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Exklusivinterview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, mit dem Fernsehsender „Rossija 24“, Moskau, am 18. Juli 2014

1730-18-07-2014

Frage: Ich komme nicht umhin, Sie zum aktuellsten Thema zu befragen - zu dem auf ukrainischem Staatsgebiet abgestürzten Flugzeug der Malaysian Airlines. Wie kann sich das auf Russland auswirken? Aus Kiew sind gleich Anschuldigungen gegen unser Land zu hören gewesen, darüber, dass wir den Separatisten Flugabwehr-Systeme liefern. Wie würden Sie auf diese Anschuldigungen antworten?

Sergej Lawrow: Unser Standpunkt wurde vom Präsidenten der Russischen Föderation, Vladimir Putin, klipp und klar dargelegt, der von Anfang an verlangt hat, dass eine unabhängige internationale Untersuchung durchgeführt werden muss. Wir haben diesen Vorschlag als Erste gemacht. Gestern war es ebenfalls Vladimir Putin, der in einem Telefongespräch mit dem Präsidenten der USA, Barack Obama, den amerikanischen Führer über das soeben abgestürzte malaysische Flugzeug informiert hat. Wir werden auf einer äußerst objektiven, offenen und unabhängigen Untersuchung bestehen und wir sind bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten. Wie sind der Meinung, dass die Initiative von den Machthabern des Landes ausgehen muss, auf dessen Staatsgebiet diese Tragödie passiert ist.

Was die aus Kiew hörbaren Erklärungen betrifft, dass es beinahe Russland selbst getan habe, so habe ich in den vergangenen Monaten von den Vertretern der Kiewer Machthaber nicht eine der Wahrheit entsprechende Aussage gehört. Sie sagen alles Mögliche. Der Präsident, Petro Poroschenko, hat zum Beispiel erklärt, dass die die ukrainische Armee niemals den Befehl erhalten würde, etwas zu tun, was eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen würde, dass keine Städte beschossen würden und dass darin – wie er sich hochgestochen auszudrücken pflegte – der Sinn der „hohen Traditionen des hehren ukrainischen Kriegertums" liege. Was mit den Siedlungen im Südosten der Ukraine, mit den Städten, der Infrastruktur und der Zivilbevölkerung passiert, haben Sie mit Ihren eigenen Augen gesehen. Und dank Ihnen hat es auch die ganze Welt gesehen.

Es gibt auch eine ganze Reihe anderer Beispiele. Aus Kiew ergießt sich einfach ein Strom an Unwahrheiten hinsichtlich der Geschehnisse, sie beschuldigen jeden und jedes, ausgenommen sich selbst. Ehrlich gesagt gehe ich davon aus, dass diese Katastrophe trotzdem jene ernüchtern wird, die ganz offensichtlich auf Krieg gesetzt haben, die jegliche Verpflichtungen zu einem politischen Prozess und die aus Europa hörbaren Aufrufe, zur Vernunft zu kommen, ablehnen, und die auf die Unterstützung Washingtons hoffen. Wir nennen die Dinge beim Namen – wir sprechen mit unseren amerikanischen Kollegen ganz offen darüber. Wir spüren kein Bestreben der USA, Signale zugunsten einer Verhandlungslösung nach Kiew zu schicken.

Das, was mit dem Flugzeug passiert ist, sollte einen zwingen, inne zu halten, sich umzusehen und nachzudenken. Die Separatisten haben für den Zeitraum der internationalen Untersuchung Waffenruhe vorgeschlagen. Wir sind dafür, dass die internationalen Experten so schnell wie möglich an den Ort der Katastrophe kommen und unverzüglich die „Black boxes" erhalten, wie wir entgegen anderslautenden Verlautbarungen aus Kiew nicht vorhaben, mitzunehmen und so gegen die in der Weltgemeinschaft für derartige Fälle vorgesehen Normen zu verstoßen. Das ist eine Angelegenheit der ICAO und jener Staaten, die einen direkten Bezug zur Tragödie haben, und deren Staatsbürger an Bord der Maschine waren – der Niederlande, Malaysias und auch der Ukraine u.a.. Gut, dass der Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, erklärt hat, dass unverzüglich eine internationale Kommission zu bilden sei. Das muss gemacht werden, und zwar so, dass bei niemandem Zweifel an der Aufrichtigkeit und Bereitschaft zurück bleiben, alles vollständig aufzuklären.

Frage: Was die Untersuchung und die Erklärung Petro Poroschenkos betrifft. Buchstäblich wenige Stunden nach Bekanntwerden der Katastrophe hat er erklärt, dass dies ein Terroranschlag gewesen sei. Ich werde Sie nicht fragen, woher er einige Stunden nach der Katastrophe – ohne jegliche Untersuchungen – eine derartige Information erhalten hat. Es ist klar, dass es sich hier mehr um eine politische, als um eine Expertenmeinung handelt. Was glauben Sie, können derartige, zielgerichtet auftretende Erklärungen Druck auf die Expertengruppe ausüben, die die Untersuchungen durchführen wird? Könnte das ein direkter Hinweis darauf sein, was man finden sollte, und was nicht?

Sergej Lawrow: Das ist ein politischer Auftrag. Deshalb habe ich auch gesagt, dass ich die Erklärung Petro Poroschenkos begrüße, unverzüglich eine Kommission einzusetzen. Aber sie muss umgehend zusammengestellt werden, sofort.

Der Versuch zu erklären, dass das ein Terrorakt war, um den ukrainischen Ermittlern ein Signal zu geben, in dieser Richtung zu untersuchen, ist natürlich ein unzulässiger Druck auf die Tätigkeit der Kommission.

