Interview des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, für Fernsehsender RBC am 16. März 2022 in Moskau
Frage: In Belarus wurde verhandelt, dann im Videoformat. Am 10. März sprachen Sie in Antalya mit dem Außenminister der Ukraine, Dmitri Kuleba. Wie schätzen Sie den Verhandlungsprozess ein?
Sergej Lawrow: Ich reiste in die Türkei, nicht um den weißrussischen Verhandlungs-Track „abzufangen“, den die Präsidenten Russlands und der Ukraine, Wladimir Putin und Wladimir Selenski, vereinbart haben. Dieser wird jetzt im Format von Videokonferenzen umgesetzt. Präsident Selenski bat den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, mit Präsident Putin zu sprechen, damit wir uns mit Dmitri Kuleba in Antalya treffen, denn wir beide planten Teilnahme am diplomatischen Forum in Antalya.
Angesichts dieses Treffens beauftragte mich Präsident Putin, an diesem Treffen teilzunehmen und mir anzuhören, was Dmitri Kuleba anzubieten hat (und ich bat ihn eben, das zu tun). Er erklärte, er sei nach Antalya gekommen, nicht um öffentliche Erklärungen zu wiederholen. Dann wurde es mir umso interessanter. Während dieses anderthalbstündigen Treffens, an dem sich auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu beteiligte, brachte Dmitri Kuleba keine neuen Ideen zum Ausdruck – trotz der mehrmaligen Anmerkungen, dass ich etwas hören wollte, was öffentlich nicht erklärt worden war. Naja, wir haben gesprochen, und das ist auch gut so. Wir sind auch künftig zu solchen Kontakten bereit. Es wäre nicht schlecht, zu verstehen, wie der Mehrwert solcher Kontakte wäre und wie die Initiativen zur Einrichtung von neuen Kooperationskanälen mit der Arbeit des nachhaltigen Verhandlungsprozesses (des „weißrussischen Kanals“) korrelieren.
Ich will nicht einzelne Details kommentieren – die sind ziemlich sensibel. Wie der Leiter der russischen Delegation, Wladimir Medinski, sagte, verhandelt man dabei über humanitäre Probleme, über die Situation „auf dem Boden“ aus der Sicht der Kampfhandlungen sowie über die politische Regelung. Die Tagesordnung ist ungefähr klar (sie wurde häufiger von Präsident Putin bei seinen ausführlichen Auftritten zum Ausdruck gebracht): Fragen der Sicherheit und der Menschenrettung im Donbass; Verhinderung einer Situation, in der die Ukraine für Russlands Sicherheit gefährlich wäre; Verhinderung der Situation, wenn in der Ukraine die in der ganzen Welt (auch im zivilisierten Europa) verbotene neonazistische Ideologie wiederauferstehen würde.
Ich richte mich an den Einschätzungen unserer Unterhändler. Sie stellen fest, dass die Verhandlungen schwierig verlaufen (aus verständlichen Gründen). Dennoch besteht eine gewisse Hoffnung auf Kompromisse. Ähnlich wird die Situation auch von einigen Vertretern der ukrainischen Seite, insbesondere von Mitarbeitern des Büros Wladimir Selenskis und auch vom Präsidenten der Ukraine selbst, eingeschätzt.
Frage: Präsident Selenski sagte, die Positionen Russlands und der Ukraine bei den Verhandlungen seien „realistischer“ geworden.
Sergej Lawrow: Das ist eine realistischere Einschätzung der Ereignisse seitens Wladimir Selenskis. Bis zuletzt hatte er konfrontationsorientierte Erklärungen gemacht. Wir sehen, dass diese Rolle bzw. Funktion dem Außenminister Dmitri Kuleba überlassen wurde. Er sagt jetzt, Russlands Forderungen seien „inakzeptabel“. Wenn man aber wieder eine neue Spannung im Informationsraum erzeugen will (als ob die aktuelle Spannung nicht genug wäre), was können wir denn damit tun?
Genauso war auch die Geschichte um die Minsker Vereinbarungen. Dmitri Kuleba gehörte damals zu den Vorreitern, die die Minsker Vereinbarungen in Stücke zerschlugen. Er erklärte öffentlich, dass man sie nicht erfüllen würde. Ich würde den Unterhändlern die Möglichkeit geben, in einer möglichst ruhigen Situation zu arbeiten, ohne eine neue Hysterie zu provozieren.
Frage: Präsident Selenski sagte, sie wären „adäquate Menschen“. Sie haben eingesehen, dass man sie in der Nato nicht mehr erwarte. Worauf lässt sich dieser Wechsel der Rhetorik zurückführen? Nato-Beitritt ist in einem Artikel der ukrainischen Verfassung verankert. Man sagte immer wieder, Kiew wolle wirklich Mitglied der Allianz werden.
Sergej Lawrow: Der Wechsel der Rhetorik ist damit verbunden, dass gerade diese Adäquanz sich „den Weg freimacht“ in die Gemüter der ukrainischen Führung. Die Frage über die Auflösung der Sowjetunion wurde damals spezifisch entschieden: Nicht alle wurden danach gefragt – die Entscheidung wurde praktisch zu dritt getroffen, und es wurden entsprechende Dokumente ausgefertigt. Dann entstand eine gewisse Einheit in Form der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Es ist ja gut, dass man damals wenigstens im Nachhinein den anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion den Respekt gezeigt hat.
In der Deklaration über die staatliche Souveränität der Ukrainischen Sowjetrepublik, die noch vor den im Białowieża-Urwald getroffenen Vereinbarungen verabschiedet worden war, stand bzw. steht schwarz auf weiß geschrieben, dass die Ukraine ein blockfreier und militärisch neutraler Staat sein sollte. In allen weiteren Dokumenten, die die Entstehung der ukrainischen Staatlichkeit prägten, wurde diese Deklaration unter den Grunddokumenten erwähnt. Nach dem verfassungswidrigen Staatsstreich im Februar 2014 wurde die ukrainische Verfassung mit neuen Thesen über die „unaufhaltsame“ Bewegung in Richtung Nato (neben der Europäischen Union) vervollkommnet. Das zerstörte die Einheit des bis dahin etablierten Prozesses und die Basisdokumente, auf die sich der ukrainische Staat stützt, denn die Deklaration über Souveränität und die Akte über den Ausruf der Unabhängigkeit der Ukraine werden nach wie vor zu den Dokumenten gezählt, die die Basis der ukrainischen Staatlichkeit bilden.
Das ist gar nicht der einzige Widerspruch. In der ukrainischen Verfassung bleibt die Bestimmung über die Notwendigkeit der Sicherung der Rechte der russischsprachigen und anderer nationalen Minderheiten unberührt. Dennoch werden massenweise Gesetze verabschiedet, die dieser Bestimmung der Verfassung direkt widersprechen. Sie diskriminieren grob ausgerechnet die russische Sprache – wider alle europäischen Normen.
