätigte mehrmals seine aufrichtige Absicht, das zu erfüllen, worüber er in seinem Wahlkampf sprach – normale, gegenseitig respektvolle, gewinnbringende und vorteilhafte Beziehungen mit Russland auszubauen.
Frage: Doch niemand hat ihn gezwungen, Sanktionsgesetze zu unterzeichnen bzw. Waffen an die Ukraine zu liefern.
Sergej Lawrow: Wie ich bereits sagte, musste er auf Kompromisse eingehen angesichts der Stimmungen im Kongress. Wenn das Gesetz mit der Zahl der Stimmen angenommen wird, die ausreichend zur Überwindung des Präsidentenvetos ist, dann treten die Regeln der Innenpolitik in Kraft und der Präsident geht von seinen Beziehungen mit dem Kongress bei einem breiten Kreis der Fragen aus. Das ist Leben. Obwohl es natürlich traurig ist, dass sich unsere Beziehungen unter Donald Trump seit mehr als einem Jahr seiner Präsidentschaft nicht verbesserten im Vergleich dazu, was es in der Periode der demokratischen Administration gab. Im gewissen Sinne haben sie sich sogar verschlechtert. Ich meine natürlich die Entnahme, Ergreifen unseres diplomatischen Eigentums, was nicht nur den Wiener Übereinkommen, sondern auch allen Prinzipien widerspricht, auf denen die US-Verfassung und die Gesellschaft ruhen – das private Eigentum ist heilig. Dieser Punkt wurde torpediert und wir reichen jetzt, wie bereits gesagt, Gerichtsklagen in den USA ein.
Frage: Doch gibt es noch Hoffnung auf Pragmatismus, auf den gesetzt wurde?
Sergej Lawrow: Wir sagten, dass wir mit jeder Regierung, jedem Präsident arbeiten werden. Der Pragmatismus wird durchgesetzt. Ich führte bereits Beispiele an – auch unsere Kooperation im Weltraum, unser Zusammenwirken zu Syrien, obwohl es auch nicht einfach verläuft, weil dort zu viele Interessen aufeinander stießen, wurde nicht gestoppt. Allerdings wurde die südliche Deeskalationszone unter Teilnahme Russlands, der USA und Jordaniens geschaffen, sie funktioniert nicht schlecht. Obwohl natürlich die im Rahmen der Schaffung dieser Zone erreichten Vereinbarungen zum Abzug der nichtsyrischen Kräfte aus dieser Region erfüllt werden sollen. Bislang bleiben dort Extremisten, die die Festigung eine feste Stabilität um Golanhöhen, was für Israel sehr wichtig ist, nicht ermöglichen. Darum ging es eben, als der Premier Israels Benjamin Netanjahu nach Russland kam. Mit ihm wurde wohl Verständnis erreicht. Für uns ist wichtig, dass die Amerikaner auch ihre Arbeit machen, darunter die einseitig erklärte Deconflicting-Zone mit dem Durchmesser von 55 Kilometern in Art-Tanf schließen, wo sich das Flüchtlingslager Er-Rukban befindet, das nach mehreren Fakten für Ausbildung und Erholung der Extremisten genutzt wird.
Allerdings erfolgt der Dialog mit Amerikanern zu Syrien sehr pragmatisch. Wir versuchen sie in Bezug darauf zur Vernunft zu bringen, dass die früheren Zusicherungen, dass sie sich in Syrien ausschließlich zum Kampf gegen ISIL befinden, in Kraft bleiben sollen. Weil sie trotz dem, was mir US-Außenminister Rex Tillerson sagte, erklären, dass sie sich in Syrien nicht nur bis zum Zeitpunkt befinden werden, solange der letzte ISIL-Extremist dort vernichtet und vertrieben wird, sondern bis ein stabiler politischer Prozess beginnt, bis er mit einem politischen Übergang (solche Umschreibung des Regimewechsels) endet, dessen Ergebnisse den USA passen werden.
Frage: In Syrien gehen die Interessen der Nato-Verbündeten – der Türkei und der USA – auseinander. Das verzeichnet auch Russland. Ich meine die Operation der Türkei in Afrin. Sie verheimlichen doch nicht, dass sie bei Afrin nicht stoppen werden.
Sergej Lawrow: Diese ganze Geschichte hebt nochmals die Kurzsichtigkeit der USA hervor. Im Laufe von zwei bis drei Jahren (also fast die ganze Zeit, in der die US-geführte Koalition in Syrien arbeitet) befinden sich US-Spezialeinheiten und andere Einheiten auf dem Boden in Syrien illegal, ohne jegliche Einladung von Damaskus (legitime Regierung) bzw. Mandat des UN-Sicherheitsrats. Die Amerikaner setzten seit Beginn ihrer Handlungen in Syrien auf Kurden und ignorierten die Unzufriedenheit der Türkei. Unabhängig vom Verhalten zur Position der Türkei, ist sie Realität, doch sie war nie ein Geheimnis. Ankara bezeichnete einzelne Gruppierungen der Kurden in Syrien als Abzweig der Arbeiterpartei Kurdistans, die die Türkei und mehrere Länder in die Liste der Terrororganisationen aufnahmen. Das alles war bekannt. Die Türken sagten mehrmals, dass sie allumfassend verhindern werden, dass gerade Kurden die Grenze zwischen Syrien und der Türkei unter Kontrolle nehmen. Allerdings rüsteten die Amerikaner in dieser Periode kontinuierlich die kurdischen Einheiten auf, wobei die türkische Position ignoriert wurde. Vor etwa einem Monat bzw. anderthalb Monaten erklärten sie plötzlich, dass sie 30.000 Mann starke kurdische Einheiten zur Gewährleistung einer Grenz-Sicherheitszone zwischen Syrien und der Türkei schaffen. Danach versuchten sie, sich selbst zu desavouieren, doch die Fakten, die allen zugänglich sind, zeigen, dass ihre Absichten unverändert blieben. Damals erklärte die Türkei das, was sie erklärte. Für mich war beispielsweise keine Überraschung, was geschah. Mehrfache Warnungen Ankaras gegenüber Washington wurden einfach nicht berücksichtigt.