Ich könnten viele Zitate wiedergeben, die den absoluten Unwillen aufzeigen, zuzugeben, dass seitens der ukrainischen Machthaber irgendetwas falsch oder unzureichend gemacht wird. Das Wichtigste ist, und das hat Vladimir Putin gestern im Gespräch mit Barack Obama zum wiederholten Mal unterstrichen, nicht zu versuchen, ständig davon zu sprechen, dass Russland etwas machen muss, sondern das Wesen des Problems zu erfassen, das im absoluten Unwillen der ukrainischen Machthaber besteht, sich mit jenen an den Verhandlungstisch zu setzen, die den im Februar erfolgten militärischen Umsturz nicht akzeptieren wollen und auch nicht die Versuche, mit dem russischsprachigen Südosten von einer Machtposition aus zu sprechen, sie wollen nur das Eine: dass ihre gesetzlichen Interessen gewahrt werden, dass man sich mit ihnen an den Verhandlungstisch setzt und eine Vereinbarung dahingehend trifft, was für eine Struktur der ukrainische Staat haben soll und welche Rechte für alle Staatsbürger zu gewährleisten sind. Das ist keine Kaprize, sondern letztendlich eine Forderung an die Machthaber in Kiew, das zu erfüllen, was sie am 21. Februar, als sie noch in der Opposition waren, unterschrieben haben.

Ich erinnere daran, dass der erste Punkt jener Vereinbarung, die von den Außenministern Polens, Deutschlands und Frankreichs unterschrieben wurde, die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit betraf. Und das ist das Wichtigste. Eine solche Regierung würde sich dann auch um eine Verfassungsreform kümmern, aufgrund derer Wahlen stattfänden. Alles wäre klar, logisch, verständlich und konstruktiv. Diese Vereinbarung wurde aber leider zerrissen, unter Billigung der Europäer, oder zumindest haben sie es verabsäumt, darauf zu bestehen, dass die ehemalige Opposition, die jetzt die Machthaber sind, zu dem stehen, was sie unterschrieben haben.

Anschließend wurde der nächste Versuch unternommen, die Lage in das Fahrwasser eines konstruktiven Dialogs zurückzubringen. Am 17. April trafen sich in Genf die Außenminister Russlands, der Ukraine und der USA, sowie der Hohe Vertreter der Europäischen Union. In der Erklärung zu den Ergebnissen des Treffens stand zu lesen: Einstellung jeglicher Gewalt und Beginn eines, ich zitiere: „inklusiven, transparenten, offenen konstituierenden Prozesses unter Beteiligung sämtlicher Regionen der Ukraine".

Als wir dieses Dokument zum UN-Sicherheitsrat und zur OSZE brachten mit der Bitte, es zu billigen, da es ja die Leiter der Außenämter der USA, der Europäischen Union, Russlands und der Ukraine selbst unterschrieben hatten, wurde uns die Unterstützung versagt. Wir hörten folgendes: „Lasst uns lieber den Friedensplan von Petro Poroschenko billigen", der in Wirklichkeit die Genfer Erklärung ignoriert und auch die Prinzipien der Offenheit, des konstituierenden Prozesses und der gleichberechtigten Beteiligung der Regionen. Im Plan ist der Aufruf enthalten, die Waffen abzugeben, und wer das nicht tue, der würde vernichtet werden. Und weiter – wenn ihr euch ergebt, dann werden wir darüber entscheiden, ob wir euch Amnestie gewähren, oder nicht. Jene, die unserer Überzeugung nach schwere Verbrechen begangen haben, werden nicht amnestiert. Was die Befugnisse betrifft, so werden wir selbst euch sagen, was, wie und wann dezentralisiert wird.

Die ukrainische Führung führt keine Verfassungsreform durch. Sie haben irgendein Projekt ausgearbeitet, dessen Entwurf dem Obersten Rat vorgelegt wurde. Es wurde nirgendwo veröffentlich, die Regionen waren nicht damit vertraut. Parallel dazu hat man versucht, es an den Europarat zu schicken, um sich die Meinung dieser Struktur zu sichern, um sich dann unter diesem Deckmantel zu verstecken und zu sagen, dass keinerlei Konsultationen notwendig seien, weil ja die „aufgeklärte europäische Gemeinschaft" alles bestätigt habe und dass alles normal sei. Darin liegt das Problem. Vladimir Putin wird nicht müde, all dies Angela Merkel, Barack Obama, Francoise Hollande und seinen anderen Gesprächspartnern zu sagen. Das letzte Mal war das in Rio de Janeiro der Fall, wo der russische Präsident eingehend mit der deutschen Kanzlerin über dieses Thema gesprochen hat.

Wir unterstreichen, dass man von uns nicht verlangen kann, dass wir die Separatisten einfach dazu zwingen, sich damit abzufinden, dass sie entweder getötet werden oder dass sich der Gnade des Siegers ausliefern. Ich habe mit dem Außenminister der USA, John Kerry, darüber gesprochen und ich werde weiter um eine Antwort ringen.

Im Irak hat es Wahlen gegeben, die der Partei zum Sieg verholfen haben, an deren Spitze der Premierminister des Landes, Nuri al Maliki, steht (er hat seine Befugnisse bestätigt, nachdem er Premierminister geworden ist). Warum erachten es die Vereinigten Staaten im Irak für möglich, ihn zu überreden, die Macht mit jenen zu teilen, die die Wahlergebnisse nicht akzeptiert haben? Warum befrieden die Vereinigten Staaten – oder versuchen es – überall alle, unabhängig davon, ob Wahlen stattgefunden haben oder nicht (wie zum Beispiel in der Republik Südsudan, zu deren Gründung Washington viel beigetragen hat und sozusagen der direkte Hauptinitiator dieses Prozesses war)? Dort haben sie den Präsidenten buchstäblich mit Gewalt dazu gezwungen, mit seinem Hauptgegner Frieden zu schließen.

