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ARTIKEL AUSSENMINISTERS RUSSLANDS S.LAVROV, VEROEFFENTLICHT IN ZEITUNGEN „KOMMERSANT“ UND „WALL STREET JOURNAL“ AM 1.APRIL 2004. „ANDERES RUSSLAND: HERAUSFORDERUNGEN ODER NEUE MOEGLICHKEITEN DER PARTNERSCHAFT?“

651-01-04-2004

Artikel Aussenministers Russlands S.Lavrov, veroeffentlicht in Zeitungen „Kommersant" und „Wall Street Journal" am 1.April 2004

„Anderes Russland: Herausforderungen oder neue Moeglichkeiten der Partnerschaft?"

Nicht zum ersten Mal stellt sich die Weltoeffentlichkeit die Frage: Wo will Russland hin? Aber die Art der Auseinandersetzungen in dieser Frage hat sich geaendert. Bis vor kurzem ging es um ein Land, dass durch die Innenkrise geschwaecht war und durch seine Unvoraussagbarkeit erschreckte. Heute fuerchten sich bestimmte Kraefte vor einem anderen Russland – starken und sicheren – das in der Zeit der politischen Stabilitaet und des stabilen Wirtschaftswachstums viel staerker geworden ist.

Dabei muessen wir die logische Frage beantworten: Wie will Russland seine neuen Moeglichkeiten in der Aussenpolitik nutzen?

Man muss sich der Ursachen klarwerden, warum das Image Russlands als eines verantwortungvollen Akteurs auf dem internationalen Schauplatz in den letzten vier Jahren viel besser geworden ist.

Ohne Zweifel wurde dies dank der pragmatischen Politik erzielt, die vor allem den Aufgaben der Innenentwicklung unterstellt und auf die Entwicklung des Dialogs und der Zusammenarbeit mit der Aussenwelt gerichtet war. Ausgerechnet dank dieser Politik wurden Russland und die USA die naechsten Verbuendeten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Auch die Beziehungen Russlands und der Nato sind auf einem qualitativ besseren Niveau, und unsere strategische Partnerschaft mit der Europaeischen Union entwickelt sich positiv.

Heute gibt es keine vernuenftige Alternative dieser Politik. Praesident Wladimir Putin wurde fuer die zweite Praesidentschaftsfrist gewaehlt und hat sich mehrere grosse Ziele gesetzt: Verdoppelung des BSP in den naechsten zehn Jahren, Entwicklung der wettbewerbsfaehigen Marktwirtschaft und darauf aufbauend gute Lebensbedingungen fuer die Bevoelkerung des Landes. Er kuendete „Unumkehrbarkeit der Wahl fuer die Freiheit" und die Absicht an, Grundlagen der Demokratie und der Zivilgesellschaft zu staerken.

Offensichtlich koennen diese Ziele lediglich unter stearkerer Integrierung Russlands in die Weltwirtschaft und Fortsetzung der Politik, die auf Entwicklung der gegenseitig vorteilhaften Beziehungen zu den GUS-Nachbarn, EU, USA, China, Indien, Japan, Staaten Asiens, Lateinamerikas und anderer Regionen gerichtet ist. Da kann es einfach nicht ums Weltherrschaftsstreben gehen, das sich Russland nach Ansichten gewisser Kraefte anmasst. Wir verfuegen ueber reale Erfahrungen bei der Verteidigung von nationalen Interessen Russlands, ohne zu aggressiven Mitteln zu greifen und ohne Konfrontation.

Zur konsequenten Entwicklung des Landes beduerfen wir auch stabiler Sicherheit. In der modernen Welt kann sie im Hinblick auf die vorhandenen Drohungen allein durch die Vereinigung von Anstrengungen aller zivilisierten Laender gewaehrleistet werden. Russland, Verienigte Staaten und die EU-Laender haben da eine breite gemeinsame Tagesordnung, deren zugrunde gemeinsame Verantwortung fuer Sicherheit und Stabilitaet in der Welt liegt. Das Leben lehrt uns, dass effiziente Umsetzung dieser Tagesordnung nur gemeinsam moeglich ist, wobei auch andere Laender, unter anderem moslemische, einbezogen werden muessen.

Die Notwendigkeit, solche Kooperation zu foerdern ist besonders derzeit wichtig, da wir uns bei der Loesung von besonders akuten Problemen der Gegenwart - Bekaempfung des Terrorismus und Beilegung der lokalen Konflikte – eher verteidigen als angreifen.