Man sollte vorsichtig vorgehen. Es ist klar, dass die USA wohl eine Strategie haben, die darin besteht, um sich für lange Zeit in Syrien mit eigenen Streitkräften niederzulassen. Dasselbe will man jetzt im Irak und Afghanistan machen, trotz allen zuvor gegebenen Versprechen. Sie bemühen sich bereits, ein großes Stück des syrischen Territoriums vom restlichen Land als Verletzung der Souveränität Syriens abzusondern. Sie schaffen dort quasi-lokale Machtorgane, versuchen dort irgendwelche autonome Bildung zu schaffen, indem man sich auf Kurden stützt.
Das Spiel mit der kurdischen Frage in solcher engen Deutung der eigenen geopolitischen Interessen nur in diesem Teil dieser Region, was jetzt die USA zeigen, ist sehr gefährlich. Es kann zu großen Problemen in vielen anderen Ländern führen, wo das kurdische Problem existiert und wo die kurdische Bevölkerung lebt. Man soll daran denken, wie gleiche Rechte der Kurden in den jetzigen Grenzen der Länder gewährleistet werden sollen, und nicht zu versuchen, diese Region zu destabilisieren, womit sich unsere westlichen Kollegen im Laufe des vergangenen Jahrhunderts befassten.
Frage: Unter Präsident Donald Trump wird die Präsenz der USA in der globalen Arena allmählich geringer – davon hören wir überall. Sind Sie mit dieser Behauptung einverstanden? Oder glauben Sie, dass die USA nach wie vor derselbe globale Akteur bleiben, der sie in den letzten Jahrzehnten waren?
Sergej Lawrow: Ich kann nicht zustimmen, dass die Präsenz der USA in den internationalen Angelegenheiten geringer wird. US-Präsident Donald Trump sagte, sie wollen Amerika wieder groß machen, und Amerika wäre über alles. Aber wer dieses Motto als Einladung zum Isolationismus und zum Verzicht auf gewisse äußere Projekte betrachtete, der täuschte sich. Im Laufe des ganzen 20. Jahrhunderts, jedenfalls nach dem Ersten Weltkrieg, dominierte der Kern der amerikanischen außenpolitischen Doktrin: Niemand darf stärker als Amerika sein – ob in der Wirtschaft oder im militärischen Bereich. Diese These brachten sowohl die Demokraten als auch die Republikaner voran, und niemand setzte sie außer Kraft. Egal welches Motto für diese oder jene konkrete Präsidentschaftswahlkampagnen gewählt wurde, stützt sich die US-Politik strategisch auf die Notwendigkeit, in der Welt absolut zu dominieren. Das ist der Kampf um die Herrschaft. Die US-Militärdoktrin (eines von gleich mehreren Dokumenten, die in letzter Zeit verabschiedet wurden) geht ausgerechnet von diesem Motto aus und wiederholt diese These nahezu Wort für Wort.
Auffallend ist, dass die internationale Präsenz der USA nicht nur keineswegs geringer wird, sondern im Gegenteil: Sie wird in militärischer Hinsicht nur noch weiter ausgebaut. In Syrien, wohin die Amerikaner erst gar nicht eingeladen wurden; in Afghanistan, wohin sie zwar eingeladen wurden, doch ihr 16-jähriger Aufenthalt dort brachte keine positiven Folgen: Die Terrorgefahr bleibt nach wie vor akut, die Drogenproduktion ist mehr als um das Zehnfache gewachsen. Das macht uns und unsere zentralasiatischen Partner unruhig. Auch Europa muss sich Sorgen machen, denn die Drogen werden auch dorthin befördert. Die Terroristen verbreiten sich über die ganze Welt und kennen keine Grenzen. Dasselbe passiert auch im Irak. Noch unter Barack Obama verkündeten die USA den vollständigen Abzug ihrer Truppen aus diesem Land, aber jetzt wird ihre Militärpräsenz dort wieder ausgebaut. Und von den militärischen Aktivitäten in Südostasien unter dem Vorwand des Atomproblems auf der Halbinsel Korea müssen wir gar nicht reden. Dabei sind diese Aktivitäten überdimensional im Vergleich zu der Gefahr, die die Amerikaner in Nordkorea sehen. Das tun sie bestimmt mit dem Ziel, ihre Position im Südchinesischen Meer im Kontext der territorialen Streitigkeiten Chinas mit mehreren ASEAN-Ländern Fuß zu fassen. Dabei bemüht sich China um eine friedliche Regelung dieser Streitigkeiten mit seinen Nachbarn – durch einen direkten Dialog ohne jegliche Einmischung von außerhalb. Natürlich beeinflusst der Ausbau der amerikanischen Militärpräsenz diese Absichten.