Solche Beispiele gibt es viel – in Afrika, im Nahen Osten. Aber in der Ukraine fehlt jeglicher Dialog mit dem Oppositionellen. Die offizielle Haltung der USA, die sie in der ganzen Welt verbreitet, ist die, dass man mit Separatisten nicht reden darf, dass es unmöglich sei, die Russische Initiative für Waffenruhe und Dialog im UN-Sicherheitsrat zu unterstützen, weil man die Regierung und die Separatisten nicht an einen Tisch setzen darf. Das ist ein derart doppelter Standard, dass es gar nicht notwendig ist, besonders auf die Sackgasse hinzuweisen, in die ein derartiges Herangehen führt. Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Diese Voreingenommenheit bedeutet nur eines: in Washington wurde beschlossen, dem Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko, grünes Licht für eine militärische Unterdrückung alle jener zu geben, die mit ihnen nicht einverstanden sind. Das ist ein verbrecherischer Entschluss und ich hoffe sehr, dass er trotz allem noch überdacht wird. Auf der Ebene des Präsidenten und des Außenministeriums Russlands erklären wir unseren Partnern, was es bedeuten wird, dass der Westen diese kolossale Verantwortung für das Schicksal des ukrainischen Staates übernommen hat.

Frage: Im UN-Sicherheitsrat findet heute eine Sondersitzung statt, die dem abgestürzten malaysischen Flugzeug gewidmet ist. Was erwarten Sie von dieser Sitzung, Vielleicht wird Russland einen Vorschlag bezüglich einer Resolution machen?

Sergej Lawrow: Manchmal kommt es vor, dass eine Veranstaltung von lange her angesetzt ist, doch dann passiert irgendein Ereignis, und alle behandeln dieses Ereignis anstelle des vorgesehenen. Das ist eine planmäßige Sitzung des UN-Sicherheitsrats, die bereits vorige Woche vereinbart wurde, als noch niemand auf die Idee kommen konnte, dass eine derartige Tragödie passieren könnte.

Frage: Aber jetzt wird das Thema geändert?

Sergej Lawrow: Das Thema wird geändert, besser gesagt, es wird dieses Problem hinzugefügt. Wir sind für die Verabschiedung einer Erklärung, in der natürlich all jenen das tiefste Mitgefühl ausgesprochen wird, die Verwandte und Bekannte verloren haben, sowie der Regierung von Malaysia. Ich bin davon überzeugt, dass das gemacht werden wird. Wahrscheinlich ist der Sicherheitsrat dazu verpflichtet, sich für eine unverzügliche Durchführung einer unabhängigen, unbefangenen, freien und offenen Untersuchung auszusprechen. Wir treten für die gleiche Initiative und Lösung im Rahmen der OSZE ein, wo heute ebenfalls eine Sitzung des Ständigen Rates stattfinden soll.

Frage: Beeinflusst diese Katastrophe das Treffen der Kontaktgruppe, das schon lange hätte stattfinden sollen, um ein neues Datum für die Waffenruhe festzulegen? Das wurde ja bereits Anfang Juli in Berlin vereinbart. Das Treffen der Kontaktgruppe kommt einfach nicht zustande. Es scheint, als ob das Treffen wegen der Katastrophe noch einmal verschoben wird. Was ist der Hinderungsgrund?

Sergej Lawrow: Gestern Nacht gab es eine Video-Konferenz. Aus verständlichen Gründen war sie ausschließlich der Situation um das abgestürzte Flugzeug gewidmet. Es ist erforderlich, äußerst komplizierte Fragen im Zusammenhang mit der Zutritts-Gewährung für internationale Experten sowie mit der Identifizierung und dem Transport der Leichen in das Herkunftsland zu lösen, das sind Fragen, die rein logistisch nicht ohne enge Zusammenarbeit zwischen den Separatisten und den Machthabern in Kiew bewältigt werden können.

Frage: Wird ein Dialog geführt?

Sergej Lawrow: Wenn logistisch etwas von der Russischen Föderation gebraucht wird, so haben wir unsere Bereitschaft bekundet, jegliche Hilfestellung zu gewähren. Es ist zu erwarten, dass in allernächster Zeit noch eine Video-Konferenz stattfinden wird, bei der bereits Fragen einer Waffenruhe erörtert werden. Jetzt ist eine Waffenruhe drei, ja vier Mal so wichtig, weil ja Untersuchungen durchgeführt werden müssen, die ein ziemlich großes Territorium betreffen werden – Sie verstehen, die Überreste wurden weit verstreut. Ich hoffe sehr, dass diese Tragödie es einfach erlaubt, politische Ambitionen zu vergessen und dass alle um die Aufgabe vereint werden, einen Dialog aufzunehmen und die Beziehungen zwischen dem Südosten und Kiew wieder herzustellen – unter Beachtung der in Genf vereinbarten Prinzipien der Notwendigkeit zur Aufnahme eines gleichberechtigten konstituierenden Prozesses.

Frage: Warum wurde die Waffenruhe bis jetzt nicht anberaumt? Am 2. Juli haben Sie, Ihr ukrainischer Kollege Pawlo Klimkin, sowie die Außenminister Deutschlands und Frankreichs eine Vereinbarung erzielt und ein Papier darüber unterschrieben, dass das Datum für die Waffenruhe bis 5. Juli feststehen muss. Warum wurde das nicht gemacht?