Wir wissen ja noch, dass Präsident Selenski vor kurzem selbst sagte, die Nato sollte den Himmel über der Ukraine „schließen“ und einen Krieg auf der Seite der Ukraine beginnen, dass Söldner angeheuert werden sollten, damit sie an die Front ziehen. Das wurde aggressiv formuliert. Die Reaktion der Nordatlantischen Allianz, wo es immer noch vernünftige Personen gibt, hat ihn etwas abgekühlt. Die Adäquanz der aktuellen Situation verdient es, begrüßt zu werden.
Vor der endgültigen Entscheidung für die militärische Sonderoperation hatte Präsident Putin auf seiner Pressekonferenz im Kreml unsere Initiativen bezüglich der Sicherheitsgarantien in Europa erwähnt und erläutert, dass es unzulässig ist, dass die Sicherheit der Ukraine durch ihre Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz gesichert wäre. Er sagte direkt, dass wir bereit sind, nach allen möglichen Wegen zur Förderung der Sicherheit sowohl der Ukraine als auch der europäischen Länder und auch Russlands zu suchen – außer der Nato-Erweiterung in den Osten. Die Allianz beteuert uns: „Ihr braucht keine Angst zu haben, wir sind eine defensive Allianz, euch und eure Sicherheit bedroht nichts.“ Die Verteidigungsallianz wurde gleich nach ihrer Gründung als solche ausgerufen. Während des Kalten Kriegs war klar, wer, wo und gegen wen sich wehrte. Sagen wir so: Es gab die Berliner Mauer – aus Beton gebaute, aber auch geopolitische. Alle akzeptierten diese Trennungslinie: der Warschau Vertrag und die Nato. Es war klar, welche Linie die Nato verteidigen würde.
Als aber der Warschauer Vertrag und dann auch die Sowjetunion verschwand, begann die Nato die Osterweiterung – willkürlich, ohne jegliche Beratungen mit den Kräften, die zuvor die andere Seite der Kräftebilanz auf dem europäischen Kontinent gebildet hatten. Und jedes Mal wurde diese „Verteidigungslinie“ immer weiter nach rechts verschoben. Als diese Linie praktisch unsere Grenzen erreichte (unsere Einwände hatte man in den vergangenen 20 Jahren nie ernst genommen), traten wir mit unseren Initiativen zur europäischen Sicherheit auf, die aber von unseren hochmütigen leider ebenfalls ignoriert wurden.
Frage: Viele Menschen fragen sich sowohl in Russland als auch in der Ukraine: Warum konnte diese Situation nicht friedlich gelöst werden? Warum ist das nicht gelungen? Warum war ausgerechnet die Sonderoperation nötig?
Sergej Lawrow: Weil der Westen diese Situation friedlich nicht regeln wollte. Ich sagte das schon, muss aber wieder betonen: Es geht gar nicht um die Ukraine. Lange nicht mehr um die Ukraine, sondern vielmehr um die Weltordnung.
Die USA haben sich das gesamte Europa untergeordnet. Jetzt sagen uns manche Europäer: Ihr habt euch so benommen, und Europa hatte „besondere Interessen“ bezüglich der USA, und jetzt haben wir sie gezwungen, „sich zu vereinigen“. Meines Erachtens ist etwas ganz anderes passiert. Die USA haben unter Präsident Biden die Aufgabe gestellt, sich Europa zu unterordnen, und haben es auch erreicht, dass es dem von den USA bestimmten Kurs ohne jegliche Einwände folgt. Das ist ein schicksalhafter Moment in der modernen Geschichte, denn er widerspiegelt in einem sehr umfassenden Sinn die „Schlacht“ um die künftige Weltordnung.
Der Westen hat schon vor vielen Jahren auf den Begriff „Völkerrecht“ verzichtet, der in der UN-Charta verankert ist, und erfand den Begriff „Weltordnung auf Basis von Regeln“. Diese Regeln wurden von einer Handvoll von Staaten bestimmt, und diejenigen, die sie akzeptierten, lobte der Westen. Gleichzeitig wurden enge, nichtuniversale Strukturen gebildet, die in den Bereichen handeln, in denen es universale Strukturen gibt. Es gibt die UNESCO, aber es wurde gleichzeitig eine gewisse internationale Partnerschaft für Unterstützung von Information und Demokratie gebildet. Es gibt das humanitäre Völkerrecht und die UN-Sonderverwaltung für Angelegenheiten der Flüchtlinge und damit verbundene Fragen, aber in der Europäischen Union wurde eine Sonderpartnerschaft gebildet, die sich mit denselben Frage beschäftigt, allerdings ausgehend davon, dass Entscheidungen auf Basis der Interessen der Europäischen Union und ohne Rücksicht auf universale Prozesse getroffen werden.
Frankreich und Deutschland arbeiten gerade an einer Allianz der Multilateralisten. Auf unsere Frage, wozu diese nötig wäre, wenn die UNO (die am meisten legitime und universale Organisation) die Multilateralität verkörpert, bekamen wir eine interessante Antwort: „Wisst Ihr, da gibt es viele Rückwärtsgewandte, und wir sind Avantgardisten. Wir wollen den Multilateralismus voranbringen, damit uns niemand bremst.“ Auf die Frage, wie die Ideale des Multilateralismus sind, sagte man uns: „Das sind die Werte der Europäischen Union.“ Das ist Hochmut – das falsche Gefühl der eigenen endlosen Überlegenheit, und es bedrückt auch die Situation, über die wir gerade sprechen: Der Aufbau einer Welt, in der der Westen ungestraft und widerspruchslos das Sagen haben würde. Es wird jetzt viel darüber geredet, dass Russland gerade deshalb so stark unter Druck gesetzt wird, weil es im Grunde die letzte Hürde auf diesem Weg ist, die man überwinden muss, um sich dann mit China auseinanderzusetzen. Das ist ganz schlicht ausgedrückt, aber im Grunde ist das wahr.
Sie haben gefragt, warum die Situation nicht friedlich gelöst werden konnte. Wir plädierten dafür seit Jahren. Präsident Putins Initiativen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 wurden schon damals von vielen objektiven Politikern (amerikanischen und europäischen) ziemlich ernst wahrgenommen. Aber leider wurde sie von den westlichen Entscheidungsträgern ignoriert. Ähnlich wurden auch zahlreiche politologische Einschätzungen der führenden amerikanischen („Foreign Policy“, „Foreign Affairs“) und europäischen Fachmagazine, Politologen ignoriert, die in der ganzen Welt bekannt sind. Und 2014 kam es zum Staatsstreich. Der Westen unterstützte bedingungslos die Ukraine, die Putschisten, die in Kiew an die Macht gekommen waren. Er weigert sich vehement, einen gewissen Rahmen in den Beziehungen zwischen der Nato und dem russischen Interessenraum zu bestimmen. Diese Warnungen gab es auch, aber sie wurden, gelinde ausgedrückt, nicht berücksichtigt.