Was die globalen Momente angeht, im Zusammenhang mit denen die US-Präsenz bei uns viele Fragen hervorruft, so ist dabei das globale Raketenabwehrsystem erwähnenswert, das in Europa (Rumänien und Polen) und jetzt auch in Ostasien (in Südkorea) intensiv entwickelt wird. Jetzt zeigt auch Japan sein Interesse dafür. Das bedeutet, dass dieses globale Raketenabwehrsystem nicht nur für uns, sondern auch für China Probleme auslöst. Wie Sie sehen, wird die Präsenz der USA immer größer und ist gar nicht so harmlos.
Frage: Auf der bevorstehenden Münchner Sicherheitskonferenz wird das Thema erörtert, dass die USA die Rolle des globalen Sicherheitsgaranten aufgegeben haben, was für Europa, insbesondere für Osteuropa, Risiken auslöst.
Sergej Lawrow: Diese Schlussfolgerung muss man begründen. Wenn man mit der These, die USA geben die Rolle des internationalen Sicherheitsgaranten auf, meint, dass sie jetzt mehr Anforderungen an die europäischen Nato-Mitglieder haben und sie für die mangelhafte Finanzierung ihres Verteidigungssektors kritisieren und sogar sie damit erpressen, dass die USA ihre Verpflichtung zum Schutz Europas aufgeben würden, falls die Europäer weniger als zwei Prozent ihres BIP für militärische Zwecke ausgeben sollten, dann hörte ich solche Behauptungen. Aber in Wahrheit ist alles ganz anders: Man provoziert den Russland-Hass und spannt die Beziehungen zwischen Russland und der Nato an; man wirft uns vor, wir würden uns auf einen Überfall auf die baltischen Länder, Polen und alle anderen Länder vorbereiten (man muss ja eine Gehirnentzündung haben, um auf solche Ideen zu kommen), und aufgrund dieser absoluten „Fake“-Logik werden schwere Rüstungen und zusätzliche Nato-Kontingente an der russischen Staatsgrenze aufgestellt. Das geht in den baltischen Ländern und auch in Polen vor; und in Rumänien wird ein Raketenabwehrstützpunkt aufgestellt, wovon ich eben sagte. Noch mehr als das: Neben der Stationierung von amerikanischen, britischen, kanadischen und deutschen Truppenbrigaden in den baltischen Ländern und in Polen wird schon darüber gesprochen, dass die US-Herrschaft in Europa unter dem Vorwand der aus dem Finger gesogenen „russischen Gefahr“ im Rahmen der Nato verankert werden sollte. Das widerspricht jedoch den ursprünglichen Erwartungen, die Sie erwähnten. Denn Worte sind Worte, und Taten sind Taten. Diese Entfaltung der Truppen verläuft offen, und niemand versucht einmal, sie zu verheimlichen.
Frage: Im letzten Jahr warfen die europäischen Länder und die ganze EU Russland nach dem „amerikanischen Muster“ vor, Propaganda zu treiben und populistische ultrarechte und linke Parteien zu unterstützen. Könnte es zu Russlands strategischen Interessen gehören, Europa zu schwächen und destabilisieren?
Sergej Lawrow: Natürlich nicht. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte öfter, dass wir daran interessiert sind, dass die Auseinandersetzungen, die sich in der Europäischen Union beobachten lassen, überwunden werden. Wir wollen sehen, dass Europa stark und stabil ist. Es ist unser größter Handels- bzw. Wirtschaftspartner – trotz der allgemein bekannten negativen Ereignisse der letzten drei Jahre. Natürlich wollen wir, dass sich diese Struktur stabil, vorhersagbar und nachhaltig entwickelt. Wir haben viele Pläne.
Europa braucht immer mehr Energieressourcen, und sein Bedarf kann durch die Projekte gedeckt werden, die wir gerade mit unseren europäischen Partnern besprechen: Nord Stream 2, Turkish Stream. Übrigens baute der Konzern Gazprom seine Gaslieferungen nach Europa rekordmäßig aus. Bei dem ganzen Gerede, man sollte die eigene Abhängigkeit vom russischen Gas überwinden, geht es um nichts als politische Spiele, deren Ziel ist, unsere natürliche wirtschaftliche Partnerschaft künstlich zu zerstören.
Ich habe übrigens bemerkt, dass es im Koalitionsabkommen zwischen CDU/CSU und SPD den Punkt gibt, dass die neue Bundesregierung Deutschlands die Idee zur Einrichtung eines einheitlichen Wirtschaftsraums zwischen Lissabon und Wladiwostok voranbringen würde. Das lässt sich nur begrüßen. Diese Idee wurde schon seit vielen Jahrzehnten zum Ausdruck gebracht, und es ist eigentlich an der Zeit, sie endlich praktisch umzusetzen.
Frage: Wenn ich mich nicht irre, begrüßt auch Matteo Salvini, der Führer der italienischen „Lega Nord“, diese Idee.
Sergej Lawrow: Ich möchte noch etwas zu Ihrer Frage bezüglich der radikalen bzw. „systemfremden“ Parteien sagen. Wir verweigern nie Kontakte, egal mit wem. Das macht unsere Linie in den internationalen Angelegenheiten ganz besonders. Beispielsweise waren wir von Beginn der Konflikte in Syrien, im Irak, im Jemen und in Libyen an das einzige Land, das mit absolut allen politischen Kräften Kontakte pflegte. In Syrien waren das sowohl die Regierung als auch die unversöhnliche Opposition, die über nichts außer dem Regimewechsel reden will. Jetzt lassen sich schon gewisse Fortschritte sehen, denn diese unversöhnlichen Oppositionellen einige von ihren Vertretern nach Sotschi schickten und sich bereit zeigten, an den Verhandlungen teilzunehmen - auch wenn sie sehr schwer verlaufen werden. Aber wie gesagt: Wir stempeln niemanden zum „Paria“ und schließen nie die Türen, wenn es um positive Kontakte geht.