Sergej Lawrow: Das ist schwer zu sagen. Die Waffenruhe wurde als vereinbart betrachtet. Damit dies auch in der Praxis umgesetzt wird, dazu sind vier Außenminister allein zu wenig. Wichtig ist, dass diejenigen, die einander real gegenüberstehen und auf die Abzugshähne und Knöpfe drücken, ein Datum für die Waffenruhe und die Parameter festlegen. Bildlich gesprochen: alle erstarren an ihrem Platz, nach 24 Stunden geht jemand einen Kilometer zurück, jemand einen halben Kilometer usw.. Es ist wichtig, dass die Leute „auf dem Boden" die Sicherheit dieses Prozesses spüren, und dass sie nicht einseitig abrüsten. Aber zu meinem großen Bedauern (ich komme nochmals auf das Thema der Vertragsfähigkeit unserer ukrainischen Kollegen zurück), sind seit der Abstimmung der Berliner Deklaration aus Kiew Stimmen zu hören, dass die Separatisten aufgrund dieses Dokumentes verpflichtet seien, den „Friedensplan" des Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko, anzunehmen, dass er der Weg zum Waffenstillstand sei. Dem ist überhaupt nicht so. In der Deklaration wird der „Friedensplan" von Petro Poroschenko nicht erwähnt. Es wird auch noch erzählt, dass vor dem Zustandekommen der Waffenruhe Geiseln ausgetauscht werden müssten. Das stimmt ebenfalls nicht.

In der Deklaration, die am 2. Juli in Berlin angenommen wurde, steht der Satz, dass wir zu einer schnellstmöglichen Freilassung der Geiseln aufrufen - aber das ist in keiner Weise eine Bedingung für die Waffenruhe. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass es irgendwelche Bedingungen geben muss, um Menschenleben zu retten und mit dem Schießen aufzuhören. Im Telefongespräch mit dem ukrainischen Außenminister habe ich gefragt, wie man diese Interpretationen der Berliner Deklaration verstehen kann, und Pawlo Klimkin versicherte mir, dass die Berliner Deklaration keinerlei Interpretationen bedarf. Ständig muss man alles doppelt überprüfen.

Nachdem die Berliner Deklaration angenommen wurde, hat sich die Kanzlerin der BRD, Angela Merkel, im Zuge eines Treffens in Rio de Janeiro mit der Bitte an den russischen Präsidenten Vladimir Putin gewandt, noch zusätzlich etwas zu unternehmen, um dem konstruktiven Prozess in der Ukraine vor Ort einen Anstoß zu geben. Wir haben damals wesentliche Korrekturen an unserer Einstellung vorgenommen. Die Haltung der vier Außenminister – Russlands, Deutschlands, Frankreichs und der Ukraine – die in der Berliner Deklaration niedergelegt ist, sieht vor, dass nach der Herstellung der Waffenruhe OSZE-Beobachter auf der russischen Seite jener Grenzübergänge stationiert werden können, die auf der ukrainischen Seite in der Hand der Separatisten sind. An dieselben Grenzpunkt können auch ukrainische Grenzbeamte kommen, damit sie zusammen mit den OSZE-Beobachtern verfolgen, wie die russischen Zöllner und Grenzbeamten ihre Arbeit an den Passierstellen verrichten, und bei den Grenzpunkten nichts Verbotenes durchgelassen wird.

Nach dem Gespräch mit Angela Merkel in Rio de Janeiro hat der Präsident Russlands, Vladimir Putin, als Geste des guten Willens den Beschluss gefasst, nicht zuzuwarten, bis Waffenruhe eintritt, sondern die OSZE-Beobachter sofort zu den Grenzübergängen einzuladen, von denen hier die Rede ist. Wir haben dem Stabquartier der OSZE in Wien diesen Vorschlag unterbreitet und ehrlich gesagt gedacht, dass man das aufgreifen wird und unverzüglich eine entsprechende Entscheidung getroffen wird – die Sache wird geregelt, die Beobachter kommen und werden nachsehen, wie diese Grenzposten funktionieren, und dass nichts Verbotenes durchgelassen wird. Zu unserer Verwunderung begann man damit, uns Fragen zu stellen, warum dies nur OSZE-Beobachter betreffe und warum es dort keine Ukrainer gebe. Wir erklärten, dass dieser Vorschlag erste nach Abschluss eines Waffenstillstandes in Kraft treten würde und dass wir das sowieso im Vorhinein täten. Einige unserer Partner haben sehr unzufrieden „etwas vor sich hingebrummt", das geklungen hat wie: „legen wir doch noch was drauf, soll die Einladung nicht nur für zwei Übergänge, sondern gleich für die ganze Grenze gelten". Wir möchten, dass alle höflich sind. Unsere westlichen Partner haben natürlich ihre Manieren vergessen, die europäische Staatsbürger für gewöhnlich an den Tag legen, und sie versuchen eine ausschließlich einseitige Sichtweise durchzuboxen und alles daran zu setzen, damit alles so gemacht wird, wie sie es für notwendig erachten. Von russischer Seite hat es viele Gesten des guten Willens gegeben, die sie zu ignorieren versuchen.

Außerdem hat die ganze Zeit über nie jemand dem Präsidenten der Ukraine, Petro Petroschenko, öffentlich gesagt, dass er die Verpflichtungen erfüllen muss, die die Ukraine übernommen hat, und zwar einen konstruktiven Dialog zu beginnen, der nicht einer Parodie oder Imitation gleich kommt, sondern einen echten Verhandlungsprozess darstellt, der auf eine Festigung des ukrainischen Staates mit Prinzipien abzielt, die für alle Regionen und Bürger akzeptabel sind.