Lesen Sie einmal Zbigniew Brzezinski, der noch in den 1990er-Jahren sagte, das Ukraine-Problem würde das Schlüsselproblem werden. Dabei erklärte er offen, dass Russland bei einer befreundeten Ukraine eine Großmacht wäre, bei einer feindseligen Ukraine aber ein regionaler Akteur. Da liegt nämlich die Geopolitik begraben. Die Ukraine spielte lediglich die Rolle eines Instruments dafür, dass Russland keine Möglichkeit hat, seine legitimen und gleichberechtigten Interessen in der internationalen Arena zu verteidigen.
Frage: Ich habe vor kurzem einen Auftritt des jetzigen ukrainischen Präsidentenberater Alexej Arestowitsch gesehen. Vor ein paar Jahren sagte er, der neutrale Status wäre für die Ukraine viel zu teuer: „Wir können es uns nicht leisten.“ Wie schätzen Sie diese Erklärung ein? Stimmt das? Wenn wir wieder das Thema erwähnen, das auch für einfache Ukrainer wichtig ist – die Sicherheitsgarantien: Wozu wäre Russland bereit? Welche Garantien wären möglich?
Sergej Lawrow: Der neutrale Status wird gerade im Kontext der Sicherheitsgarantien ernsthaft diskutiert. Das ist eben das, was Präsident Putin auf einer von seinen Pressekonferenzen sagte: Alle Varianten wären möglich, alle allgemein annehmbaren Sicherheitsgarantien für die Ukraine und alle Länder (auch für Russland) außer der Nato-Erweiterung. Das wird eben bei den Verhandlungen besprochen. Da gibt es konkrete Formulierungen, die meines Erachtens bald vereinbart werden könnten.
Frage: Können Sie sie nennen? Oder vorerst nicht?
Sergej Lawrow: Ich würde das im Moment lieber nicht tun. Denn der Verhandlungsprozess geht weiter. Wir bemühen uns im Unterschied zu manchen unseren Partnern um die Bewahrung der Kultur diplomatischer Verhandlungen, obwohl wir manchmal gezwungen waren, Dokumente zu veröffentlichen, die normalerweise vertraulich sind. Das mussten wir in Situationen tun, wenn unsere Kontakte mit unseren deutschen und französischen Partnern im „Normandie-Format“ entstellt und zu 180 Grad gedreht wurden. Dann mussten wir diese Dokumente veröffentlichen, damit die Weltgemeinschaft sozusagen „ihre Helden kennenlernen könnte“. Jetzt gibt es im Kontext der Besprechung der Garantien für die Neutralität der Ukraine keine solchen provokanten Versuche. Die sachliche Einstellung, die sich gerade allmählich abzeichnet und hoffentlich auch die Oberhand gewinnen wird, gibt uns die Hoffnung darauf, dass wir zu diesem Thema konkrete Vereinbarungen treffen können. Aber es ist ja klar, dass es schon ein wichtiger Schritt nach vorne wäre, wenn man einfach die Neutralität und auch die Garantien verkünden würde. Das Problem ist aber umfassender. Wir sprachen es unter anderem aus der Sicht der erwähnten Werte an: russische Sprache und Kultur, Meinungsfreiheit, denn russische Massenmedien sind einfach verboten, und ukrainische russischsprachige Medien wurden geschlossen.
Frage: Aber man könnte uns doch immer sagen: „Wir sind ein unabhängiges Land und können selbst entscheiden, welche Sprache wir sprechen. Warum wollt Ihr – Russland bzw. Moskau – uns hinweisen, dass wir Russisch sprechen sollten?“
Sergej Lawrow: Weil es die europäischen Verpflichtungen der Ukraine gibt. Es gibt die Europäische Charta regionaler Sprachen und der Sprachen nationaler Minderheiten. Es gibt etliche andere Verbindlichkeiten, insbesondere im Europarat, aus dem wir gerade austreten (das wurde schon offiziell verkündet). Aber wir werden nie unsere Verpflichtungen aufgeben, die die Rechte der nationalen Minderheiten angehen – die sprachlichen, kulturellen und alle anderen. Wir werden nie aus Dokumenten „aussteigen“, die den freien Zugang zu Informationen garantieren.
In den 1990er-Jahren hatten ja alle erwartet, dass die Situation dem Westen bedingungslos gehorchen würde. Damals taten wir unser Bestes, um zu zeigen, dass die „Perestroika“ und die neue Denkweise ein prinzipiell neues Kapitel in der Geschichte unseres Staates eröffneten. Wir unterzeichneten in der OSZE alles, was uns der Westen anbot, auch die damals vom Westen initiierte und von uns befürwortete OSZE-Deklaration über freien Zugang zu Informationen sowohl innerhalb jedes einzelnen Landes als auch zu grenzüberschreitenden Quellen. Und jetzt können wir den Westen nicht dazu zwingen, dass man dort diese Verpflichtung (die man selbst initiiert hat) erfüllt.
Diese Forderung bezüglich der russischen Sprache ist in den Verpflichtungen verankert. Die Ukraine hat sie doch nicht aufgegeben, nicht wahr? Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn man in Finnland die schwedische Sprache verbieten würde? Dort sprechen sechs Prozent der Bevölkerung Schwedisch – das ist eine zweite Landessprache! Oder wenn man in Irland Englisch verbieten würde und in Belgien Französisch – diese Liste ließe sich fortsetzen. Aber diese Sprachen der Minderheiten werden respektiert, egal ob sie einen „Mutterstaat“ haben oder nicht. Aber in unserem Fall wird eine Ausnahme gemacht. Das ist eine direkte Diskriminierung, und dieses ganze „aufgeklärte“ Europa schweigt einfach.
Frage: Warteten wir nicht darauf, dass wir aus dem Europarat ausgeschlossen werden, und traten selbst aus? Warum?
Sergej Lawrow: Dieser Beschluss war eigentlich schon vor langem getroffen worden. Nicht weil unsere Rechte da mal beschränkt, mal wieder zurückgegeben wurden, sondern weil diese Organisation sich vollständig degradierte. Sie wurde als eine gesamteuropäische Organisation, wo ausnahmslos alle Länder Europas vertreten sind, außer Belarus, das zum Beobachter erklärt wurde, ins Leben gerufen. Wir halfen Belarus umfassend dabei, an einzelnen Übereinkommen teilzunehmen (das ist im Europarat zulässig). Im Ganzen erwog Belarus die Möglichkeit eines Beitritts.