Frage: Die Anführerin der französischen politischen Partei “Front National” Marine Le Pen, ist beispielsweise Euroskeptikerin. Sie haben sie in Moskau empfangen. Wie reagieren Sie auf die Gespräche, in denen die Politikerin davon spricht, dass sie den Zerfall der EU will?
Sergej Lawrow: Wir reagieren auf solche Äußerungen wie auf Meinung eines großen Teils der französischen Gesellschaft. Marine Le Pen bekommt doch viele Wählerstimmen. Genau wie Parteien in anderen Ländern, die nach ihren konzeptuellen Ansichten der „Front National“ von Marine Le Pen ähnlich sind und die Meinung eines bedeutenden Teils der Bevölkerung widerspiegeln. Wenn diese Vertreter mit uns Kontakte entwickeln, wissen wollen, wie wir wohnen, wie bei uns Probleme in gewissen Bereichen gelöst werden, wie wir zusammenwirken können zumindest mit den Regionen, die sie vertreten, denke ich, dass es verantwortungslos ist, solche Gespräche zu vermeiden.
Es ist sehr einfach zu sagen, dass es einen Außenseiter-Staat gibt und man mit ihm nicht sprechen wird, gegen ihn Sanktionen erklärt werden und falls Sanktionen nicht helfen, wird er auf militärische Weise vernichtet. Ich meine natürlich die Politik einiger Falken in Washington gegenüber Nordkorea bzw. dem Iran. Sie sagen, dass der Iran an allem schuld ist, der Iran ein Terrorland ist, wobei vergessen wird, dass die meisten Terrororganisationen, die als solche von den USA via Gericht bezeichnet wurden, den Iran als Feind betrachten. Dennoch adressieren die USA ihren größten Antiterrorpathos an den Iran und nicht an die Strukturen, die gegen den Iran zu kämpfen versuchen.
Die Inklusivität ist solcher Begriff, der nicht nur in Situationen präsent sein soll, die von einem jeweiligen Land als wichtig betrachtet werden, sondern ein Prinzip der ganzen internationalen Kommunikation. Ich sehe darin nichts Schlechtes. Auch niemand sieht etwas Schlechtes, wenn man beurteilt, wie unsere westlichen Botschaften in Russland arbeiten. Sie treffen sich regelmäßig mit unseren Oppositionellen, auch nicht nur jenen, die im Parlament vertreten sind, sondern auch der Nicht-System-Opposition, mit absolut arroganten Regierungskritikern. Niemand verbietet ihnen das. Das ist wohl die politische Tradition Europas und der USA seit mehreren Jahrzehnten, zumindest nach dem Kalten Krieg wurde das normal. Wenn zu uns europäische Kanzler, Regierungschefs, Präsidenten, Außenminister Amerikas und Europas kommen, nehmen sie in ihr Programm immer Treffen mit russischen Oppositionellen auf, mit Vertretern, fast unversöhnlichen Kritikern der Politik des Kreml. Niemand stellt Fragen, ob das richtig ist oder nicht. Das ist ein Teil der Zivilgesellschaft. Man will wohl jetzt, mit der Zivilgesellschaft arbeiten.
Frage: Wie sind die Interessen Russlands auf dem Balkan? Wie sehen Sie die Evolution dieses Teils Europas?
Sergej Lawrow: Balkan ist unser historischer Partner. Wir machten sehr viel dazu, um die Sicherheit und die Staatlichkeit vieler Balkan-Staaten zu gewährleisten, darunter während der russisch-türkischen Kriege, des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Unsere historischen, geistlichen und religiösen Wurzeln auf dem Balkan bedeuten sehr gute Beziehungen zwischen den Völkern der Russischen Föderation und der Länder, die auf der Balkan-Halbinsel liegen. In den letzten Jahren entwickeln sich bei uns sehr gut die Beziehungen zu Serbien, Slowenien, es läuft gut der Dialog mit Banja Luka und Mazedonien. Vor kurzem brach die Pause bei den Beziehungen zu Kroatien – Kroatiens Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović besuchte die Russische Föderation, ich traf mich mit meinem Kollegen, Außenminister Kroatiens Davor Stier. Natürlich ist die Situation in Montenegro beunruhigend, die als Scheidemünze im russenfeindlichen Kampf und bei russenfeindlichen Ideen nutzen will – ihnen wurde die Nato-Mitgliedschaft aufgedrängt, indem man kategorisch auf das Referendum verzichtete. Ich beobachte jetzt, dass das Referendum in der EU und Nato-Mitgliedsstaaten als höchster Willen der Volksdemokratie immer weniger populär wird. Menschen haben Angst, dass via Wahlurnen eine andere Position ausgedrückt wird als jene, die von traditionellen, klassischen Eliten gefördert wird.