Frage: Vor nicht allzu langer Zeit sind russische Siedlungen dem Konflikt in der Ostukraine zum Opfer gefallen – sie wurden von ukrainischer Artillerie beschossen. Wie wird die Russische Föderation darauf reagieren, da sich ein derartiger Beschuss ja wiederholen kann? Uns ist klar, dass die Mine nochmals hochgehen kann.

Sergej Lawrow: Erstens haben wir bereits davor gewarnt, dass wir, wenn dies so weiter gehen sollte, erforderliche Maßnahmen ergreifen werden. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn klar ist, dass dies vorsätzlich geschieht, ein derartiger Fall mit einem Schlag erledigt werden muss. Unserer Einschätzung nach ist dies jedoch einstweilen entweder das Ergebnis einer nicht sehr professionellen Arbeit der Personen an diesen Geräten oder eine Zufall, der im Krieg ebenfalls passieren kann. Wir haben unsere ukrainischen Kollegen ernsthaft gewarnt.

Praktisch sieht es so aus, dass wir in nächster Zeit erreichen werden, dass die OSZE-Beobachter, die wir an die Grenzstellen einladen, nicht einfach nur die Arbeit der russischen Grenz- und Zollbeamten beobachten werden, sondern sie sollen auch die Arbeit bewerten und nach Wien berichten, was um die Grenzübergänge herum passiert, so auch vom Standpunkt der Gefährdung und Sicherheit aus, die aus den Kampfhandlungen auf ukrainischem Territorium resultieren. Dies wird auch zu mehr Disziplin jener beitragen, die auf der anderen Seite der Grenze ihre Finger am Abzugshahn halten.

Frage: Hat die OSZE bereits einen Beschluss bezüglich dieser Kommissionen gefasst?

Sergej Lawrow: An die Kontrollpunkte „Donezk" und „Gukowo" wurden drei OSZE-Vertreter gesandt, die schnell einschätzen sollten, wie all das in der Praxis aussieht, wie viele Beobachter erforderlich sind, damit sie rund um die Uhr dort sein können (zum Beispiel in drei Schichten). Ich hoffe, dass die OSZE die entsprechende Entscheidung bis Ende der Woche fällt und dass die Beobachter kommen werden. Wir würden uns darüber freuen. Die russische Seite übernimmt natürlich die Verantwortung für ihre Sicherheit auf unserem Territorium, jedoch nicht im Falle einer Beschießung von ukrainischer Seite aus. Das wird im Mandat der Beobachter und in unseren Verpflichtungen niedergelegt sein.

Frage: Wir alle verstehen, warum die Bodenmilitäroperation begonnen hat, die die israelischen Militärs im Gazastreifen angezettelt haben und wegen der die dort lebende Zivilbevölkerung leidet. Wie steht Russland dazu?

Sergej Lawrow: Gestern haben der russische Präsident Vladimir Putin und der amerikanische Präsident Barack Obama diese Frage diskutiert. Einige Stunden vor seinem Abflug nach Lateinamerika hat der russische Präsident mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu gesprochen. Während all dieser Kontakte haben wir unser Verständnis dafür zum Ausdruck gebracht, dass Israel wegen des chaotischen, ziellosen Beschusses mit selbstgebauten Raketen um seine Sicherheit besorgt ist. Die Raketen schlagen in Wohnbezirken ein, unter anderem sind in den letzten Tagen auch einige Raketen einen Kilometer von unserer Botschaft in Tel Aviv entfernt niedergegangen. Uns ist bewusst, wie ernst das für die Israelis ist, aber gleichzeitig verstehen wir auch, wie wichtig es ist, die Spirale der Gewalt nach dem Motto: „Aug um Auge", „Zahn um Zahn", zu stoppen.

Die russische Seite hat die Initiative Ägyptens aktiv unterstützt, die es vor einigen Tagen proklamiert hat und in der es sich für Israel aussprach. Wir sind der Meinung, dass es noch nicht zu spät ist, dass die HAMAS und andere, ihr nicht unterstellte radikale Gruppierungen (solche gibt es im Gasastreifen), diese Initiative aufgreifen. Der Beginn der Bodenoperation ruft eine tiefe Besorgnis dahingehend hervor, wie die Hamasleute darauf reagieren werden, und was weiter geschieht.

Ich unterstreiche noch einmal – wir hoffen sehr auf die führende Rolle Ägyptens. Wir begrüßen grundsätzlich die Rückkehr Kairos in die politische Arena der Region, was diesem Land gefehlt hat in der Zeit, als es von inneren Widersprüchen zerrissen wurde. Was die Beruhigung der Lage um den Gazastreifen herum und die Möglichkeiten einer ägyptischen Vermittlung zwischen diesem Territorium und Israel betrifft, so halten wir die Beteiligung Ägyptens bei der Wiedervereinigung der palästinensischen Lager aufgrund der Arabischen Friedensinitiative, jedoch nicht auf der Grundlage einer Widersetzung gegen Israel, sondern aufgrund eines Dialoges mit diesem Land im Großen und Ganzen für sehr nützlich und wir hegen die Absicht, dies aktiv zu unterstützen.

Es hat eine Zeit gegeben, in der die USA das sogenannte „Quartett" internationaler Vermittler für ein ganzes Jahr zur Seite geschoben und gesagt haben, dass sie die Israeli und die Palästinenser selbst befrieden würden und Verhandlungen über den endgültigen Status aufgenommen haben. Es ist nichts dabei herausgekommen – allein ist das schwer zu bewerkstelligen, obwohl auch wir die Mission des amerikanischen Außenministers John Kerry unterstützt haben.