Doch in den vergangenen Jahren verwandelte sich der Europarat in eine weitere OSZE (Entschuldigung für ein grobes Wort), wo die ganze ursprüngliche Idee, die Idee des Zusammenwirkens, Konsens, als Hauptinstrument beim Erreichen der Aufgabe der gesamteuropäischen Zusammenarbeit und Sicherheit, durch Polemik, Rhetorik ersetzt wurde, die immer mehr russlandfeindlich wurde und von einseitigen Interessen des Westens, vor allem Länder der Nato und der EU bestimmt wurde. Sie nutzten ihre mechanische Mehrheit in der OSZE und Europarat, wo die Kultur von Konsens, Kompromiss gebrochen wurde, die Abstimmung zu den Beschlüssen aufgedrängt wurde, die ausschließlich ihre Position widerspiegelte, womit zu verstehen gegeben wurde, dass sie unsere Interessen überhaupt nicht berücksichtigen wollen, und nur daran interessiert sind, uns Leviten zu lesen, womit sie sich auch befassten.
Wir waren schon lange her bereit, auszutreten, doch die jüngsten Ereignisse und der Beschluss, der durch Abstimmung aufgedrängt wurde, bewegte uns zum Austritt. Die Parlamentarische Versammlung begann etwas dem Ministerausschuss zu empfehlen, und er stimmte für die Blockierung unserer Rechte ab. Sie sagten uns: Machen sie sich keine Sorgen, sie können nur an den Sitzungen nicht teilnehmen, und das Geld kann in den Haushalt gezahlt werden. Das wurde uns direkt gesagt.
In der Erklärung des Außenministeriums wurde hervorgehoben, dass keine Garantien der Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (wir treten daraus ebenfalls aus, das ist ein unabdingbarer Teil des Ausstiegs aus dem Europarat) festgeschrieben sind, beeinträchtigt und verletzt werden. Erstens haben wir Verfassungsgarantien, die sich aus den internationalen Übereinkommen ergeben, wo Russland beteiligt ist. Das sind universelle Übereinkommen: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale Rechte (wo die USA nicht beteiligt sind), Internationale Kinderrechtskonvention (die USA sind da auch nicht beteiligt) und viele andere Akte, die jetzt in die Gesetzgebung schon bedeutend implementiert sind. Jetzt sehen unsere Anwälte zusammen mit dem Verfassungsgericht, Justizministerium, welche Ergänzungen da in die russische Gesetze aufgenommen werden können, damit der Austritt aus dem Europarat sich auf die Rechte der Staatsbürger gar nicht auswirkt.
Frage: Es gibt einige Länder, die jetzt dabei helfen, zumindest irgendwelchen Dialog zwischen Moskau und Kiew aufzunehmen. Es gab Frankreich, nun – Israel, und der Außenminister der Türkei, Mevlüt Cavusoglu kommt heute nach Moskau. Die Türkei ist auch aktiv. Warum zeigte sich gerade diese Troika dabei so aktiv?
Sergej Lawrow: Das sind nicht die einzigen Aktivisten, die ihre Dienstleistungen anbieten. Russlands Präsident sprach mit dem Vorsitzenden des Europäischen Rats, Charles Michelle. Er hatte Kontakte mit dem Bundeskanzler Deutschlands, Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Premier Israels Naftali Bennett. An mich wenden sich ab und zu Kollegen aus anderen Ländern. Unter anderem die Schweiz, die sich traditionell als ein Land positioniert, wo Kompromisse erreicht werden, ist bereit, eine Vermittlerrolle zu übernehmen.
Unter jetzigen Bedingungen ist es etwas merkwürdig, über Vermittlungsdienste seitens jener zu hören, die sich beispiellosen Sanktionen gegen Russland anschlossen und es direkt zum Ziel setzen (sie genieren sich schon nicht und sagen offen), das russische Volk gegen die russischen Behörden zu hetzen. Die Vorschläge über Vermittlung seitens der Länder, die sich weigern, dieses russlandfeindliches Spiel zu spielen, die Ursachen der jetzigen Krise verstehen, dass es um indigene, legitime nationalen Interessen der Russischen Föderation geht, und sich diesem Sanktionskrieg nicht anschließen, werden von uns natürlich positiv wahrgenommen. Wir sind bereit, sie zu analysieren. Zu solchen Ländern gehören Israel und die Türkei.
Frage: Kommen diese mit Vorschlägen – wollen wir dabei helfen, einen Dialog zu organisieren? Oder wie läuft das?
Sergej Lawrow: Das läuft unterschiedlich. Ich kann jetzt nicht in Details eingehen, doch die beiden wollen beim Erreichen der Einigung bei Verhandlungen, die auf dem belarussischen Kanal erfolgen, helfen. Sie wissen, in welchem Zustand die Verhandlungen sind, welche Vorschläge auf dem Tisch liegen, wo es bereits Annäherung der Positionen gibt. Sie bemühen sich aufrichtig, solche Annäherung zu beschleunigen. Wir begrüßen das zwar, doch ich würde nochmals betonen, dass am wichtigsten ein direkter Dialog zwischen der russischen und ukrainischen Delegation und die Lösung von prinzipiellen Fragen ist, die nicht nur mit der Gewährleistung der physischen Sicherheit der Menschen im Osten der Ukraine und in anderen Teilen der Ukraine verbunden sind, sondern auch mit der Gewährleistung ihres normalen Lebens im Lande, das die Rechte jener gewährleisten muss, die als nationale Minderheiten bezeichnet werden, die massiv verletzt wurden.
Wollen wir nicht an die Aufgaben der Demilitarisierung vergessen. Es kann in der Ukraine nicht Waffen geben, die Bedrohungen für die Russische Föderation darstellen. Wir sind bereit, die Waffentypen zu vereinbaren, die für uns keine Bedrohung darstellen. Dieses Thema soll sogar unabhängig vom Nato-Aspekt der Situation gelöst werden. Ohne jegliche Nato-Mitgliedschaft können die USA oder irgendwo noch Angriffswaffen an die Ukraine im bilateralen Format liefern. Wie sie das mit den Raketenabwehrstützpunkten in Polen und Rumänien machten. Die Nato wurde dort dabei nicht gefragt. Wollen wir daran nicht vergessen, dass es wohl das einzige Land in der OSZE, in Europa ist, das das Recht der Neonazis auf die Durchsetzung ihrer Ansichten und Praktiken auf Gesetzesebene festlegt.
Das sind prinzipielle Fragen. Ich hoffe, dass das Begreifen ihrer Legitimität, Begründetheit und wichtigster Bedeutung für unsere Interessen und also auch für die Interessen der gesamteuropäischen Sicherheit es jenen, die aus guten Wünschen gute Dienstleistungen bieten, ermöglichen wird, entsprechende Kompromisse und bei Kontakten mit der ukrainischen Seite zu fördern.
Frage: Wir nannten jetzt einige Länder, die bei der Regelung dieser Krise helfen. Haben die USA in diesem Zusammenhang irgendwelche Dienstleistungen angeboten – „Wollen wir dabei helfen, den Kontakt aufzunehmen“? Denn es ist kein Geheimnis, dass die Beziehungen Russlands und der USA auf einem sehr niedrigen Niveau waren. Sind sie jetzt also auf dem tiefsten Punkt, oder?