Allerdings hatten wir mit Montenegro immer gute Beziehungen. Ich verstehe nicht, wozu die Montenegriner sich dieser russenfeindlichen Kampagne anschließen mussten. Das bleibt auf ihrem Gewissen. Wir denken, dass der Kurs darauf, dieses Territorium schnellst möglich in die Nato aufzunehmen, allen Versprechen widerspricht, die uns gegeben wurden, als sich Deutschland wiedervereinigte, darüber, dass sich die Nato keinen einzigen Zoll gen Osten erweitern wird. Das widerspricht auch dem gesunden Verstand, weil auf dem Balkan erneut versucht wird, aus einem milden Gebiet eine Art Konfrontationszone zu machen.
Frage: Das ist über das Pulverfass Europas. Und wie ist es mit der Erweiterung der EU?
Sergej Lawrow: Ich bin mir sicher, dass sie kein Pulverfass machen werden, sobald sie nicht Probleme initiieren werden, die sie schaffen, indem ein Auge auf die Willkür im Kosovo zugedrückt wird. Das sind besondere und einzelne Probleme. Doch wollen sie einfach die Fakten vergleichen – es gibt fast kein einziges Balkan-Land, wo der US-Botschafter zusammen mit den europäischen Ländern von der Führung nicht fördern, die Freundschaft mit Russland aufzuheben. Sie machen das öffentlich, in Serbien sicher.
Sehen Sie, womit wir uns auf dem Balkan befassen – wir schlagen einfach gegenseitig vorteilhafte Projekte vor. Wir fordern von unseren Partnern auf dem Balkan oder irgendwo noch nie, die Beziehungen mit einem jeweiligen Land nicht mehr zu entwickeln. Darin besteht der größte Unterschied unserer Außenpolitik von der Außenpolitik des Westens. Wenn man sagt, dass sich Russland in jegliche inneren Prozesse einmischt, ohne Fakten vorzulegen, meine ich, dass unabhängige und objektive Medien (zu denen ich Euronews zähle) die Handlungen zeigen sollen, die von westlichen Ländern, unter anderem auf dem Balkan, unternommen werden, mit öffentlichen Forderungen, die Freundschaft mit Russland zu beenden.
Frage: Vielleicht werden Serbien und Montenegro zum Jahr 2015 nach dem so genannten beschleunigten Programm der EU beitreten. Wie sieht Russland die Erweiterung der EU?
Sergej Lawrow: Wie ein natürlicher Prozess der Förderung der Wirtschaftsinteressen der Länder, die der EU beitreten wollen. Die EU wird auch davon profitieren – es erweitern sich die Märkte, die Möglichkeiten dieser Vereinigung, sie werden anscheinend großer sein. Natürlich muss man die jetzige Etappe der zwei polaren Tendenzen in der EU überwinden. Es gibt jene, die die EU in ein Integrationsprojekt mit verschiedenen Geschwindigkeiten verwandeln wollen. So, wie ich es verstehe, denkt Deutschland darüber nach. Es wird interessant sein, die Position der neuen Koalitionsregierung darüber zu erfahren. In Frankreich denkt man, dass man jedoch den Integrationskern festigen und sich auf die Eurozone stützen soll. Mal sehen, in welcher Richtung sich die EU entwickeln wird. Wir werden über jedes Szenario freuen, das die EU stabil, voraussagbar und selbstständig in der Außenpolitik machen wird.
Bezüglich der Erweiterung via die Aufnahme Serbiens und Montenegros: Falls es sich um Verhandlungen darüber handelt, wie die Wirtschaft eines Beitrittskandidaten in den allgemeinen Wirtschaftsraum der EU, gemeinsamen Währungsraum eingeordnet werden soll, falls die Erweiterung der Eurozone im Blickwinkel der Aufnahme der Neulinge betrachtet wird, dann ist es ein absolut natürlicher Prozess. Unseren serbischen Kollegen wird gesagt, das mit ihnen alle Finanz-, Wirtschaftsfragen besprochen werden, doch sie werden der EU nicht beitreten, solange sie Kosovo nicht anerkennen und die gesamte Außenpolitik der EU nicht unterstützen, indem darunter der Anschluss zu antirussischen Sanktionen und anderen antirussischen Handlungen gemeint wird. Ich würde sagen, dass es in der heutigen Epoche einfach nicht anständig ist, solche Ultimaten zu stellen, zumal durch solche angesehene Struktur wie die EU.
Serbien will wie auch jedes normales Land, eine Multivektoren-Außenpolitik entwickeln, damit sie Beziehungen mit westlichen, östlichen, südlichen und nördlichen Nachbarn hat. Das ist ein absolut natürlicher Wunsch einer normalen Gesellschaft. Serbien hat ausreichend fortgeschrittene Beziehungen zur EU, es gibt Beziehungen zur Nato. Die Nato führt in Serbien zahlreiche Militärübungen durch. Doch Serbien hat zugleich eine Freihandelszone mit Russland, beginnt Verhandlungen über die Schaffung einer Freihandelszone mit der EAWU und pflegt Kontakte mit der OVKS, es ist Beobachter in der Parlamentsversammlung. Ich denke, dass das eine absolut natürliche Entwicklung der äußeren Verbindungen Serbiens ist. Zu versuchen, von der Regierung Belgrads eine Wahl zu fordern – entweder mit Russland, oder mit dem Westen – heißt, denselben Fehler zu machen wie in der Ukraine-Krise, als versucht wurde, die Gesellschaft zu zerreißen, wobei vom damaligen Präsidenten direkt gefordert wurde, dem Ultimatum zu folgen.
Frage: Also das ukrainische Szenario wird nicht ausgeschlossen?