Heute, wo viele von der Notwendigkeit sprechen, das vielseitige Format der Tätigkeit des „Quartetts" (Russland, USA, UNO, EU) wieder aufzunehmen, scheint mir, dass genau jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, um zu unserer seinerzeitigen Idee zurückzukehren, dass dieses Format durch Vertreter der Arabischen Liga ergänzt werden muss – und dass man nicht einfach wie früher etwas im eigenen Kreis entscheidet und dann erst die Araber hinzu bittet und ihnen erzählt, was das „Quartett" vereinbart hat, sondern dass mit den Arabern zusammengearbeitet wird, insbesondere mit Ägypten, um eine Lösung zu finden. Die Araber müssen von Anfang an ein Teil des Prozesses der Ausarbeitung der Initiative sein. Meiner Meinung nach findet das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines derartigen Schrittes jetzt breite Anerkennung.

Frage: Sergej Wiktorowitsch, vor kurzem ist der Besuch des russischen Präsidenten Vladimir Putin in einer Reihe lateinamerikanischer Länder zu Ende gegangen. Vieles ist bei diesem Besuch zum ersten Mal geschehen – insbesondere war dies die erste Reise eines russischen Staatsoberhaupts nach Nicaragua und Argentinien. Nach dem Zerfall der UdSSR ist Lateinamerika irgendwie an die Peripherie der russischen Außenpolitik gerückt. Der abgehaltenen Visite und der Anzahl der unterschriebenen Abkommen nach zu urteilen, dürfte sich das gerade grundlegend ändern?

Sergej Lawrow: Ich glaube, dass ernsthafte Veränderungen im Gange sind, aber mit einem Besuch ist das nicht getan. Das ist schließlich ein Prozess, der in den vergangenen 10-12 Jahren begonnen hat, als wir damit begannen, die Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion neu einzuschätzen. Aber im Großen und Ganzen hatten wir damals weder die Mittel, noch die Zeit, um die Verbindungen zu allen Freunden auf der Welt aufrecht zu erhalten, wie waren mit unseren inneren Problemen beschäftigt. Wir erinnern uns daran, wie ernst das alles war.

In den vergangenen 10 Jahren haben wir aktiv damit begonnen, nach Lateinamerika, Afrika und Asien zurückzukehren, in Regionen, in denen wir langjährige Freunde haben, die sich noch an die Solidarität mit unserem Land in den Jahren des Unabhängigkeitskampfes dieser Staaten erinnern. Ich glaube, dass das Kapital, das unter anderem in menschlichen Beziehungen gemessen wird, heute durchaus gefragt ist, und zwar von beiden Seiten.

Ich erwähne einen interessanten Moment. Viele westliche Medien (ja auch in einigen benachbarten Ländern, insbesondere in der Ukraine) haben begonnen, den Besuch von Präsident Vladimir Putin in Lateinamerika als Versuch darzustellen, dass Russland beweisen möchte, nicht ganz in der Isolation zu stehen. Es war so ein Unterton zu bemerken, dass wir verzweifelt danach gesucht hätten, wohin wir fahren könnten. Ich glaube, dass alle sehr gut verstehen, dass der BRICS-Summit nicht schnell aus dem Ärmel geschüttelt wurde, sondern eine seit langem (vor einem Jahr beim letzten Summit) vereinbarte, alljährliche Veranstaltung ist, die seriös vorbereitet wurde.

Wir haben weitverzweigte Mechanismen, die das Funktionieren dieser Struktur gewährleisten – an die zwei Dutzend Formate, die auch sektorale Minister und Vertreter anderer Behörden miteinschließen, sowie die außenpolitischen Wechselbeziehungen.

Wie der russische Präsident Vladimir Putin auf der abschließenden Pressekonferenz gesagt hat, war das Hauptereignis beim BRICS-Summit die Abstimmung einer Vereinbarung über die Gründung einer neue Entwicklungsbank mit einem Kapital von 100 Milliarden Dollar (das Grundkapital ist etwas weniger, aber letztendlich haben die Länder die Verpflichtung übernommen, es bis auf 100 Milliarden aufzustocken). In Höhe desselben Betrages ist auch ein Pool von Reservedevisen geschaffen worden.

Der Präsident hat diese Vereinbarungen als Erfüllung dessen gewertet, was schon früher beabsichtigt war. Dass dies nun geschehen ist, bestätigt das Interesse aller BRICS-Staaten an mehr Selbständigkeit und an der Schaffung von Instrumenten, die es ermöglichen, von objektiven Prozessen abhängig zu sein, von den eigenen Bedürfnissen und vom Interesse an einer gegenseitigen Zusammenarbeit, und nicht von Vorschriften, die in einer Epoche gemacht wurden, als diese Länder noch nicht genug wirtschaftliches und finanzielles Gewicht hatten.

Frage: Sergej Wiktorowitsch, wir werden ganz sicher noch auf das Thema „BRICS" zurück kommen, aber ich möchte etwas genauer bei Lateinamerika bleiben, das in Nordamerika, insbesondere in den USA, als deren „Hinterhof" bezeichnet wird. Dieser Terminus ist umstritten und wahrscheinlich beleidigend. Nichtsdestoweniger ist offensichtlich, dass es hier einen sehr starken Einfluss der Vereinigten Staaten gibt. Sagen Sie, spüren Sie seitens der USA einen Widerstand gegen diese Entwicklung der russisch-lateinamerikanischen Beziehungen? Als ich zum Beispiel in Nicaragua war, hat mir L. Ortega (der Sohn des Präsidenten dieses Landes, Daniel Ortega) erzählt, dass insbesondere die USA äußerst unzufrieden seien mit dem Wunsch Russlands, in Nicaragua eine Militärbasis zum Auftanken zu errichten. Vielleicht gibt es noch andere Beispiele?