Sergej Lawrow: Es gibt so eine Metapher. Ja, so etwas hatte es nie gegeben. Ich kann mich nicht an solche absolut wütende Politik erinnern, die jetzt von Washington umgesetzt wird. In einem bedeutenden Ausmaß wird sie im Kongress generiert, wo man das Gefühl der Realität verloren hat und alle Formalitäten zur Seite schiebt, geschweige denn diplomatisches Ansehen, das schon lange her aufgehoben wurde.
Die USA spielen natürlich eine entscheidende Rolle bei der Festlegung der Position der Kiewer Behörden. Sie hatten seit vielen Jahren eine riesengroße „Vertretung“ in den „Machtkorridoren“ in Kiew, darunter in Sicherheitsdiensten, in der Sicherheitsbehörde, in der Armeeführung. Alle wissen das, dort liegen Vertretungen von CIA und anderen US-Sicherheitsdiensten.
Sie und andere Nato-Mitglieder (Kanadier, Briten) schickten hunderte ihre Ausbildner zur Vorbereitung der Kampfeinheiten nicht nur für die Streitkräfte der Ukraine, sondern auch so genannte Freiwilligenbataillone, darunter Asow, Aidar. Noch vor sieben bzw. acht Jahren, sofort nach dem Staatsstreich, noch 2014, wurde das Asow-Bataillon offiziell aus allen Listen der Empfänger der US-Hilfe gestrichen. Gerade weil es als Extremisten- bzw. Terroristenorganisation galt. Jetzt wurden alle Formalitäten beseitigt.
Jeder Mensch, Struktur in der Ukraine, die Russland zu ihrem Feind erklärt, wir sofort unter Schutzherrschaft der Schutzherren im Westen und in den USA genommen.
Es wird über die Rechtshoheit, Demokratie gesprochen. Um welche Rechtshoheit geht es, wenn die EU als Verstoß gegen eigenes gesetzgebendes Dokument über die Unzulässigkeit der Waffenlieferungen in Konfliktzonen einen entsprechenden Beschluss trifft, um das Gegenteil zu machen und Offensivwaffen an die Ukraine zu schicken?
Wir sehen bei den USA kein Interesse an der schnellstmöglichen Konfliktregelung. Hätte es das gegeben, haben sie alle Möglichkeiten. Erstens, den ukrainischen Verhändlern und dem Präsidenten Wladimir Selenski erklären, dass man nach Kompromissen suchen soll. Zweitens, sie verstehen die Legitimität unserer Forderungen, Positionen, wollen sie aber nicht akzeptieren nicht weil sie illegal bzw. illegitim sind, sondern weil sie Dominanz in der Welt haben und sich nicht mit Verpflichtungen bezüglich der Berücksichtigung der Interessen der Anderen beschränken wollen. Sie unterdrückten Europa, ich habe das schon erwähnt.
Die USA sagten seit vielen Jahren Europa, dass Nord Stream 2 ihre Energiesicherheit verletzt. Europa antwortete, dass sie das selbst klären sollen. Es wurde der Beschluss getroffen, Unternehmen investierten Milliarden Euro. Die Amerikaner behaupteten, dass es den Interessen der EU widerspricht. Es wurde ihnen vorgeschlagen, ihr Flüssiggas zu kaufen. Wenn es keine Aufnahme-Terminals gibt, müssen sie noch gebaut werden. Die Deutschen erzählten mir das vor einigen Jahren. Das war noch unter Präsident Donald Trump. Europa beschwerte sich darüber, dass es den Gaspreis für Verbraucher deutlich erhöhen würde. Donald Trump sagte, sie seien doch reiche Kerle und würden den Unterschied aus dem deutschen Haushalt kompensieren. So ein Herangehen.
Jetzt wurde Europa auf seinen Platz verwiesen. Dass Deutschland im Ergebnis sagte, dass es eine Pause einlege – das zeigt eindeutig den Platz Deutschlands und ganz Europas in den Verhältnissen, die die Amerikaner jetzt in der internationalen Arena aufbauen.
Frage: Ist Deutschland unter dem neuen Bundeskanzler weniger selbstständig geworden? Wäre das Verhalten unter Angela Merkel gleich gewesen?
Sergej Lawrow: Die Einstellung von Nord Stream 2, auch wenn es sich um zeitweiligen Charakter dieser Einstellung ging, ereignete sich unter dem neuen Bundeskanzler. Ich hoffe, dass mit der Erfahrung auch das Begreifen der Notwendigkeit, eigene nationale Interessen zu verteidigen, kommt statt sich nur auf den Partner aus der Übersee zu stützen, der für dich alles entscheiden und alles machen wird. Es ist klar, dass auf dem deutschen Territorium sich sehr viele US-Truppen befinden – das ist auch ein Faktor, der sich auf die Selbstständigkeit beim Treffen der Entscheidungen auswirkt.
Jetzt tauchen Artikel auf, dass die „Politik des Gedenkens“ verschwindet. Sie galt in Deutschland immer als heilig und bedeutete, dass das deutsche Volk nie an die Leiden vergessen wird, die er während des Zweiten Weltkriegs, vor allem, den Völkern der Sowjetunion brachte. Als ich das las, verstand ich, dass viele das bemerkten. Das sind offene Artikel. Darüber sprechen sowohl deutsche, als auch unsere Politologen. Vor einigen Jahren sah ich etwas, was wohl der Keim dieser Tendenz wurde. Wir hatten Konsultationen mit den Deutschen zwischen Ministerien und anderen Diensten (ich rede jetzt über außenpolitische Verhandlungen) auf verschiedenen Ebenen – Leiter der Abteilungen, Vizeaußenminister. Auf der Ministerebene habe ich das nicht bemerkt. Der Gedanke, der uns während der Verhandlungen übermittelt wurde: „Wir, die Deutschen, haben schon alles abgerechnet und schulden nichts mehr jemandem. Hören sie damit auf, uns darauf hinzuweisen“.