Sergej Lawrow: Ich hoffe, dass der Westen, der dieses Szenario in der Ukraine entwickelte, das jedoch verstand. Dass der Westen jetzt über absolut arrogante Handlungen der Kiewer Führung, Kriminalität, Korruption gereizt ist, dass die Situation in der Ukraine nicht von Präsident, sondern von der Kriegspartei beeinflusst wird, darunter einzelne Neonazis, ist mir absolut klar. Ich höre das in vertrauensvollen Gesprächen von meinen westlichen Kollegen. Doch sie unterstützten den verfassungswidrigen Staatsstreich und erwiesen sich in einer absolut schamhaften Situation, als europäische Länder die Vereinbarung zwischen dem damaligen Präsidenten und der Opposition bestätigten, die im Februar 2014 erreicht wurde, und konnten den Bruch dieser Vereinbarung schon am nächsten Morgen nicht verhindern. Ich bin mir sicher, dass sie alle das sehr gut verstehen. Doch indem man auf die jetzigen ukrainischen Behörden setzte und alle ihren Nachteile sieht, können sie jetzt nicht das öffentlich sagen, ohne den eigenen Ruf zu verderben. Im Prinzip sprechen wir darüber, dass die Forderung eine Wahl zu machen – entweder mit Russland oder mit dem Westen – das ist Mittelalter. Das ist nicht das, was wir gerade erwähnten, dass in Deutschland und anderen Ländern, darunter Frankreich, das Verständnis der Notwendigkeit wiederbelebt wird, einen einheitlichen Wirtschaftsraum aufzubauen. Wir schlugen der EU-Kommission mehrmals vor, einen Dialog mit der Eurasischen Wirtschaftskommission zu beginnen. Solcher Dialog wird jetzt allmählich als notwendig anerkannt, zumindest auf der Ebene der technischen Konsultationen. Wir werden das begrüßen.
Frage: Das ukrainische Parlament hat ein Gesetz zur so genannten „Reintegration“ der Donbass-Region verabschiedet, in dem Russland als „Aggressor“ und die Territorien im Osten der Ukraine als „okkupiert“ bezeichnet werden. In seinem Kommentar dazu nannte das Außenministerium Russlands dies „die Vorbereitung auf einen neuen Krieg“. Bleiben die Minsker Vereinbarungen aus Russlands Sicht weiter in Kraft? Werden sehen Sie die Regelung dieses Konflikts?
Sergej Lawrow: Die Minsker Vereinbarungen bleiben aus der Sicht des Völkerrechts in Kraft. Sie wurden einstimmig in der entsprechenden Resolution des UN-Sicherheitsrats befürwortet, die unbedingt zu erfüllen ist. Ukrainische Gesetze können nicht wichtiger als Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats sein. Alle unsere Partner aus West- und auch Osteuropa sowie aus den USA bestätigen, dass die Minsker Vereinbarungen umzusetzen sind.
Im „Reintegrationsgesetz“ (es heißt zwar anders, aber alle nennen es so) sind die Minsker Vereinbarungen überhaupt nicht erwähnt, und es verleiht der ukrainischen Armee und irgendeinem „Vereinigten Operativstab“, der erst gebildet werden soll, solche Vollmachten, die eigentlich für Kriegszeit typisch sind. Die endgültige Fassung des Gesetzes wurde noch nicht einmal veröffentlicht, aber wenn man die Varianten bedenkt, die bisher an die Öffentlichkeit geraten sind, kann man daraus schließen, dass die ukrainischen bewaffneten Behörden das Recht haben werden, Menschen ohne Ermittlungen festzunehmen, Gewalt anzuwenden, Unruhen zu unterdrücken und Andersdenkende zu bestrafen. Im Grunde ist das ein „Desintegrationsgesetz“, denn es ist gegen die Logik der Minsker Vereinbarungen gerichtet, die die Wiederherstellung des einheitlichen gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Raums durch den Dialog zwischen den Behörden in Kiew und diesem Teil des ukrainischen Staates verlangen. Durch den Dialog und eine ganze Reihe von politischen Schritten, insbesondere durch die Verabschiedung des Gesetzes über Amnestie und des Gesetzes über den Sonderstatus der Donbass-Region, das vor drei Jahren in Minsk von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Francois Hollande persönlich unterzeichnet wurde. Dazu sollten auch Wahlen auf Absprache mit den Regionen gehören, die als Volksrepubliken Donezk und Lugansk bezeichnet werden. Das alles gibt es nicht.
In privaten Gesprächen sagen unsere ukrainischen Kollegen ihren westlichen Partnern absolut unzulässige Dinge. So wurde beispielsweise vereinbart, dass alle amnestiert werden sollten, und das Gesetz über Amnestie wurde im Prinzip von der Obersten Rada schon längst verabschiedet – in der Form, in der es Donezk und Lugansk passt. Der Präsident unterzeichnet es nicht – schon seit drei Jahren. Die Europäer geben uns jetzt zu verstehen, dass sie bereit wären, gemeinsam mit den Ukrainern (die Ukrainer sagen das in Sitzungen der Kontaktgruppe eigentlich selbst) die Amnestie im Sinne des Gesetzes von 1996 zu organisieren, wenn die Kiewer Behörden in jedem Einzelfall selbst entscheiden würden, wer amnestiert werden könnte und wer nicht – und das wäre erst dann möglich, wenn das ganze Territorium wieder unter die ukrainische Kontrolle genommen worden ist. Aber wie könnte man bei einer solchen Vorgehensweise damit rechnen, dass die ukrainischen Behörden am Dialog mit diesen Territorien interessiert sein könnten? Sie haben dieses Territorium zur Zone des Anti-Terror-Einsatzes erklärt, obwohl Donezk und Lugansk die „restliche“ Ukraine gar nicht überfallen hatten, sondern umgekehrt: Die Ukraine hatte sie überfallen – die ukrainische Regierung, die an die Macht mithilfe der Radikalen und Neonazis gekommen war. Das ist ein sehr beunruhigendes Gesetz. Wir sagten das bereits unseren Kollegen auf dem Niveau der Assistenten der Staatsoberhäupter des "Normandie-Quartetts" und in der Kontaktgruppe. Da darf man meines Erachtens keineswegs seine Schwäche zeigen und den Radikalen nachgeben, die die Minsker Vereinbarungen begraben wollen.