Sergej Lawrow: Der BRICS-Summit wurde von bilateralen Visiten des Präsidenten Russlands, Vladimir Putin, auf Kuba, in Nicaragua und in Argentinien begleitet, sowie auch von sogenannten „outrich" Veranstaltungen, zu denen die Brasilianer neben den Staatschefs dieser Vereinigung auch alle südamerikanischen Länder eingeladen haben, die der UNASUR (Union südamerikanischer Nationen) angehören. Es fanden Gespräche und protokollarische Maßnahmen statt, im Zuge derer ich mich zumindest mit allen meinen Kollegen unterhalten habe – mit den Außenministern dieser Länder, die ihre Präsidenten begleitet haben. Praktisch alle haben mir im Vertrauen gesagt, dass die Amerikaner am Vorabend dieser Treffen über verschiedene Kanäle Signale geschickt hätten, wozu und warum sie denn dort hinfahren würden. Sie haben das philosophisch aufgenommen und mit lateinamerikanischer Würde geantwortet, dass das ihre Sache sei und dass sie die Beziehungen mit jenen ausbauen würden, mit denen sie es für notwendig hielten.

Russland ist ein sehr zukunftsträchtiger Partner, der beiderseitig nutzbringende Projekte anbietet. Die lateinamerikanischen Staaten haben an unser Land eine Vielzahl von Vorschlägen. Warum sollte man sich selber auf die Füße treten und die eigenen, natürlichen Interessen zurückhalten?

Frage: Also kein „Hinterhof"?

Sergej Lawrow: Sagen wir so: die Flugzeit von New York nach Brasilia ist praktisch genau so lang, wie von New York nach Moskau. Von Moskau nach Brasilia – eineinhalb mal länger. Selbst vom Standpunkt der Arithmetik und Geographie aus ist alles relativ. Diese Region ist bei weitem kein „Hinterhof", sondern eine ganze Welt, ein ganzer Kontinent mit einer eigenen Kultur, die wesentlich von den Spaniern und Portugiesen geprägt wurde, aber auch mit einer Kultur, die in den meisten Ländern die Traditionen jener Menschen aufrecht erhält, die vor dem Eintreffen der Europäer dort gewohnt haben.

Frage: Und Russen gibt es auch nicht wenige – zum Beispiel in Argentinien.

Sergej Lawrow: Nicht nur in Argentinien. In Uruguay gibt es ein Örtchen, eine Kleinstadt, in der die meisten Einwohner unsere Landsleute sind. Das ist der einzige derartige Platz in Lateinamerika. Als ich in Paraguay, Uruguay und Argentinien war, habe ich mich mit diesen Leuten getroffen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass das eine ziemlich gutgestellte Diaspora ist, sie befinden sich in einer normalen sozialen und wirtschaftlichen Lage, der Alltag ist geregelt. Aber sie bewahren die russische Kultur und unterrichten ihre Kinder. Wir helfen jetzt, den Russischunterricht effektiver zu gestalten und weiter zu verbreiten, wir versorgen sie auch mit Literatur.

Lateinamerika ist ein ganzer Kontinent - und ihn als „Hinterhof" der USA zu bezeichnen, war wahrscheinlich modern in einer Epoche, in der es nicht so viele Kommunikationsmöglichkeiten gab. Aber das Wichtigste ist, dass ihre Einstellung überhaupt nicht unter den Begriff „Bewohner eines Hinterhofes" fällt.

Beim Gipfeltreffen, das bereits unter Teilnahme aller südamerikanischen Länder, die UNASUR-Mitglieder sind, stattfand, wurde die Lage der Weltwirtschaft und der Finanzen aktiv erörtert. Die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner popagierte die Idee, einen allgemein annehmbaren, universellen Verhaltenskodex für Finanzmärkte zu erarbeiten, so auch für den Fall eines Defaults. Sie wissen, dass dieses Land in eine sehr ungewöhnliche Lage geraten ist, als es mit allen eine Restrukturierung seiner Schulden vereinbart hatte - mit Ausnahme eines sehr geringen Prozentsatzes an Gläubigern, und als das Land dann von dieser Minderheit angegriffen wurde, die sich an ein amerikanisches Gericht wandte, das dann beschlossen hat, dass Argentinien diesen Gläubigern „alles vollständig" zahlen muss, das heißt viel mehr, als jene Kopeken, für die sie die argentinischen Wertpapiere aufgekauft hatten. Ich möchte nicht ins Detail gehen.

Frage: Dabei war die Entscheidung des Gerichtes gerade in diesen Tagen ergangen.

Sergej Lawrow: Ja, im Vorfeld des BRICS-Summit. Dieses Thema war bei der „outrich"- Veranstaltung aktuell, an der die BRICS und die UNASUR-Länder teilgenommen haben. Argentinien ist mit voller Unterstützung der anderen Staaten dafür eingetreten, auf diesem Gebiet Ordnung zu schaffen, und auch dafür, dass Entscheidungen wie die Restrukturierung von Schulden souveräner Staaten nicht zu Geiseln irgendeines nationalen Gerichtssystems werden dürfen, dass sie ihm nicht zum Abverkauf übergeben werden, sondern dass derartige Entscheidungen aufgrund allgemein vereinbarter Regeln getroffen werden müssen.

Frage: Oder zumindest im Rahmen internationaler Organisationen.