Bezüglich der Deutschen gibt es ein interessantes Ding. Wir sprechen jetzt viel über Merkmale des Genozids, Diskriminierung nach dem Rassenmerkmal. Die Blockade von Leningrad. Im Laufe von vielen Jahren stellte ich bei Gesprächen mit allen meinen Kollegen, beginnend mit Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle, Heiko Maas und jetzt Annalena Baerbock beharrlich das Thema der Zahlungen für jene, die Einwohner des Blockade-Leningrads. Die Bundesregierung führte zweimal diese Zahlungen aus, aber ausschließlich für die Personen jüdischer Nationalität. Wir fragten: Warum nur an Juden? Und was mit Russen, Tataren – in Leningrad wohnten und wohnen weiter viele ethnische Gruppen. Viele von ihnen leben noch. Wie sollen sie das wahrnehmen, dass sie zusammen Galoschen kochten, Kinder begruben, Leichen mit Schlitten ausführten und jetzt, weil jene Juden waren, bekamen sie irgendwelche Hilfe von der deutschen Regierung? Das ist kein riesengroßes Geld. Doch erstens, es ist für viele von Bedeutung, zweitens, es ist ein Merkmal der Anerkennung davon, dass sie alle litten. Die Antwort war interessant. Die Juden seien angeblich die Opfer von Holocaust. Auf andere dehnt sich das nicht aus, weil sie keine Holocaust-Opfer waren. Unsere Versuche, die deutschen Gesetzgeber, Politiker zum Thema, dass die Blockade von Leningrad eine einmalige „Geschichte“ des Zweiten Weltkriegs ist, in der niemand einander in Juden, Russen und andere Vertreter ethnischen Gruppe teilte, zu erreichen, führten zu nichts. Wir wenden uns an jüdische Organisationen. Für sie ist das ebenfalls die Frage der Ehre. Jetzt werden wir diese Arbeit fortsetzen. Im Januar war es der weitere Jahrestag der Aufhebung der Blockade von Leningrad. Russlands Präsident unterzeichnete einen Erlass über Einmalzahlungen an alle Bewohner des Blockade-Leningrads, darunter Juden. In Deutschland erwacht das Gewissen wohl noch nicht.
Frage: Die Frage, die alle sich selbst stellen. Werden die Ereignisse in der Ukraine und das ukrainische Volk im Ganzen nicht mehr von Russland abkehren?
Sergej Lawrow: Wir hatten nie Ansprüche gegenüber dem ukrainischen Volk. Ich persönlich habe viele Freunde, die Ukrainer sind. Ich liebe die ukrainische Kultur, diese Sanftheit der ukrainischen Sprache, Küche, Humor, der immer etwas mit Selbstironie ist, oft die für den ukrainischen Charakter typische Listigkeit aufdeckt. Ich bin überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit unserer Staatsbürger keine Probleme und Ansprüche zum ukrainischen Volk hat, ebenso wie das ukrainische Volk nie Ansprüche gegen Russland hatte. Es wurde damit begonnen, das ukrainische Volk gegen Russen aufzuhetzen.
Das begann noch lange vor dem Staatsstreich, kurz nach der Unabhängigkeit. Die Akteure auf dem großen Schachbrett, wie Zbigniew Brzeziński sahen in der Ukraine ein Mittel, um zu verhindern, dass Russland seinen Einfluss wiedererlangt, wie es im Russischen Reich und dann in der Sowjetunion war, es sollte ein regionaler Akteur mittleren Niveaus gemacht werden. Dieser Kurs wurde aufgenommen. Es wurden Tendenzen zur Glorifizierung der Radikalen, ukrainischen Nationalisten hin bis zu Schuchewitsch und Bandera, die zu Nationalhelden erklärt wurden, genommen. Das ereignete sich später, doch der Boden wurde fast sofort, seit Beginn der 1990er-Jahre vorbereitet. Die Wahlen am Anfang der 2000er-Jahren (als der erste „Maidan“ stattfand), brachten das Wesen der westlichen Politik ans Licht. Der Außenminister Belgiens Didier Reynders der dann EU-Kommissar war, sprach öffentlich vor den Wahlen, dass das ukrainische Volk entscheiden soll, mit wem es ist – mit Europa oder mit Russland. Diese „Entweder-Oder“-Politik verschwand nicht, darunter bei öffentlichen Handlungen der EU. Sie schufen das Programm „Östliche Partnerschaft“, wohin die Ukraine, Moldawien, Belarus und drei Transkaukasien-Republiken eingeladen wurden. Es wurde gefragt (damals hatten wir Beziehungen zur EU): was soll damit gemacht werden, dass alle diesen sechs Länder tiefe Verbindungen zu Russland haben – nicht nur kulturelle, sprachliche und historische, humanitäre, im Bereich Bildung, sondern auch wirtschaftliche – ein einheitliches Wirtschaftssystem? Sollen die Europäer vielleicht in ihren Bestrebungen, die Partnerschaft mit ihnen zu erweitern, berücksichtigen, dass es zusammen gemacht werden kann, damit es nicht „Entweder-Oder“-Politik, Verteidigungslinie oder Offensivlinie bezüglich der Nato gibt. Uns wurde ziemlich arrogant gesagt, dass es uns nicht betrifft.
Genau so hat die ukrainische Führung im Jahr 2013, im Jahr vor dem Maidan, dem Staatsstreich, als die Ukraine sich zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU bewegte, beim Gipfel im November 2013 (unter Viktor Janukowitsch) als Antwort auf unsere zahlreiche Bitten gezeigt, worum es geht. Zuvor wurde uns das nicht gezeigt. Und das beim Vorhandensein einer Freihandelszone in der GUS. Als wir das sahen, sagten wir – wissen sie, ihre Verpflichtungen in der Freihandelszone der GUS und unsere Verpflichtungen – das sind Nulltarife zwischen uns bei der überwiegenden Mehrheit der Waren. Mit der EU hatten wir (Russland) nach 18 Jahren Verhandlungen über WTO-Beitritt einen bedeutenden Tarifschutz in Höhe von 15-20 Prozent (für ziemlich lange Zeit) in mehreren Bereichen: Bankensektor, Versicherung, Landwirtschaft (für eine gewisse Zeit, aber es gab sie damals). Und sie, ukrainische Freunde, machen Nulltarife mit der EU, wie mit uns. Dann werden sie einen freien Raum aus Europa nach Russland über das ukrainische Zoll-Gebiet bekommen. Wir werden gezwungen sein, an der Grenze mit ihnen einen Tarifschutz zu stellen. Es wurde vorgeschlagen, umgehend dreiseitige Verhandlungen durchzuführen – Russland, Ukraine und EU-Kommission. Der damalige EU-Kommissionschef Jose Manuel Barroso sagte, dass es uns nicht betrifft, dass sie in unsere Handelsbeziehungen zu China oder Kanada sich nicht einmischen. So wurde es gesagt.
Viktor Janukowitsch verstand die Schädlichkeit solcher Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft und bat die EU um Zeit, um das zu verschieben und sehen, wie man die unvermeidlichen negativen Folgen reduzieren kann. Dann gaben sie den Befehl „fass“, und der Maidan begann.
Frage: Ich möchte zu Russland fragen. Viele haben das Gefühl, dass jetzt alle gegen uns sind. Sind Länder geblieben, die uns unterstützen? Gibt es sie?