Es gibt sehr viele Beispiele dafür, dass die Volksrepubliken Donezk und Lugansk ihre Bereitschaft zu Kompromissen zeigten. So sollte beispielsweise das Gesetz über den „Sonderstatus“ laut den Minsker Vereinbarungen vor den Wahlen verabschiedet werden. Präsident Pjotr Poroschenko war vehement dagegen und sagte, er wolle zunächst sehen, wen man wählen würde, und erst dann über den Sonderstatus entscheiden. Aus der Sicht der Demokratie ist das natürlich eine „hervorragende Position“. Am Ende wurde ein Kompromiss gefunden: Das Gesetz über den „Sonderstatus“ würde vorübergehend am Tag der Wahlen und endgültig an dem Tag in Kraft treten, wenn die OSZE einen Bericht veröffentlicht, der bestätigen würde, dass die Wahlen frei und fair gewesen waren. Das hatten die Teilnehmer des "Normandie-Formats" vor anderthalb Jahren vereinbart, doch dies kann weder im "Normandie-Format" noch auf der Expertenebene, noch in der Kontaktgruppe auf dem Papier formuliert werden.
Frage: Gibt es Chancen, dass UN-Friedenskräfte in der Ostukraine erscheinen?
Sergej Lawrow: Das hängt von denjenigen ab, die immer noch keine konkreten Novellen zum Resolutionsentwurf angeboten haben, den Russland initiiert hatte. Unsere Logik ist ganz einfach: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen wird von der OSZE überwacht (es wurde ja die OSZE-Beobachtungsmission gebildet). Es gab Befürchtungen um die Sicherheit dieser Beobachter. Präsident Putin plädierte schon vor langer Zeit dafür, dass sie leichte Waffen bei sich haben dürften. Die OSZE selbst hielt das für unmöglich – sie hatten noch nie an bewaffneten Friedensoperationen teilgenommen. Einige Zeit später, im September des vorigen Jahres, brachten wir in den UN-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf ein, der ganz einfach und an die Minsker Vereinbarungen gebunden war: Überall, wo die OSZE-Beobachter präsent sind, sollten sie von UN-Friedensstiftern beschützt werden. Unsere Partner sagten, das wäre ein sehr richtiger Schritt, und wollten die Konzeption erweitern: Sie schlugen vor, nicht die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen, sondern alles, was dort verankert ist, durch eine große, starke Struktur in Form einer UN-Operation zu ersetzen. Es werden verschiedene Zahlen genannt: Es könnten bis 40 000 bewaffnete Friedensstifter in die Ostukraine eingeführt werden, die nicht nur leichte, sondern auch schwere Waffen haben und das ganze Territorium der Volksrepubliken Donezk und Lugansk unter ihre Kontrolle nehmen würden. Dort würden sie eine provisorische UN-Verwaltung (5000 Personen) bilden und alle Fragen bezüglich der Wahlen, der Verleihung des Sonderstatus dem Donezbecken nicht durch den direkten Dialog zwischen Kiew, Donezk und Lugansk, was die Resolution des UN-Sicherheitsrats verlangt, sondern so lösen würde, wie diese internationale Administration entscheidet. Es wird inzwischen versucht, solche Ideen voranzubringen.
Frage: Ist Russland für oder gegen diese Idee?
Sergej Lawrow: Russland kann nicht für Ideen sein, die den Beschlüssen des höchsten UN-Gremiums widersprechen, das für Frieden und Sicherheit zuständig ist. Die Resolution, die die Minsker Vereinbarungen befürwortete, ist unbedingt zu erfüllen. Die Kiewer Behörden sabotieren diese Resolution schon seit langem. Wenn unsere amerikanischen Kollegen diese Linie unterstützen und die Bildung einer UN-Mission behindern werden, die die Kräfte beschützen würde, die die Minsker Vereinbarungen erfüllen, wäre das sehr traurig für die internationalen Beziehungen und für die Ukraine. Dieser Konflikt würde sowieso in einem Zustand bleiben, der den Kiewer Behörden passt. Ihnen passt die andauernde Spannung, damit Kiew zeigen kann, wie es auf die angeblich regelmäßigen Verletzungen seitens Donezks und Lugansks reagiert. Obwohl die OSZE-Beobachter (sie veröffentlichen ihre Berichte jede Woche) bestätigen, dass beide Seiten ihre Verpflichtungen nicht zu 100 Prozent erfüllen, aber was die fehlende schwere Technik in Lagerhäusern die ukrainische Regierung „in Führung“ liegt. Das bedeutet, dass schwere Rüstungen irgendwo außerhalb von Lagerhäusern eingesetzt werden – und dadurch wird die Atmosphäre des Kriegs gefördert, die die Kiewer Behörden brauchen, um die Radikalen zu befriedigen und an der Macht zu bleiben.