Sergej Lawrow: Dies wird ein sehr akutes Thema auf dem Summit der „Gruppe der zwanzig" (G20) sein, der im November dieses Jahres in Australien stattfinden wird. Alle Mitglieder der UNASUR und die BRICS-Länder haben diese Initiative unterstützt, die darauf abzielt, ein allgemein annehmbares Herangehen abzustimmen.

Noch eine Sache. Die UNASUR-Länder haben beim Treffen mit den Präsidenten der BRICS-Länder die in Fortolese angenommene Deklaration begrüßt, in der neben den Finanz- und Wirtschaftskapiteln, die in dem Geiste formuliert wurden, von dem ich gerade eben gesprochen habe, auch sehr viel Material enthalten ist, das internationale Angelegenheiten betrifft. Eigentlich gibt es nicht einen einzigen ernsthaften Konflikt, der in diesem Dokument nicht erwähnt ist. Es ist nicht nur einfach eine Aufzählung – der Text wurde im Kontext der Suche nach Lösungen und Regulierungen in Afrika, im Nahem Osten, in Nordafrika, in Afghanistan und in anderen Regionen formuliert.

Die Präsidenten der BRICS-Länder haben den Außenministern und den Außenämtern insgesamt im Rahmen der Zusammenarbeit bei der UNO in bei anderen internationalen Strukturen aufgetragen, regelmäßig Handlungen zu koordinieren und Einschätzungen auszutauschen und nach Möglichkeit auch gemeinsame Initiativen zu erarbeiten. Das ist ebenfalls ein Schritt vorwärts. Wir haben auch vereinbart, dass sich die Botschafter der BRICS-Länder im Ausland regelmäßig treffen und einen Meinungsaustausch über die Lage in den Ländern pflegen werden, in denen sie akkreditiert sind. Das stellt auch eine ernsthafte und qualitative Vorwärtsbewegung im Rahmen unserer außenpolitischen Wechselwirkung dar.

Frage: Bedeutet das, dass die BRICS-Länder, die ja ihre Tätigkeit nicht als offizielle Struktur aufgenommen haben, sondern als informeller Staaten-Club, zuerst eine Finanz- und Wirtschaftsvereinigung geworden sind, und dass sie nun auch noch eine politische Gemeinschaft werden?

Sergej Lawrow: Soweit bekannt, ja. Wobei das qualitative „Heranreifen", das „Erwachsenwerden" und die „Mannwerdung" der BRICS-Länder in alle Richtungen vor sich geht. Auf finanziellem und wirtschaftlichem Gebiet ist dies in der Tätigkeit der „G20" zu sehen.

Es ist kein Geheimnis, dass unsere Partner in der „G 8" beschlossen haben, sich in diesem Format nicht mehr zu treffen, sie haben die „G 7" wieder aufleben lassen, die im Großen und Ganzen seinerzeit das „Schicksal der Welt" im Bereich der Finanzen und der Wirtschaft entschieden hat, jedoch jetzt nach der Bildung der „G 20" ihre entscheidende Rolle verloren hat, die zur „G 20" gewandert ist, und im Rahmen derer unsere westlichen Partner mit uns, mit den anderen BRICS-Ländern und mit den übrigen Staaten, die dieser Vereinigung angehören und den Großteil der führenden Zentren von Wirtschaftswachstum und Finanzkraft darstellen, Vereinbarungen treffen müssen. Die „G 7"-Länder versuchen im Format der „G 20" aktiv „diese Decke zu sich hinüber zu ziehen", insbesondere im Rahmen der Vorbereitungen auf den Summit in Australien in der Stadt Brisbane. Jene BRICS-Länder, die der „G 20" angehören, haben jedoch ziemlich viele Verbündete. Zum Beispiel solche Länder wie Argentinien, Mexiko und Indonesien sind in Fragen der Reform des internationalen Marktes und des Finanzsystems mit den BRICS-Ländern absolut solidarisch. Einer der zentralen Punkte auf der Tagesordnung des bevorstehenden Summit im November dieses Jahres in Australien ist übrigens die Forderung, dass die Vereinbarungen über eine Reform des Quotensystems im Internationalen Währungsfonds (sie wurden bereits im Herbst 2010 getroffen und werden jetzt von unseren westlichen Partnern strapaziert) trotz allem erfüllt werden. In dieser Situation werden die BRICS-Länder zusammen mit Gleichgesinnten, die ich bereits aufgezählt habe (es gibt auch noch andere Länder, die für dasselbe eintreten), durchsetzen, dass unsere Partner vertragsfähig sind.

Frage: Verstehe ich das richtig, dass sich die „G 20" in zwei Lager gespalten haben, in zwei Kerne – in die „G 7" und in die BRICS-Länder?

Sergej Lawrow: Die „G 20" haben seit Aufnahme ihrer Tätigkeit einerseits die traditionellen Wirtschaften des Westens repräsentiert, die entscheidende Positionen im internationalen Finanzsystem, beim Währungsfonds und bei der Weltbank inne haben. Andererseits waren dort wachsende junge Wirtschaften vertreten, Länder, die Finanzkraft angehäuft haben, mit der auch politischer Einfluss einhergeht. Es ist eine natürliche Situation, dass ein Kompromiss gesucht werden muss. Die Reform, die vor 4 Jahren beschlossen wurde, zielt auf ein stetes Ansteigen der Rolle der neuen, sich entwickelnden Märkte im Leitungssystem des IWF und der Weltbank ab. Diejenigen, die einstweilen die Mehrheit haben, versuchen sich dem zu widersetzen, obwohl sie keine wirtschaftlichen Grundlagen oder sonstige Argumente dafür haben. Ich wiederhole nochmals, die Beschlüsse wurden gefasst und sie sind zu erfüllen.


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