Sergej Lawrow: Es gibt sie. Es ist eigentlich die Mehrheit. Ich will nicht irgendwelche unhöfliche Begriffe gebrauchen, doch der Druck, unter dem sie stehen, ist beispiellos. Ich konnte mich so etwas nie vorstellen. Ich wusste, dass die Amerikaner zu vielem bereit sind, um unter jetzigen Bedingungen keine positiven Änderungen in Richtung einer wahren multipolaren, gleichberechtigten Welt zuzulassen. Doch dass sie sich mit solcher schmutzigen Arbeit, die für die Großmacht unwürdig ist, befassen werden, konnte ich mir selbst im Alptraum nicht vorstellen. Der US-Botschafter jedes Landes hat tägliche Anweisung, die Anführer der Aufenthaltsländer einzuschüchtern – handeln sie nicht mit Russland, kaufen sie nichts bei Russland, verkaufen sie nichts an Russland, verzichten sie auf russische Investitionen, sprechen sie nicht mit Russland, schicken sie da keine Minister, Delegationen. Das ist kein Scherz. Das erzählen mit meine Freunde.
Das begann nicht jetzt. Das alles ist nicht wegen der Ukraine. Vor einigen Jahren reiste der US-Außenminister Mike Pompeo durch Afrika. In jedem afrikanischen Land sagte er öffentlich auf Pressekonferenzen: wir rufen sie, liebe afrikanische Freunde, dazu auf, mit Russland und China nicht zu handeln und keine Investitionen zu bekommen – sie machen alles mit eigennützigen Zielen. Und wir, Amerikaner, tragen ihnen Demokratie, Marktfreiheit. Das war lange vor den jetzigen Ereignissen. Noch erstaunlicher ist, dass solche Erpressung auch gegenüber solchen alten Zivilisationen wie China, Indien, Ägypten angewendet wird. Auch gegenüber der Türkei wurden Forderungen gestellt. Jetzt wird aber gesagt – lassen sie S-400-Komplexe, drehen sie nur Russland den Sauerstoff ab. Das ist unwürdig für eine Großmacht. Jen Psaki sagte, dass China verstehen soll, dass sie es nicht verzeihen werden, wenn es jetzt Russland unterstützen wird. Wie kann man sich zum großen Volk verhalten?
Frage: China reagiert ziemlich scharf auf diesen Druck.
Sergej Lawrow: Ja, aber die Frechheit, die aus Washington kommt, ist extrem groß. Das wird nicht in Vergessenheit geraten. Die Situation wird sich jedenfalls normalisieren. Es erscheinen schon Artikel in der westlichen Presse, darunter deutscher. Viele machen sich schon Gedanken darüber, ob sie in US-Dollar so umfangreich handeln sollen. Saudi-Arabien will schon in Yuan statt US-Dollar. Dieser Prozess kann nicht gestoppt werden. Wladimir Putin sagte mehrmals, dass die Amerikaner mit der Lösung der momentanen, konjunkturbedingten Aufgaben, sie zwar politisch wichtig sind, langfristig den Zweig abschneiden, auf dem sie sitzen. Die Rolle des US-Dollars wird zurückgehen. Das Vertrauen in den Dollar sinkt bedeutend.
Frage: Das Vertrauen sinkt unter anderem, weil viele verstehen: Es gibt nicht mehr Spielregel und überhaupt Regel.
Sergej Lawrow: Natürlich. Wenn sie sagen – „auf Regeln beruhende Weltordnung“, das ist der Austausch aller Begriffe. Privateigentum ist unantastbar. Unabhängig davon, was sie über unsere Oligarchen denken, doch wenn ohne jegliche Gerichtsbeschlüsse einfach auf Beschluss der Exekutive Villas, Jachten beschlagnahmt werden, in diese Villas Menschen eingreifen...
Frage: Enteignung, wie es nach der Oktoberrevolution war…
Sergej Lawrow: Genau so. Wo ist die Unschuldsvermutung? Noch ein grundlegender Basiswert der westlichen, darunter liberalen Demokratie. Das alles existiert nicht.
Frage: Ich möchte gerne zur Weltordnung fragen. Während der Sowjetunion gab es ein sozialistisches Lages, kapitalistisches Lager, Bewegung der Blockfreien Staaten. Soll jetzt, nach allen diesen Ereignissen die Entstehung irgendwelcher neuen Strukturen, wie nicht mit dem Westen verbunden sein werden, erwartet werden?
Sergej Lawrow: Was die Lager betrifft, wollen wir daran nicht vergessen, dass gerade der Westen historisch den Begriff „KZ-Lager“ ins Leben rief. Er zeigte, was Genozid, Rassismus und vieles andere ist. Eigentlich setzen die Amerikaner mit ihrer Politik (ihr Ziel wurde erklärt) diese „auf Regeln beruhende Ordnung“, die auch sie „schreiben“ und die Europa in jeder Form bereit ist, anzunehmen. Nur Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht weiter von der Notwendigkeit einer strategischen Autonomie der EU. Niemand wird zulassen, das zu machen. Alle anderen Mitglieder der EU unterordneten sich schon den Amerikanern.
Die Amerikaner bauen solche unipolare Welt auf. Wenn sie das nicht verstehen, dann sind diese Planer zu bedauern. Zumindest China und Russland, große Zivilisationen, können die unipolare Welt als Fakt nicht akzeptieren. Jedenfalls wird irgendwelches Gegengewicht aufgebaut. Einige werden das milder, andere härter machen. Jedenfalls wird die bipolare Welt aufgebaut. Sie wird nur ein Vorbote der multipolaren Welt sein. Doch für viele Jahre werden wir wieder zwei Lager bilden. So ein Land wie Indien wird nicht gehorsam US-Spiele spielen. Es wird jetzt versucht, es in diese „Blöcke“ hineinzuziehen, die in der Asien-Pazifik-Region ausschließlich zur Abschreckung Chinas und Isolierung Russlands gebildet werden. Die Asien-Pazifik-Region selbst wurde im Sinne des Kokettierens mit Indien in Indo-Pazifik-Region umbenannt. Wir fragten, worin er sich von der Asien-Pazifik-Region unterscheidet? Uns wurde gesagt, dass eine präzisere, verständlichere geopolitische Bildung ist. Wir fragten – wenn es „Indo“ ist, also zwei Ozeane – Indischer und Pazifischer – bedeutet es, dass ganz Ostafrika dieser Bildung zugehören soll? Es wurde gesagt, nein. Wenn es „Indo“ ist, gehört auch der Persische Golf dazu, der ein Teil des Indischen Ozeans ist? Es wurde auch verneint. Das ist rein geopolitisches Kokettieren mit Indien. Die indischen Freunde verstehen das alles. Wir besprechen das mit ihnen offen. Sie weigern sich kategorisch, sich in irgendwelche militärische Blöcke einbeziehen zu lassen.
QUAD, das sie in einen Sicherheitsblock verwandeln sollten, wurde bislang vor allem als Wirtschaftsgremium geschützt. Die Wirtschaftskooperation entwickelte sich bislang auf Grundlage der Strukturen, die um ASEAN und APEC gebildet wurden, wo die Tür für alle offen war. Jetzt wird dieser Wirtschaftsraum durch konfrontative Schemas geteilt.