Frage: Russland überraschte die ganze Welt, als es sich mit dem Iran und der Türkei bezüglich Syriens einigte. Wie könnten die weiteren Schritte der drei Länder in Syrien sein? Nimmt Russland den Iran und die Türkei als Verbündete im Kontext der Gestaltung einer einheitlichen Einflusspolitik im Nahen Osten wahr?
Sergej Lawrow: Wir gucken nicht so weit in die Zukunft. Wir glauben, dass wir das zu Ende führen sollten, was in Syrien begonnen wurde, als die US-Administration Barack Obamas nicht in der Lage war, die zwischen uns und Washington getroffenen Vereinbarungen zur Feuereinstellung zu erfüllen. Wir hatten keine andere Wahl als mit Ländern zu arbeiten, die ihr Wort halten, die trotz der Meinungsverschiedenheiten zur Suche nach gemeinsamen Positionen, zu einer solchen Regelung neigen, die Syrien als Einheitsstaat aufrechterhalten würden. Als solche zeigten sich unsere iranischen Partner, die – genauso wie Russland – nach Syrien von seiner legitimen Regierung eingeladen wurden, um ihr im Kampf gegen den Terrorismus zu helfen. Auch die Türkei zeigte sich dazu bereit.
Ende 2016 fand das erste Gipfeltreffen statt, der den „Astanaer Prozess“ in die Wege leitete, dank dem das Gewaltniveau wesentlich sank. In den Deeskalationszonen, die im Rahmen des „Astanaer Formats“ eingerichtet wurden, wird zwar weiter geschossen, aber vor in Idlib und Ost-Guta kommt es dazu, weil dort al-Nusra-Kämpfer immer noch bleiben, die von den Amerikanern noch seit den Obama-Zeiten geschont werden. Im Unterschied zum IS richten sie gegen die al-Nusra-Front keine Angriffe. Natürlich muss die syrische Armee auf Provokationen reagieren, wenn die al-Nusra-Front aus Ost-Guta auf Wohnviertel, insbesondere auf die Häuser der Botschaft und der Handelsvertretung Russlands, schießen. Natürlich schämen sich unsere amerikanischen Partner jedes Mal, wenn sie sich weigern, solche terroristischen Aktionen im UN-Sicherheitsrat zu verurteilen. Aber was haben sie denn sonst zu tun? So ist nun einmal ihre politisierte Position.
Aber im Allgemeinen ist das Gewaltniveau, wie gesagt, wesentlich gesunken. Noch mehr als das: als wichtigstes Ereignis der letzten Zeit wird der Kongress des nationalen Dialogs in Sotschi bezeichnet, der insgesamt zwölf Prinzipien des künftigen Staatsaufbaus Syriens billigte. Zwar waren nicht alle Oppositionsgruppierungen in Sotschi angemessen vertreten, aber das war ein beispiellos umfassendes Forum, was diverse Segmente der syrischen Gesellschaft angeht, die dabei vertreten waren. Übrigens konnte der Führer der von Saudi-Arabien gegründeten Gruppierung, Herr Al-Hariri, aus gewissen politischen Gründen nicht kommen, aber etwa ein Drittel der Mitglieder dieses Komitees waren in Sotschi dabei.
Frage: Werden zu diesem Prozess alle Oppositionsführer herangezogen?
Sergej Lawrow: Jetzt wird darüber in Genf diskutiert. Wir haben zum zweiten Mal den „Genfer Prozess“ vorangebracht. Zunächst war er 2016 ins Stocken geraten und konnte nichts tun, und wurde erst nach dem Start des „Astanaer Prozesses“ wieder ins Leben gerufen. Und jetzt gab es fast ein Jahr lang keine Beratungen in Genf, und erst während der Vorbereitung des Kongresses in Sotschi wurden die UN-Vertreter wieder aktiv. Jetzt, nach dem Kongress in Sotschi, an dem sich der Syrien-Beauftragte der UNO, Staffan de Mistura, beteiligte, begrüßen sie die Ergebnisse des Kongresses und werden ihre Initiativen formulieren, wie sie den Syrern bei der Arbeit an ihrer neuen Verfassung helfen könnten.
Ich halte das für ein konkretes Ergebnis. Es wird nicht einfach sein, Vereinbarungen zu treffen, denn die Regierung und die Opposition haben unterschiedliche Ansichten zur Verfassungsreform. Dennoch werden Russland, die Türkei und der Iran diesen Prozess fördern. Wir bereiten gerade ein neues Treffen im „Astanaer Format“ vor – schon auf der Ministerebene. Hoffentlich findet es in der ersten Märzhälfte statt. Die Vorbereitungen haben schon begonnen, und wir werden sehen, wie wir in diesem „Dreier“-Format der UNO bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen könnten.
Frage: Und die letzte Frage. Bald findet die Fußball-WM statt. Ich weiß, dass Sie nicht nur ein Fußballfan sind, sondern auch selbst Fußball spielen. Haben Sie bereits Tickets für das Endspiel reserviert? Und wie ist Ihre Prognose: Wer wird gewinnen?
Sergej Lawrow: Prognosen werde ich gar nicht machen – gewinnen wird der Beste, das ist doch klar. Was die Tickets angeht, so dachte ich daran nicht einmal.
Frage: Und für wen wird Ihr Herz schlagen?
Sergej Lawrow: Natürlich für Russland.