Die neulichen tragischen Ereignisse in Madrid haben uns wiederholt daran erinnert, dass derzeit jedes Land bzw. praktisch jeder Mensch auf der Erde zum Opfer des Terroranschlags werden kann. Sie lassen keine Illusionen hinsichtlich des immer engeren Verwachsens der internationalen und „oertlichen" terroristischen Netze zu. Indem die Aufmerksamkeit und Kraefte der internationalen Gemeinschaft durch die Irak-Krise in Anspruch genommen waren, bekamen die terroristischen Strukturen eine Ruhepause und Moeglichkeit, ihre Kraefte umzugruppieren und neue Angriffe vorzubereiten.

Ein weiteres tragisches Beispiel stellt die Lage in Kosovo dar. Das neuliche etnische Gemetzel resultiert aus der Nachsicht albanischen Extremisten gegenueber. Und dadurch koennen jahrelange Bemuehungen der Weltgemeinschaft um die Festigung des Friedens auf Balkanen scheitern. Es gibt reale Gefahr, dass sich Kosovo in ein Zentrum der organisierten Kriminalitaet in Europa verwandelt, was sich unvermeidlich auf die Sicherheit des ganzen Kontinents auswirken wird.

Die juengsten Ereignisse zeigen, welch hohen Preis die Weltgemeinschaft fuer die einseitigen Schritte zahlen muss, die vom UN-Sicherheitsrat nicht genehmigt wurden. Dabei sind fuer uns taktische Meinungsunterschiede in dieser Hinsicht viel weniger wichtig als die Einheit der strategischen Interessen Russlands und der USA.

Russland ist bereit, mit den USA, Europa, der arabischen Welt fuer die Regelung der Situation im Irak und moeglichst schnelle Wiederherstellung der Souveraenitaet dieses Landes unter zentraler Rolle der UNO zusammenzuarbeiten. Wir sind auch gewillt, gemeinsame Anstrengungen innerhalb des internationalen Vremittlerquartetts fuer die palaestinensisch-israelische Regelung auf Grund der „Road Map" fortzusetzen. Allein Beseitigung dieser gefaehrlichen Spanungsherden kann die Perspektive fuer die wirkliche Modernisierung der Nahostregion eroeffnen.

Der gemeinsame Kampf gegen neue Drohungen und Herausforderungen erfordert eine prinzipiell neue Qualitaet und gegenseitiges Verstehen sowie Beruecksichtigung von legitimen Interessen der Partner.

Ein Beispiel dessen stellt die Situation im ehemaligen UdSSR-Raum dar. Fuer Russland ist es eine Region von historisch bedingten Lebensinteressen. Dabei verstehen wir unter Lebensinteressen nicht das Recht, auf unsere Nachbarn Druck auszuueben. Es geht um die Achtung von legitimen Besorgnissen in den Fragen der Sicherheit, Wirtschaft, Menschenrechte sowie um die Einhaltung von jeweiligen internationalen Standarden und Verpflichtungen. Unser Kurs auf die Entwicklung von Integrationsprozessen und Zusammenarbeit in verschiedenen Formaten in dieser Region traegt zur Erhoehung der Stabilitaet in dieser Region bei, woran die ganze Weltgemeinschaft objektiv interessiert ist. Es waere ein unerklaerlicher Anachronismus, wenn sich der GUS-Raum in die Region der Rivalitaet und des Kampfes fuer „Einflussbereiche" verwandelt haette.

Ein weiteres Beispiel: Die Situation im Bereich der Sicherheit auf dem europaeischen Kontinent. Hier muessen Bedingungen fuer die endgueltige Ueberwindung von Konstrukten aus der Zeit des „Kalten Krieges" geschaffen werden. Dazu gehoert die moeglichst schnelle Ratifizierung und Inkraftsetzung des angepassten Vertrags ueber konventionelle Militaerkraefte in Europa (VKME). Es darf nicht zugelassen werden, dass im Bereich der europaeischen Sicherheit Rechtsvakuum entsteht, denn dies wuerde Destabilisierung im „Hinterland" unseres gemeinsames Kampfes gegen Terrorismus und anderen globalen Drohungen bedeuten.

Wir haben zu viele gemeinsame Aufgaben, um sich zu erlauben, in den Streitigkeiten zu Problemen der Vergangenheit unterzugehen. Diese Probleme duerfen uns nicht stoeren, uns zusammen eine sichere und gerechte Weltordnung aufzubauen.


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