AUKUS ist ein militärpolitischer Block. Jetzt wird versucht, da auch andere Länder, darunter Japan, Südkorea einzubeziehen. Es wird daran aktiv gearbeitet. Es wird ein direktes Ziel gestellt, ASEAN zu spalten. Aus der Zehn zwei Fünf zu machen.
Frage: Der Außenminister der Türkei weilt heute in Moskau, morgen wird er in Kiew sein. Was ist von diesem Besuch zu erwarten?
Sergej Lawrow: Wir sprachen mit Mevlüt Cavusoglu in der vergangenen Woche in Antalya. Wir hatten ausführliche bilaterale Verhandlungen, substantielle Tagesordnung. Die Präsidenten sprechen regelmäßig und erörtern prinzipielle Fragen auf ihrem Niveau. Danach erfüllen wir diese Vereinbarungen in unseren praktischen Angelegenheiten. Das ist die Arbeit zu Syrien, Astana-Troika. Gestern weilte der Außenminister Irans bei uns.
Russland, Türkei, Iran – hier gibt es was zu besprechen, darunter aus der Sicht der Erfüllung der früheren unseren Beschlüsse. Ich würde eine akute Notwendigkeit der Ausrottung der Terrorgruppierungen aus der Deeskalationszone Idlib, die Notwendigkeit der Aufnahme eines ständigen Mechanismus des Verfassungsausschusses besonders hervorheben. Ende Monat wird er seine Arbeit wiederaufnehmen. Ich hoffe, dass die Redaktionelle Kommission, die sich mit der neuen Verfassung, Verfassungsreform befasst, ihre Arbeit auf einer ständigen, ununterbrochenen Grundlage beginnen wird.
Wir haben auch das Thema Libyen, wo Russland und die Türkei an der Suche nach den Wegen zur Unterstützung der politischen Regelung aktiv teilnehmen.
Frage: Wird das Ukraine-Thema heute besprochen?
Sergej Lawrow: Wir besprechen regelmäßig das Ukraine-Thema im angewandten Sinne. Es gab Probleme mit türkischen Staatsbürgern, die unter anderem in mehreren Städten als Geisel festgehalten wurden. Jetzt bleiben rund 116 Staatsbürger in Mariupol. Sie sollten gestern abziehen. Wir öffneten jeden Tag Korridore. Sie wurden einfach nicht rausgelassen. Wir wussten, wo sie sich befanden – in der Moschee in Mariupol, im Kellerraum.
Frage: Wie reagiert Ankara darauf, dass türkische Staatsbürger nicht rausgelassen werden?
Sergej Lawrow: Die Türkei versteht, dass die Frage nicht von uns abhängt. Sie weiß, dass die Korridore geöffnet werden, aber es wird wegen der Menschen gestört, die entsprechende Gebiete kontrollieren. Sie arbeiteten mit Kiew, beharrten darauf, dass die Möglichkeiten, die von Russland bereitgestellt werden, nicht gesperrt und genutzt werden. Und eine ganze Reihe anderer Richtungen.
Wir haben das Thema Schwarzmeer, Zusammenarbeit in Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation.
Frage: Gibt es jetzt Voraussetzungen für Ihr neues Treffen mit dem Außenminister der Ukraine oder es gibt noch nichts zu besprechen?
Sergej Lawrow: Wenn es von ihrer Seite Interesse gibt, wollen wir verstehen, was sie konkret neues mitteilen wollen und ob es nicht ein weiterer Versuch ist, eine parallele Bahn zu schaffen, das zu verwischen, was im belarussischen Kanal gemacht wird, den Schein der Aktivität via Außeneffekte zu machen, wie die Ukrainer das im Laufe von allen sieben Jahren machten, als sie die Minsker Abkommen sabotierten.
Präsident Wladimir Selenski und der Außenminister Dmitri Kuleba sagten regelmäßig: wollen wir schneller den Gipfel des Normandie-Formats durchführen. Auf unsere Frage, warum der Beschluss des vorherigen Gipfels nicht erfüllt wurde, den die ukrainische Seite gänzlich erfüllen sollte, sagen sie – nein, wollen wir uns versammeln und das alles besprechen. Das ist Nachahmung der Aktivität via solche „Ausbrüche“. TV-Kameras, alle sitzen am Tisch, besprechen etwas, und niemand macht etwas.
Deutschland und Frankreich nahmen eindeutig die Seite Kiews bei seinem Verzicht, die Minsker Abkommen zu erfüllen, ein. Sie sagten, dass es keinen direkten Dialog mit Donezk und Lugansk geben soll. Dass Kiew alles mit Moskau beschließen soll, weil Moskau „hier alles kontrolliert“. In allen diesen Jahren, als uns solche Leviten gelesen wurden, schwiegen sie über Bombenangriffen gegen friedliche Einwohner, zivile Infrastruktur im Donezbecken und schweigen jetzt weiter.
Einer der führenden Vertreter der EU kontaktierte uns. Wir fragten, warum sie solche Hysterie entfachen in Bezug auf das, was unsere Militärs im Rahmen einer vorsichtigen militärischen Sonderoperation machen (wir zielen punktuell auf die Militärinfrastruktur) und warum sie schwiegen, als gegen Zentrum von Donezk am 14. März aus Totschka-U-Kassetenbomben abgefeuert wurde. Er sagte: „Wir haben Ihre Version dieses Ereignisses zur Kenntnis genommen“. Das ist kein Scherz.
Frage: Was ist jetzt am schwierigsten im Verhandlungsprozess? Welche Chancen auf den Frieden haben wir?
Sergej Lawrow: Es gibt immer Chancen. Als Diplomat hat man kein Recht auf eine andere Antwort und andere Handlungen. Chancen sollen immer gesucht und genutzt werden.
Ich bekam Hoffnungen wegen einige Änderungen in der Rhetorik in Bezug darauf, dass es realere Wahrnehmung der Entwicklung gibt. Obwohl diese konstruktive Aussagen blitzschnell mit Verabschiedung des Gesetzes begleitet werden, dass jeder, der mit Russen im Kontakt steht, zu 15 Jahren Haft verurteilt wird. Das ist ein Spiel. Ich kann nicht ausschließen, dass solche konfrontative Initiativen aus dem Ausland gesagt werden, um ums möglichst stark aus dem Gleichgewicht zu bringen. Damit wird gerechnet. Das wird von Menschen gemacht, die die Verbindung mit der wahren politologischen Kunst verloren haben.
Als die Sowjetunion zerfiel, verloren Politologen an Wert, niemand lud sie ein, sie wurden nicht gefragt. Dort wurde einfach damit aufgehört, Experten für Sowjetunion und Russland auszubilden. Jetzt zeigt sich das in vielen Situationen, darunter bei der wichtigsten Frage der kolossalen Unterschätzung der Entwicklung in der Weltarena, wo sich objektiv reale Multipolarität bildet, und in kolossaler Überschätzung eigener Möglichkeiten und Ansehens vieler Länder.